100 – Warum die Welt nicht untergeht

Einmal Doomsday und zurück:
Wie der Weltuntergang unseren FUTURE MIND beeinflusst.

Aus der Untergangs-Serie DARK

Zum Anfang möchte ich die Gretchen-Frage unserer Zeit stellen: Hat die Menschheit eine Zukunft?
Glauben Sie, dass Homo sapiens bald aussterben wird?
Die Frage ist kurz, hart und brutal. Die Antwort verrät alles über unseren Future Mind, unsere innere Einstellung zur Zukunft.
Werden „wir“, die menschliche Spezies, auf dem Planeten Erde in 100, 500, 10.000 Jahren noch existieren?
Geht die Welt „den Bach hinunter“?
Ja oder nein?

Während Sie sich entscheiden – lassen Sie sich Zeit –, möchte ich Sie an einen besonderen Ort auf der Erde entführen. In eine blühende Unterwasserwelt, in der die Vielfalt der Natur, die Schönheit der Schöpfung, in ihrer ganzen Pracht sichtbar wird.

Folgen Sie mir in üppige Korallenriffe in allen Farben und Formen. Wir sehen dicke Barsche, die durch ihr Revier gründeln. Bunte Fischschwärme glitzern im Sonnenlicht. Snapper, Krabben, Meeresspinnen – alles kreucht und fleucht im kristallklaren Wasser.

Wir befinden uns auf den Marshall-Inseln, einem Teil des Bikini-Atolls. Jener Inselgruppe, auf der die Amerikaner ihre Atombomben testeten. Diese 23 Inseln waren von 1946 bis 1954 Schauplatz zahlreicher Nuklearwaffentests, 41 überirdischen und 147 unterirdischen. Die Wasserstoffbombe Castle Bravo war die stärkste, die je von den USA gezündet wurde. Sie hatte die Sprengkraft von rund 1000 Hiroshima-Bomben und pulverisierte drei Inseln des Atolls.

Lange Zeit war man der Meinung, dass Atomexplosionen nichts als radioaktive Wüsten hinterlassen. Verbrannte Erde, lebloses Wasser. Doch Meeresforscher Steve Palumbi und Biologin Elora López erforschten 2017 die Flora und Fauna der verseuchten Atolle. Und stießen auf eine erstaunlich intakte, ja blühende Unterwasserwelt. Bei den Meerestieren konnten fast keine Mutationen festgestellt werden.

www.aau.edu/research-scholarship

stanfordmag.org

„Wenn wir verstehen, wie die Korallen die strahlungsverseuchten Bombenkrater wiederbesiedeln konnten, können wir vielleicht etwas Neues dazu lernen, wie die Natur DNA intakt halten kann“, formulierte Palumbi, der Leiter des Marine-Institus an der Stanford Universität in einer Pressemitteilung.

Ähnliche Phänomene fanden Forscher in den Wäldern von Tschernobyl. In der Chernobyl Exclusion Zone (CEZ), wo seit dem Atomunfall 1986 keine Menschen mehr leben dürfen (einige wenige tun es trotzdem), hat sich eine große Artenvielfalt entwickelt: Luchse, Bären, Elche, Bisons, Wildschweine, Schwarze Störche, Wildpferde, viele Nager-Arten haben sich üppig vermehrt. Auch hier findet man wenige Anzeichen von Abnormitäten. Im Gegenteil: Viele Arten zeigen einen sehr robusten Fitness-Status. Schon allein die Abwesenheit des Menschen scheint die Artendichte und die Vitalität zu steigern.

www.welt.de/wissenschaft

Ein Grund könnte sein, dass Radioaktivität als evolutionärer Selektor funktioniert. Verkrüppelnde Mutationen werden von der Natur sofort „aussortiert“, die überlebenden Tiere sind umso resilienter.

So geht Natur.
Sie fängt sofort wieder an.
Und macht immerzu weiter.
Sie nutzt das vorhandene Material.

