101 – Mindchange

Gibt es einen MEGATREND „Neo-Spiritualität“
oder
MINDCHANGE?

Als Trend- und Zukunftsforscher werde ich oft gefragt: Wie „findet“ man eigentlich Trends? Wann ist ein Trend ein Me-gatrend, wie definiert man das – mit welchen Kriterien?
Komplexe Trendforschung hat mit einer bestimmten Tech-nik der Weltbeobachtung zu tun. Man tritt einen Schritt zurück, um zahlreiche Phänomene in ihrem Zusammenhang zu sehen. Ein dynamisches Muster zu erkennen.

Trend-Definitionen entwickeln sich aus einem Anamnese-Prozess. Einer Befragung der Umwelt und ihrer Signale. Zu-nächst geht es um Zeichen, Symbole, Hinweise – „Clues“, die sich verdichten, die uns Fragen stellen: Wie kommt es zu diesem Phänomen? Ist das nur Zufall? Oder gibt es höhere Zusammenhänge?

Sind Ihnen schon einmal folgende Phänomene aufgefallen?

  • Die Regalmeter für Themen wie Selbsthilfe, Selbstveränderung und Bewusstseinsveränderung in den Buchhandlungen (analog und virtuell) verbreitern sich weiter und weiter.
  • Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit Meditation und Achtsamkeits-Haltungen. Fernöstliche Philosophien diffundieren in die Gesellschaft und ersetzten (oder ergänzen) alte christliche Muster.
  • Das Gefühl, in einer nur noch von rasenden medialen Phänomenen geprägten Welt zu leben, und dadurch einen regelrechten Realitätsverlust zu erleiden – den eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen zu können –, steigt.
  • Mentale Themen wie Neurowissenschaft, Kognitive Psychologie und Bewusstseinsveränderung erleben einen erstaunlichen Boom.
  • Die Arbeitswelt verändert sich in Richtung Sinn-Anspruch und Selbstbestimmung: Corona hat Phänomene mit sich gebracht wie „The Great Resignation“. Der große Ausstieg. So nennen die Amerikaner das Phänomen, dass Millionen US-Bürger nach Corona nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen zu-rückgekehrt sind. Das gibt es nicht nur in den USA, und nicht nur bei Billigjobs. Immer mehr Menschen kündigen im Sinne der Selbstfindung. Überprüfen ihre Lebens-Strukturen. Ihre existentiellen Entscheidungen.
  • Nach Corona nimmt das „Ich-bin-dann-mal-weg“-Syndrom deutlich zu. Immer mehr Zeit wird in Retreats, Kuren, Selbst-findungs-Workshops zugebracht. Viele üben „meditative“ Sportarten (Wandern, Pilgern, Surfen) aus, gehen auf lange Auszeiten und Reisen zur Selbstfindung.

Natürlich erscheint das alles erst einmal zusammenhanglos. Man kann es leicht als „elitär“ denunzieren. Die einzelnen Phänomene sind für sich genommen auch nichts Neues – immer schon hat es Aussteiger, Sinnsucher gegeben, die sich vom „Lärm der Welt“ absondern wollten. Und müsste man, wenn man von Megatrends spricht, nicht eher das Gegenteil behaupten? Leben wir nicht im TikTok-Zeitalter der immer kürzer getakteten Erregungen und Oberflächlichkeiten, der Profanitäten und unfassbaren Blödsinnigkeiten? Alles wird immer kurzfristiger, flacher, trivialer, unbewusster – ist DAS nicht der Haupt-Trend?
So scheint es.

Aber jeder Trend erzeugt irgendwann einen Gegentrend. Die Globalisierung, die seit dreißig Jahren einen wahren Turbo eingeschaltet hat, brachte den Gegentrend zum reaktionären Nationalismus (und zur Heimatsuche) hervor. Der Großtrend der Urbanisierung erzeugt die Sehnsucht nach dem Landleben. Die rasende Digitalisierung kippt irgendwann in das Bedürfnis nach dem Real-Analogen. Nach dem, was man anfassen und berühren kann.