Ein seltsames Paradoxon. Stellen wir uns die Natur nicht immer als ungeheuer verletzlich vor? Das, was so schrecklich empfindsam und bedroht erscheint, „kaum noch zu retten“, ist in Wirklichkeit zäh, robust, ja geradezu unausrottbar?

„Die Resilienz der Natur kann die menschliche Gesellschaft vor Naturkatastrophen schützen“, sagt Tim Christophersen, der Leiter von UNEP, des United Nations Environment Programms.

www.unep.org/news-and-stories

„Wenn man vom Ende der Welt spricht, ist zu überlegen: Was ist denn „die Welt“? Eine schwierige Frage. Das Ende der Welt bedeutet jedenfalls nicht das Ende aller Welten. Die Krux an der ganzen Geschichte ist: Es endet eine Welt, aber es beginnt auch eine neue.“
Der Apokalypseforscher Robert Folger
Zitiert nach Maya Göpel, „Wir können auch anders“. S. 56

Kehren wir zurück zur Weltuntergangsfrage. Laut einer internationalen Umfrage unter 16- bis 25-Jährigen glauben 56 Prozent der Befragten, die Menschheit sei „dem Untergang geweiht“. 40 bis 70 Prozent aller Deutschen, je nach Umfragestellung, halten ein ENDE der Menschheit für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich. In unserem Kulturkreis sind die Begründungen meistens naturromantisch. Den Satz „Die Natur braucht uns nicht, die kommt auch sehr gut ohne uns aus“, hört man nicht nur in hochmoralisierenden Öko-Aktivistinnen-Zirkeln. Sondern auch am Bierstammtisch in, sagen wir, Oberbayern.

Menschen sind Deppen.
Wie also wird die Welt untergehen?
Ich wette, Sie haben bereits eine Menge Bildmaterial im Kopf.

Allein auf meinen Streaming-Accounts befinden sich über 50 Endzeit-Epen mit insgesamt 2.000 Stunden Totalfiasko. Aliens überfallen und zerstören die Welt (6-mal). Unterirdische Super-Vulkane brechen aus. Meteoriten zerstören die Erde. Die Rotation der Erde hört einfach auf. Der Mond fällt auf die Erde. Alle Pflanzen verderben aufgrund eines unbekannten Virus, die Reichen siedeln auf einem Jupitermond, während in den Ruinen die wenigen Überlebenden dahinvegetieren. Tödlicher Regen fällt. Bürgerkriege verwüsten alle Städte. In den australischen Wüsten kämpfen zerlumpte Kämpfer um die letzten Benzin-Reste (während die Sonne unentwegt vom Himmel brennt – hat noch nie jemand etwas von Sonnenenergie gehört?). Zombies fressen alle Menschen und sind wir nicht alle irgendwie Untote? Fiese Maschinen übernehmen die Macht und versklaven uns. Noch gar nicht dazugerechnet sind grandiose Videospiele mit zigmillionen Etat, die zwischen Hochhausruinen spielen, in liebevoll gestalteten verlassenen Tankstellen und zertrümmerten Einkaufszentren und verstrahlen U-Bahn-Stationen, in denen der Schimmel wächst und Monster lauer.
Bilderbücher, die eine von Menschen verlassene Erde zeigen, auf der „gnädig“ die Reste der Zivilisation von Natur überwuchert werden, haben eine eigenartige Faszination.

Es ist kein Zufall, dass die neuen KI-Bildgeneratoren wie DALL-E besonders gut darin sind, Apokalypsen herzustellen. Sie haben einfach unendlich viel Material in ihren Speichern.

Etwas Lustvolles geht von diesen Zerstörungs-Orgien aus, bei denen kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Der Regisseur Roland Emmerich, der in einem seiner Apokalypse-Kracher sogar den Mount Everest überfluten ließ, sagte in einem Interview: „Es ist die Mutter aller Zerstörungsfilme, mit Effekten, wie man sie noch nie gesehen hat. Ich wüsste wirklich nicht, was ich danach noch zerstören sollte.“ (wiki) Jetzt will Emmerich allerdings doch noch einen allerletzten Katastrophenfilm drehen. „Der einzige Weg, die Menschen wachzurütteln, ist in meinen Augen, wenn sie sich vor etwas ganz schrecklich fürchten.“
Ist das wirklich so?

Einer der Gründe für den Boom des filmischen Weltuntergangs ist offenbar die Grandiosität, die das Weltende zulässt. Endzeit ist intensiv, pathetisch, romantisch. Sie ruft nach Helden, Rettern, die übernatürliche Kräfte haben. Wenn alle Himmel sich verfinstern – Pauken, Trompeten, Orgel supersatt –, dann sind die Dinge plötzlich eindeutig, großartig und „final“.

Also gut. Versuchen wir es die Menschheit einmal richtig auszurotten.
Es hat ja sowieso keinen Zweck mehr „mit uns“.
Machen wir Platz für intelligente Tintenfische.
Und diese verdammten dummen Kriege wäre auch vorbei.
Wie kann man also „die Welt“ beenden?

1. Atomkrieg

Die Atombombe, die die USA im Jahr 1945 über der Großstadt Hiroshima zur Explosion brachte – drei Tage später fiel eine ähnliche auf Nagasaki –, hatte eine Sprengkraft von 12.500 Tonnen TNT. Ungefähr 80.000 Menschen starben sofort. Der Stadtkern von Hiroshima in einem Umkreis von rund 2 Kilometern wurde zu 80 Prozent zerstört. Die meisten Häuser waren Holzhäuser, die lichterloh brannten.
Zwei Tage später eröffnete die Hauptfiliale der Bank of Japan wieder.
Die Stromversorgung war in einer Woche in den meisten Stadtteilen wieder hergestellt.
Drei Tag nach der Bombe fuhr eine erste Straßenbahn regelmäßig durch die Stadt.

Innerhalb einer Dekade hatte die Stadt ihre ursprüngliche Einwohnerschaft von 300.000 wieder hergestellt. Heute ist sie eine blühende, moderne 1,2-Millionenstadt, mit wunderbaren Parks und einer ikonographischen Stahlbeton-Ruine in der Mitte, die nur 300 Meter vom Ground Zero entfernt lag.
Nicht nur die Natur, auch die menschliche Zivilisation ist offensichtlich beides zugleich: Ungeheuer zerbrechlich. Und unfassbar resilient.
Im Vietnamkrieg, bei dem die Amerikaner dreimal so viele Bomben auf das Land warfen wie im gesamten Zweiten Weltkrieg auf Europa, wollte man die Vietnamesen „in die Steinzeit zurückbomben“. Eine Studie analysierte die Folgen dieser Zerstörung auf die Entwicklung des Landes. 25 Jahre nach dem Krieg gab es keine Unterschiede mehr zu anderen Nationen.

Die urbane menschliche Zivilisation ruht auf tiefreichenden Trümmer-Sedimenten. Dem Erdboden gleichgemachte Städte wurden im Laufe der Geschichte meist schnell wieder aufgebaut – Troja sogar achtmal. In den meisten älteren Städten muss man nicht weit graben, um auf die Ruinen vorheriger Epochen zu stoßen. In den allermeisten Fällen erholten sich Sozialsysteme und Kulturformen schnell, blühende, dynamische, vitale Ökonomien, Fortschritt im weitesten Sinn, entstand oft gerade NACH tiefgreifenden Zerstörungen.

William McAskill, ein Zukunfts-Aktivist und Begründer des Effektiven Altruismus, stellt in seinem Buch „What we owe the future“ (Was wir der Zukunft schulden) eine brutale Rechnung an. Was würde passieren, wenn in einem Nuklearkrieg – oder einer anderen Superkatastrophe – 99 Prozent aller Menschen umkämen? „Unter den 80 Millionen Überlebenden würden sicher nicht weniger als 100 Flugzeugingenieure, Atomphysiker, Chemiker und Telekommunikations-Spezialisten sein. Und Menschen, die die Landwirtschaft beherrschten, in ihren traditionellen und ihren neuen Formen.“ (McAskill, S. 130).