MEGATRENDs verlaufen in Zyklen, in denen sie sich selbst verändern. Von Zeit zu Zeit bilden sie Kipppunkte, TIPPING POINTS. Das liegt auch daran, dass Megatrends zur Übertreibung neigen. Sie sind so mächtig, dass sie ins Gegenteil umkippen können.

Es ist wie bei Meereswellen: Manchmal sind die Unterströmungen, die in eine ganz andere Richtung führen, stärker als das Geschehen an der Oberfläche.
Nehmen wir zum Beispiel einen Schlüsseltrend unseres soziokulturellen Universums: Individualisierung.

Eine kleine Geschichte der Individualisierung

Individualisierung bedeutet, dass die Selbstdefinition von Menschen sich immer weniger an Klassen, Schichten, Normen und anderen Zugehörigkeiten ausformt. In Wohlstandsgesellschaften steigt der Selbstbezug ständig an, gerät die Selbst-Verwirklichung immer mehr ins Zentrum der Identität. Die „Gesellschaft der Singularitäten“ entsteht.

Allerdings ist dieser Prozess nie ganz vollständig. Schon deshalb, weil Menschen immer auch soziale Wesen sind. Und ANDERE brauchen, um sich selbst zu finden.
Radikale Individualisierung würde also ins Nichts führen. In eine Gesellschaft, die keine mehr wäre.

Individualisierung hat sich in drei Phasen entwickelt:

  1. Rebellion
    In der ersten Phase des Individualismus-Trends entwickeln Menschen ihre Identität in Abgrenzungen und Rebellionen. Die eigene Identität wird aus einer Verneinung heraus entwickelt: Ich will nicht so werden wie die Anderen. (Heute dient „Dagegensein“ nicht mehr der Befreiung, sondern kommt aus der rechten Ecke und spielt mit aggressiver Unterwerfung).
  2. Hedonismus
    In der zweiten Phase wird der Hedonismus zur zentralen Werteorientierung der Gesellschaft. Hedonismus ist die Ideologie des individualisierten Genusses als zentraler Lebenssinn. Konsumkultur und Individualismus verbinden sich zu einer Ideologie des maximalen Erlebens: Steigerung der Lebensintensität, Konsum-Maximierung, Feiern bis der Arzt kommt! Spätestens seit Corona steht der Arzt allerdings ständig mitten im Raum. Und im Angesicht des Krieges und einer Klima-Krise ist das Immer-mehr-Spaß-haben ziemlich unlustig geworden.
  3. © Zukunftsinstitut Horx GmbH
  4. (Re-)Kontextualität
    In der dritten Phase der Individualisierung, der Reifungsphase, kommt es zu einer Rekursion (Rückbeziehung) auf existentielle Lebensfragen. Man will sich wieder in Beziehung setzen: Was bin ich? Wer bin ich geworden? Wie stehe ich in der Welt? Man sucht nach neuen Kontexten und Sinnbezügen. In Bezug auf das Arbeits- und Beziehungsleben, aber auch auf die Frage, wo und wie Wandel, Selbst-Veränderung, noch möglich ist.

    Wer bin ich – und wenn ja, wie kann ich mich ändern?
    Eine Hinwendung zum Inneren, oder einer neuen Spiritualität, wäre nicht das Gegenteil des Individualisierungs-Trends, sondern seine Fortführung auf einer anderen Ebene. Im hedonistischen Individualismus ist jeder nur noch für sich allein. Das führt zu einer verstärkten Suche nach Bindungen, Verlässlichkeit, Bezügen, die auch vertikale Ebenen einschließen – jene Dimensionen, in denen wir über die Grenzen unserer eigenen Existenz hinausreichen.

  5. Schlüssel-Jahre oder „Kipppunkte des Zeitgeistes“

    Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin schildert in seinem Buch „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ die Ereignisse, die sich im Jahr 1977 vollzogen. Die linke Terrorgruppe RAF startete ihre Selbstmord-End-Offensive und beendete die rebellische Unschuld der Hippie-Ära. Etwas Tragisches kam plötzlich in die Welt, in dem sich die visionären Träume der Gesellschaftsveränderung ins Negative umformten. Gleichzeitig wurde der Personal-Computer präsentiert. Punk, Disco und Hip-Hop boomten. Viele junge Sinnsucher (ich selbst gehörte auch dazu) suchten das einfache Leben auf dem Land, gingen auf Weltreise und Selbstfindungs-Trips. Der Ashram des Gurus Bhagwan in Poona in Indien wurde von jungen Menschen aus Europa und Amerika überrannt.