Effektiver Altruismus: Eine Philosophie und soziale Bewegung, die darauf abzielt, die beschränkten Ressourcen Zeit und Geld optimal einzusetzen, um das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern.

Welches PRINZIP liegt der Wahrnehmung zugrunde, dass wir im Rückblick nur Fortschritt sehen und in der Zukunft nichts als Niedergang erwarten?
Thomas Babbington Macaulay

Wann wird das erste Handy wieder gebaut?
Wann entsteht der erste Traktor?
Der erste Toaster?

Es kann lange dauern. Aber vielleicht auch viel schneller als gedacht. Irgendwann klingelt der Postman wieder, wie im gleichnamigen Film mit Kevin Costner in der Hauptrolle, als ein von Bürgerkriegen zerstörtes Amerika wieder Kontakt zueinander aufnimmt. Selbst wenn die Computer nicht mehr funktionieren und alle Bibliotheken in Trümmern liegen, würden die Überlebenden nicht von vorne anfangen. Das Wissen über Techniken, Praktiken und Know-how ist tief im handelnden Gedächtnis des Menschen eingeprägt.

Superforecasting oder das Modell der Micromorts

Wie wahrscheinlich ist es, dass im Ukraine-Konflikt Atombomben eingesetzt werden?

Um sich einer Antwort zu nähern, kann man sich mit dem Konzept des Mikromorts beschäftigen. Erfunden wurde diese Maßeinheit vom Stanford-Professor Ronald Howard. Jeder „Mikrotod“ steht für die Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, bei einem bestimmten „Event“ zu sterben. Einmal Pressluftflaschentauchen hat 5 Mikromorts. Base jumping 430. Zehn Kilometer Motorradfahren erzeugt einen Mikromort von 1.

Screenshot: www.metaculus.com

Superforecasting ist eine Methode der „selbstverbessernden Prognostik“, die von Philip Tetlock, einem Wirtschaftstheoretiker, erfunden wurde. Es basiert auf einer Datenbank, in der tausende Prognostiker um die besten Vorhersagen konkurrieren. Das mit Abstand beste Prognose-Team ist derzeit die Gruppe Samotsvety. Anfang Februar ’22 wettete das Team 14.000 Dollar auf eine Invasion der Ukraine – und verdreifachte ihren Einsatz.

Samotsvety errechnete die Wahrscheinlichkeit, dass London demnächst von einer Nuklear­bombe getroffen wird, auf 0,01 Prozent und erhöhte diese Zahl im Oktober auf 0,02 Prozent, also 24 Mikromorts. Eine weitere Prognoseplattform, Metaculus, misst die derzeitige Wahrscheinlichkeit einer taktischen Atombombe in der Ukraine mit 4 Prozent.

Das menschliche Hirn ist nicht besonders gut, darin, Wahrscheinlichkeiten mit Realitäts­bildern in Einklang zu bringen. Es vergrößert die Angst, um seine Überlebens­chancen zu erhöhen. Allein die Vorstellung einer Nuklearbombenexplosion überwältigt uns mental, und deshalb nutzen Prozentzahlen wenig für die Risiko­einschätzung. Die Wahrscheinlichkeit im zarten Alter von 30 Jahre durch Absturz im Gebirge, Infektionen, Lebensmittelvergiftung, Panik bei einer Massenparty (und noch 100 andere Möglichkeiten) ums Leben zu kommen, liegt um ein x-faches höher als ein Atombombeneinsatz.

Die Wahrscheinlichkeit des persönlichen Todes ist 100 Prozent. 1 Million Mikromorts. Wie gehen wir damit um? Vielleicht auch, indem wir uns mit möglichst lauten, drastischen Untergängen ablenken.
(Matt Reynolds, „Worried about Nuclear War? Consider the Micromorts“, WIRED Okt. 22)

Um 10.02 Uhr des 27. August 1883 flog die Insel des indonesischen Vulkans Krakatau in die Luft. 36.000 Menschen fielen der nachfolgenden Tsunami-Welle zum Opfer. 18 Kubikkilometer Asche und glühendes Gestein schossen bis in die Stratosphäre. Die Druckwelle der Explosion lief sieben Mal um die Erde, ihr Echo hielt 15 Tage an. Wie in der biblischen Prophezeiung fielen Ernten bis ins ferne Europa aus oder reduzierten sich; die Erdtemperatur verminderte sich um mindestens ein Grad.

Die Explosion des Krakatau entsprach etwa der Explosion von 15.000 Hiroshimabomben (allerdings ohne radioaktiven Fallout).
Edvard Munchs berühmtes Bild „Der Schrei“ soll sich mit seinem blutroten Horizont auf diese Katastrophe beziehen, die weltweit gespürt und debattiert wurde.

Siehe auch: www.spektrum.de

2. Globale Super-Erhitzung

Nehmen wir an, wir bleiben tatsächlich die dummen, unfähigen Blöd-Fossilisten. Wir sind ja, so kann man es in allen Medien lesen, unfähig, unser Verhalten, unsere Systeme im Sinne der notwendigen De-Karbonisierung zu ändern. Wenn wir alle Öl-, Kohle- und Gas-Brennstoffe fröhlich weiter verbrennen, erhöht sich die Erdtemperatur um etwa 6 Grad über den Zeitraum von 200 Jahren. Der Meeresspiegel wird um mehr als fünf Meter steigen, und Donald Trump (dann von einer Elon-Musk-BioNTech-Firma geklont) könnte in seinem Palast in Florida U-Boot-fahren (er würde wahrscheinlich mit kostenlosen U-Boot-Fahrten noch Wahlkampf machen).

Allerdings zeigen uns die langfristigen Klima-Daten, dass es auch in der Vergangenheit schon sehr heiß auf unserem Planeten war. In der Kreidezeit vor 100 Millionen Jahren herrschte fast auf dem ganzen Planeten warmfeuchtes Tropenklima, es war 10 Grad heißer als heute. Im PETM (Paläozen/Eozän-Temperaturmaximum vor 56 Millionen Jahren) lag die atmosphärische Temperatur um 6 Grad höher, und der CO2-Gehalt stieg von 800 auf 2000 ppm (heute: 420 ppm). Die subtropischen Urwälder dehnten sich bis an die Arktis aus, und in Europa gab es tropische Dschungel. Der Wasserspiegel lag rund 8 Meter höher als heute.

Nach den neuesten Daten des IPCC wird sich die Welt, wenn alles so weiterläuft, in Richtung auf 2,5 Grad Erwärmung bewegen. Aber hier ist noch Spielraum. Wenn die neueren Klima-Commitments zahlreicher Städte, Organisationen, Institutionen, Unternehmen realisiert werden, kämen wir auf rund 2 Grad Erderwärmung. Wenn uns noch einige kräftige technische Fortschritte und eine entschlossenere Klima-Politik gelingen würde, sind auch 1,7 Grad noch drin.

Eine Apokalypse-Vision von Albrecht Dürer

Gewiss, auch ein solcher Temperaturanstieg wird riesige Probleme schaffen. Aber ist er ein „Weltuntergang“?
Unsere Vorfahren starben zu Millionen an Seuchen, Stürmen, Überschwemmungen, Dürren, Hungersnöten, also an Naturphänomenen. Und dennoch haben sie im Verlauf der letzten 300.000 Jahre auch die unwirtlichsten Regionen der Erde besiedelt. Und sich dort größtenteils erfolgreich behaupten können.