    Befinden wir uns heute, anno 2022/23, in einer ähnlichen Schlüsselzeit? Wir erleben wieder Phänomene der unauflösbaren Tragik: Krieg, Seuchen, faschistoide Erregungswellen, unaufhaltsame globale Erhitzung. Phänomene, die uns hilflos und ohnmächtig machen.
    Das Außen überwältigt uns. Und im Inneren fühlt es sich leer an.

    Wenn die Zeiten von einem unübersichtlichen Wandel geprägt sind, verlagert sich der MINDSET von Außen nach Innen. Das prägte Epochen wie die deutsche Romantik, das Fin de Siècle oder die Rebellionszeiten der 60er/70er Jahre. Einer Ära der Außenorientierung folgt ei-ne Phase der Innerlichkeit. Und manchmal passiert beides zugleich. Dann werden aus Wendezeiten echte Wandelzeiten.

    Viele Menschen leiden hochgradig an Digitaler Erschöpfung. Digitalisierung war in den letzten Jahrzehnten so etwas wie ein Transzendenz-Ersatz. In der METAVERSE-Fiktion versucht der Digitalismus noch einmal ein letztes Utopieversprechen, das aber längst unglaubhaft geworden ist. Man spricht vom Digital Burnout oder der Outrage Fatigue, die Empörungs-Erschöpfung angesichts unendlicher Hass-, Wut- und Fake-News-Wellen. Der französische Soziologe Gérald Bronner hat das die „Kognitive Apokalypse“ genannt (siehe sein gleichnamiges Buch).

    Immer mehr Menschen suchen Wege aus der toxischen Medialität, die unsere Hirne vernebelt und unsere Wahrnehmungen der Welt verzerrt. Immer mehr Menschen versuchen, ihre Aufmerksamkeits-Ressourcen von den medialen Ausbeutungssystemen zurückzugewinnen, zu denen sich die Social-Media-Plattformen entwickelt haben.

    Das wäre der eigentliche Kern von MINDCHANGE: Bei den eigenen Empfindungen, den eigenen Gefühlen und Wahr-Nehmungen neu anzufangen. Aussteigen aus einem System, das auf ständige Angst- und Erregungs-Steigerung setzt. Sich selbst wieder wahrnehmen können. Vielleicht entwickelt sich hier eine Befreiungs-Bewegung, die nicht mehr auf gesellschaftliche Veränderung zielt, sondern – zunächst – auf die Befreiung des Geistes.

    (Siehe auch die Studie „Digitale Resilienz“)

    MINDCHANGE als innere Heimatsuche

    Vor einem guten Jahrzehnt definierte das Zukunftsinstitut den SELFNESS-Trend. Damit war – in Abgrenzung zur damaligen „Wellness“-Welle (die eher auf passive Verwöhnung zielte) – die Weiterentwicklung zu einem authentischen Selbst gemeint. MINDCHANGE geht noch ein Stück weiter. Es geht dabei um die Fähigkeit mentaler Souveränität.

    Fernöstliche Denkschulen lehren in unzähligen Varianten schon immer, wie man den MIND in eine andere Position zur Welt bringt. Viele Psychologie-Schulen haben die Ideen des mentalen Konstruktivismus aufgenommen und an die moderne Welt angepasst. Die Welt ist vor allem eine Vorstellung, die wir selbst produzieren. Es geht darum, die eigenen Gedanken, Ge-fühle, Wertungen, Konstrukte nicht mit der Wirklichkeit – und mit sich selbst – zu verwechseln.