Der bekannte US-Klimajournalist David Wallace-Wells veröffentlichte im Jahr 2017 einen Essay mit dem Titel „Die unbewohnbare Erde“ – einer der meistgelesenen Texte zur Klimaproblematik. Irgendwann realisierte er jedoch, dass das ständige Ausmalen des Weltuntergangs einen paradoxen Nebeneffekt hat. Im Oktober 2022 erschien ein neuer Text mit dem Titel „Jenseits der Katastrophe: Eine neue Klimawirklichkeit kommt in den Blick“.

„Die unbewohnbare Erde“, New York Magazine, 2017

Es stimmt schon: Der menschengemachte Klimawandel verläuft schneller als die Erwärmungsphasen vergangener Äonen. Aber heute haben wir auch ungleich bessere Mittel, mit veränderten Umweltfaktoren umzugehen. Obwohl die Zahl der Naturkatastrophen ansteigt, sinkt die Zahl der Menschen, die durch Naturkatastrophen umkommen, stetig. Ein weiteres Paradoxon. Aber vielleicht sind es gerade solche Paradoxien, die uns aus dem Untergangsgeschwurbel – dem inneren Paradoxon zwischen Hysterie und Hoffnung -, herausführen können.

3. Die Sterilisierung der Erde

Versuchen wir es noch eine Nummer härter. Können wir nicht gleich die ganze Natur zum Kippen bringen?
Erle C. Ellis, ein Ökologieprofessor der Universität Maryland, hat in einem Simulations-Modell versucht, Meere, Wälder, die ganze Biosphäre, zu einem Tipping Point zu treiben. Also sozusagen die ganze Natur zu „ermorden“.

Ellis schreibt: „Tipping Points geschehen, wenn die Komponenten eines Systems so lange graduell auf eine externe Kraft reagieren, bis die dadurch entstehende Reaktion nichtlinear und synergistisch wird … Für planetare Tipping Points müssten die Kräfte der Menschenwirkung überall auf dem Planeten einheitlich und linear agieren, und alle Ökosysteme in derselben Weise reagieren. Aber selbst die Klima-Erwärmung erfüllt die Bedingung nicht. Sie kühlt einige Regionen, andere macht sie heißer, trockener oder feuchter. Ökosysteme reagieren höchst unterschiedlich auf unterschiedliche Weisen menschlichen Eingriffs, und der menschliche Eingriff selbst ändert sich im Zuge von Zeit und Technologie.“ (siehe auch Artikel am Ende des Textes)

Barry W. Brook, Erle C. Ellis, Michael P. Perring, Anson W. Mackay and Linus Blomqvist, „Does the terrestrial biosphere have planetary tipping points?“, http://ecotope.org/people/ellis/papers/brook_2013.pdf, (siehe auch New Scientist, 9. März 2013, Erle C. Ellis, „From The Brink, S. 30)

Ellis’ Modell zeigt, dass man für einen nachhaltigen Schaden an der Biosphäre im Abstand von etwa 50 Kilometern gigantische Mengen von Hitze, Strahlung, supertoxischen Subtanzen einbringen müsste – und das über längere Zeiträume hinweg. Lokale Schäden, selbst wenn sie drastisch sind, werden durch globale Wirkungen schnell wieder repariert. Das Netzwerk des Lebens zerstören, kann man nur, wenn man gleichzeitig ALLE Verbindungen zerstört, die in der Biosphäre bestehen.
Die Sterilisierung der Erde könnte nur von einer gigantischen Flotte extraterrestischer Raumschiffe erzielt werden, die die Quantenenergie des Universums anzapfen, um die Erde zu vernichten. Womit wir wieder im Reich der Science-Fiction und des Super-Bösen angelangt sind. Wo es so richtig kracht und scheppert, und endlich, endlich, alles zu Ende ist.

Apokalypse als Leugnung des Wandels

Warum aber geben so viele Menschen die ganze Zukunft verloren? Warum gibt es so unfassbar viele Narrative des Apokalyptischen?

Erstens: Weltuntergang trägt immer noch das Narrativ der religiösen Strafgerichte. Gleichzeitig liegt im Endzeitlichen etwas ganz Zartes. Wenn alle Zivilisation, alles „Normal“ zerstört ist, werden endlich die echten Gefühle, die wahren Zusammenhänge freigelegt. Familien, die sich entfremdet hatten, finden in den letzten Stunden zusammen. Verdrängte Sinnfragen werden gestellt: Wer bin ich, wer hätte ich sein können? Ängstliche wachsen in der letzten Stunde ins Heldentum. Apokalypse ist eine Art existentielle Leinwand, auf der das Existentielle aufscheint; sie führt uns zurück zu unserem wahren Selbst.

Zweitens: Weltuntergang ist eine Rumpelstilzchen-Fantasie, mit der wir uns an unseren Enttäuschungen rächen. Die Zukunft soll glorios, harmonisch und komfortabel sein! Das ist unsere Anmaßung. „Wenn ich nicht kriege, was ich will, wenn die Welt nicht so ist, wie ich es verlange, dann soll gleich die ganze Welt zum Teufel gehen!“

Drittens: Weltuntergang ist die neue Leugnung des Wandels.
Ich kenne Menschen, die mit dem Hinweis „Es ist ja eh alles zu spät!“ jede Selbstbetrachtung verweigern. Apokalypse ist ein komfortables Kleid für den inneren Reaktionär, der mit Wutanfällen und Hasstiraden darauf reagiert, dass sich etwas ändern muss.
Es ist kein Zufall, dass reaktionäre Religionen und Ideologien immer gerne apokalyptische Konstruktionen nutzen. Vom „Untergang des deutschen Vaterlandes“ halluzinierte nicht nur Hitler.
In der manischen Apokalypse-Phantasie steckt eine Menschen- und Lebensfeindlichkeit, die sich dem grundlegenden Paradoxon des Lebens verweigern will.

Der fernöstlich inspirierte britische Philosoph Alan Watts drückte es so aus:
„Wenn wir ohne eine garantierte Zukunft nicht glücklich leben können, sind wir nicht an ein Leben in einer endlichen Welt angepasst, in der ungeachtet der besten Pläne Unfälle passieren werden und am Ende der Tod kommt. Wenn wir, um glücklich sein zu können, von der Zukunft erwarten, dass sie frei von Leiden ist, dann können wir nicht glücklich sein. Das ist, als wenn wir vom Meer verlangen würden, dass es vollkommen still ist, bevor wir darauf segeln.“

If we cannot live happily without an assured future, we are certainly not adapted to living in a finite world where, despite the best plans, accidents will happen, and where death comes at the end… If we demand the future be free from suffering in order to be happy, we can´t be happy. It is like demanding the sea be entirely still before we sail on it.“

„Es gibt Best-Case-Szenarien und Worst-Case-Szenarien. Aber nichts davon geschieht jemals in der wirklichen Welt. Was in der wirklichen Welt passiert, ist immer ein Seitwärts-Szenario.”
Bruce Sterling, Science-Fiction-Autor

Die Kognitive Apokalypse

Aber vielleicht starren wir auch die ganze Zeit in die falsche Richtung. Vielleicht kommt der „Untergang“ aus einer ganz anderen Richtung. Aus unserem menschlichen MIND.

Der französische Soziologe Gérald Bronner hat einen schlagenden Begriff geprägt: Die KOGNITIVE APOKALYPSE. Damit benennt er den rasenden Zerfall unserer Wahrnehmungs- und Interpretations-Systeme im Zeitalter der Hyper-Medialität.

Kognitive Apokalypse: Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft, C.H.Beck, 2022

„Die beispiellose Lage, die wir heute beobachten, ist geprägt vom Zusammentreffen unseres uralten Gehirns mit dem allgegenwärtigen Wettbewerb der Objekte geistiger Betrachtung, verbunden mit einer bislang noch nie dagewesenen Freisetzung verfügbarer Gehirnzeit.“ (S. 16)

Mit „Gehirnzeit“ meint Bronner die Aufmerksamkeits-Ressourcen, die in der menschlichen Kultur seit der Industrialisierung freigesetzt worden sind. Und die nun in einem radikal deregulierten „Kognitiven Markt“ in einer Art und Weise angefeuert und ausgebeutet werden, dass unser fundamentales Erkenntnis-System aus den Fugen gerät.