    Das zentrale Stichwort lautet SELBSTWIRKSAMKEIT. Es geht um die Fähigkeit, die inneren FRAMES, die eigenen WahrnehmungsMuster, zu erkennen und zu erweitern.
    Nicht immer gleich jeder Angst verfallen.
    Die eigenen Schwächen umarmen.
    Erregungsgemeinschaften meiden.
    Die Welt mit neuen Augen sehen.
    Den inneren Nörgel-Troll verabschieden.

    Der Psychologe Daniel Siegel spricht in seinem gleichnamigen Buch „MINDSIGHT“ („Geistessicht“ funktioniert als Übersetzung nur halb gut):

    „Mindsight ist eine konzentrierte Aufmerksamkeit, die uns die internen Abläufe des eigenen Geistes offenbart. Sie macht uns die inneren Prozesse bewusst, ohne dass wir uns von ihnen mitreißen lassen, ermöglicht es uns, vom Autopiloten mit all seinen tief verwurzelten Verhaltensweisen und Reaktionen wegzukommen und löst uns aus den emotionalen Gefühls-Schlaufen, in denen wir alle gelegentlich fest-stecken … Damit erreichen wir, dass wir unsere Erfahrungen anders gestalten und umlenken können, erreichen mehr Entscheidungsfreiheit bei alltäglichen Betätigungen, haben mehr Kraft, die Zukunft zu planen und Autoren unserer eigenen Lebensgeschichte zu werden.“ (S. 14)

    MINDCHANGE hat, als kommerzieller Trend gesehen, auch eine dunkle Seite. Eine Selbstoptimierungs-Industrie ist inzwischen entstanden, mit knallhart ausbeuterischen und manipulativen Geschäftsmethoden. Dort „designe“ ich mich als willensstarkes Ich, das ständig Verbesserungen der „Performance“ durchführt. Selbstoptimierung ersetzt Bewusstheit durch EGO – und läuft in eine Steigerungsfalle, an deren Ende immer Erschöpfung und Enttäuschung lauern.

    In der MINDCHANGE-Idee geht es gerade nicht um Optimierung, sondern um Akzeptanz: Sich selbst in ein neues Selbst-Verhältnis bringen, nicht ständig an sich herumbasteln…

    Am Ende geht es um Empathie. Zu sich selbst und anderen. MINDCHANGE beinhaltet auch die Idee, ein erfüllteres soziales Leben zu führen. Das geht besser, wenn man sich nicht dauernd selbst auf die Nerven geht.

    Der zweite große Glaubenszerfall unserer Tage – neben dem Glauben an den linearen technisch-ökonomischen Fortschritt – hat mit der Krise der christlichen Kirchen zu tun. Wir sollten uns nicht täuschen: Der Zerfall traditioneller Kirchenbindungen geht nicht spurlos an der Gesellschaft vorbei. Er hinterlässt ein gewaltiges spirituelles Vakuum. Leerstellen, die sich schnell durch Dämonen – reale und digitale – füllen könnten.

    MINDCHANGE weist in Richtung einer aufgeklärten Spiritualität, in der es nicht mehr um Gottesbilder oder Glaubensdogmen geht. Auch nicht um magische Kräfte. Sondern um Weltbeziehungen. Dabei spielen zwei Kategorien eine wichtige Rolle: Natur und Zukunft. Natur, weil wir im Ausklang des fossilen Kapitalismus eine andere, zarte Beziehung zu allem Lebendigen suchen – das Schlüsselmotiv unserer Epoche. Und Zukunft, weil wir im rasenden Gegenwarts-Wahn unserer Tage das Zu-künftige zu verlieren drohen. Die Perspektive nach vorn. Das Staunen darüber, was möglich ist. Echter Wandel entsteht immer in einer Neuverbindung des Innen und des Außen zu wahrhaftiger menschlicher Evolution.

    Wird sich in den nächsten Jahren ein großer mental-kultureller Trend her-ausmendeln? Schreiben Sie mir Ihre Meinung auf kolumne@horx.at, ob es diesen Trend tatsächlich gibt, ob er „mega“ wird – oder warum nicht.

    Hier ein erster noch provisorischer Versuch eines „Metagramms“:

    © Zukunftsinstitut Horx GmbH