Menschliche Kommunikations- und Sinn-Systeme sind evolutionär auf eine Gruppe von maximal 200 Menschen geeicht. Das besagt die so genannte Dunbar-Formel, nach dem Psychologen Robin Dunbar. Diese benennt die „kognitive Grenze“ der Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson in einem stabilen „Beziehungs- und Bedeutungsraum“ existieren kann.

Die menschliche Kultur hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder Vermittlungs-Institutionen geschaffen, die eine größere Anzahl von Menschen in einen kognitiven Zusammenhang bringen konnte: Religionen, Institutionen, Sprachen, „redaktionierte“ mediale Systeme, die der Vermittlung dienten. Heute aber sind rund um die Uhr Milliarden von Menschen damit beschäftigt, sich gegenseitig unentwegt mit Informationen, Reizen, Deutungen, kurzfristigen Emotionen zu bombardieren.

Phänomene ersetzen Zusammenhänge.
Alle Extreme werden selektiert und verstärkt.
Alle Probleme, Abweichungen, Unterschiede werden ins Unendliche skandalisiert.
Meinungen werden zu Wahrheiten – aber es gibt keine Wahrheit mehr.
Moral wird hysterisiert.
Es entsteht eine Pandemie der Empfindlichkeit.
Eine chronische Hysterie der Über-Erregung.
Eine Dekonstruktion aller Bedeutungen.

Bronner schreibt:
„Die Angst hat sich offenbar eines Teiles des kostbaren Schatzes bemächtigt, den unsere mentale Verfügbarkeit darstellt. Sie erfasst unsere Gefühlswelt und taucht unseren Geist in ein Meer partieller und täuschender Daten, die uns zu ständigen Hypochondern machen und uns die Zukunft zuweilen als einzige Aussicht aus der Perspektive der Schrecken und Ängste eines drohenden Weltuntergangs sehen lassen.“ (Bronner, S. 89)

Für Bronner bietet die Kognitive Apokalypse gleichzeitig eine Chance. Sie hält uns als Spezies den anthropologischen Spiegel vor.

Worauf reagieren wir?
Was „reizt“ uns wirklich?
Wie „ticken“ wir?
Was sind unsere „Trigger“?
Wie konstruieren wir Wirklichkeit?
Warum lieben wir den Hass?

„Die entscheidende Frage,“ so Bronner, „lautet, ob wir uns diesem Spiegelbild stellen werden … Deshalb erscheint mir die kognitive Apokalypse als eine grundlegende Propädeutik (Vorbedingung) für jedes Projekt, das sich auf unsere Zukunft bezieht … Wer das Paradies sehen will, muss erst einmal durch die Hölle gehen.“

Nach der Kognitiven Apokalypse käme womöglich eine Kognitive Renaissance. Eine Ära, in der wir lernen, Geist und Wirklichkeit neu zu synchronisieren (siehe im neuen Zukunfts-Report 2023: „Gibt es einen Megatrend MINDSHIFT?“).
Womöglich sind Elon Musk und Mark Zuckerberg bereits damit beschäftigt, diesen Prozess in Gang zu setzen. Indem sie die monströsen hypermedialen Maschinen unserer Zeit wieder dekonstruieren.

Also: Geht die Welt „den Bach hinunter?“
Wenn etwas „den Bach hinuntergeht“, dann fließt es irgendwann in einen Fluss, in einen Strom, dann ins weite Meer – von wo es mit Wind und Regen zu uns zurückkehrt.
Manchmal auch, wie jetzt, mit Sturm.

Apokalypse heißt vom Wortstamm her übrigens nicht „Untergang“.
Sondern Offenbarung.
Enthüllung.
Erkenntnis.

Erle C. Ellis: Back from the brink

Literatur