105 – Das Wandel-Paradox
Vorschlag für ein konstruktives Zukunftsdenken
Derzeit werde ich manchmal gefragt, warum die Politik total versagt und die Menschheit offensichtlich mit vollem Tempo in den Untergang rast. Wieso streiten sich die Politiker in nächtlichen Sitzungen anstatt endlich ernsthafte Maßnahmen gegen den Klimatod zu beschließen? Warum lassen sich die Grünen, diese Trottel, immer wieder von der Benzinlobby über den Tisch ziehen? Und bauen jetzt sogar noch Autobahnen!
Ich antworte dann etwas vorsichtig:
Vielleicht liegt es ja auch an unserer Wahr-Nehmung. Mit Bindestrich. Dem, was wir für die Wirklichkeit halten.
Wir leben in einer Aufmerksamkeits-Ökonomie. In unserem medialen System, das unentwegt nach unserer Gehirnzeit (unserer Aufmerksamkeitsspanne) verlangt, sind vor allem negative, angstmachende und skandalisierende Impulse gefragt.
In einer Studie der Wissenschaftszeitschrift Nature Human Behaviour wurden 105.000 Schlagzeilen und Subzeilen und 370 Millionen Klicks in Online-Medien untersucht. Die Forscher fanden heraus, dass jedes negative Wort, also alles was mit Katastrophen, Skandalen, Vorwürfen, Streits, die Wahrscheinlichkeit eines Klicks um 2 Prozent erhöht. „Positive Wörter verringern hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass die Meldung angeklickt wird, signifikant nach unten“, sagen die Forscher.
Wie heißt das so schön im Englischen? It’s boom time for doom time…
Mir ist auch aufgefallen, dass sich in den Deutungsmedien zunehmend ein aggressiv-zynischer Interview-Stil gegenüber Politikern durchsetzt. Während früher eher ein geradezu unterwürfiger Tonfall herrschte („Wie sehen Sie das denn, Frau Merkel, aha“!), dominiert heute eher ein ruppiger, geradezu unverschämter Ton, der immer auf die gleichen Standardfragen zurückgreift:
„Wie soll denn bitteschön die Verkäuferin beim Aldi damit umgehen?“
„Aber müssen wir nicht Angst haben, dass…“ (Beliebiges bitte einsetzen).
„Ist das nicht alles furchtbar naiv?“
„Aber wo soll denn der ganze Strom für die Energiewende herkommen?“
„Und wer bitteschön, soll denn die ganzen Wärmepumpen bauen?“
Ich nenne das das Unmöglichkeits-Verhör. Der befragte Politiker gerät immer in die Defensive, denn alles, was er antwortet, klingt immer wie eine Legitimation seiner Unfähigkeiten. So dreht sich alles immer im Kreis des Empörungs- und Geht-Nicht-Karussells. Es hat etwas mit Respektlosigkeit zu tun, und das gefährdet auf Dauer die Demokratie. Es öffnet dem Populismus Tür und Tor und zerstört die Sicht auf Lösungen, die meistens auf der Hand liegen.
Derzeit bauen die Wärmepumpen-Produzenten massiv Kapazität aus.
Und nein, wir MÜSSEN nicht immer Angst haben. Wir könnten auch nach sinnvollen Lösungen gemeinsam suchen. Dazu können auch Kompromisse gehören. Auch funktionierende Autobahnen wären nicht schlecht. Denn wenn wir ehrlich sind, werden wir auch weiter Autofahren.
Die Weisheit des Wandels
Ist Ihnen aufgefallen, dass Wandel sich meistens irgendwie rückwärts ereignet? Also nicht durch Vorausschau und Planung, sondern durch nachträgliche Akzeptanz. Nicht auf dem Wege der Prä-Stabilisierung (ein Begriff von Leibniz). Sondern durch RE-Stabilisierung.
Als in den 70er Jahren der Auto-Sicherheitsgurt eingeführt werden sollte, waren die Zeitungen voll von Autofahrer-Wutausbrüchen, die den heutigen shitstorms ähnelten. Die lebensrettende Wirkung des Gurtes wurde von vielen Männern schlichtweg geleugnet. Mein Onkel Karl schaffte sogar aus Protest gegen Freiheitsberaubung sein Auto ab und kam damit als Held des Widerstands in die Zeitung (allerdings kaufte er einen Monat später einen neuen Golf mit Dreipunkt-Sicherheitsgurt).
Als die Grünen in den 80er Jahren ein Gesetz zur Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe vorschlugen, war der (west)deutsche Bundestag ein Tollhaus von höhnisch grölenden Männern. Einige Jahre später war das Gesetz beschlossen. Und fühlte sich ganz richtig an.
Als in den Neunzigern die Debatte über das Rauchverbot in Restaurants aufkam, marschierten die Gastronomen zusammen mit den Zigarettenlobbys auf und polemisierten gegen die genussfeindliche Verbotskultur. Ein paar Jahre später waren alle heilfroh, dass Kinder und Alte in die Restaurants zurückkehrten, die nun nicht mehr nach Teer und Nikotin stanken (einige Kneipen gingen pleite, aber man vermisst sie kaum). Aus einem Meinungsstreit wurde ein Win-Win-Spiel. Die Raucher hatten nun draußen vor der Tür eine Zweitgemeinschaft, wenn es am Tisch zu langweilig wurde.
Als um die Jahrtausendwende zum ersten Mal über die Rechte der Schwulen debattiert wurde, war die Häme enorm. Dass heute in 15 Länder der Erde Homosexuelle heiraten können und es sogar in ganz normalen Reihenhäusern eher normal ist, schwule Freunde und Bekannte zu haben, konnte sich niemand vorstellen.
Als in den 70er Jahren die sozialen Bewegungen aufkamen — Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Emanzipationsbewegungen — wurden sie erbittert bekämpft. Später setzten die Konservativen die meisten der Reformgesetze für eine liberale, offene Gesellschaft um.
Ist es nicht erstaunlich, was alles möglich ist, wenn man die Welt von vorne sieht?
Das Prinzip des Wandels ist paradox. Erst scheint alles unmöglich. Später wird es das Neue Normal. Der Streit beleuchtet das Problem, und dadurch werden die Bremsen gelockert, die uns im Alten festhalten. Oft haben wir das Gefühl, wir kämen überhaupt nicht voran. In Wirklichkeit ist alles längst unterwegs. Wir können es nur nicht wahr-nehmen.
Lärm geht dem Wandel voran
Wie das Wandel-Paradox innerlich funktioniert, kann man auch am Beispiel der E-Mobilität verdeutlichen. Als E-Autofahrer habe ich jahrelang die Wut der Fossilfahrer erleben dürfen. Man hat mir sogar schon Öl auf die Autoscheibe geschmiert, und ein tiefgelegter Audi-Fahrer mit vier riesigen Chromauspuffen nannte mich einen „lügenden Umweltverbrecher“.
In der Tat glaubt ein großer Teil der Fossilfahrer, dass E-Autos umweltschädlicher sind als die „richtigen“ Autos. Nach einer aktuellen Studie bemängeln 57 Prozent die Umweltschädlichkeit der Akkus, 49 Prozent deren begrenzte Lebenszeit. 63 Prozent führen als Argumente gegen den Kauf eines E-Autos das zu gering ausgebaute Ladesäulennetz, 66 Prozent die zu geringe Reichweite an. Ein nicht unerheblicher Teil der Männer will heute wieder einen Benziner kaufen. Da weiß man, was man hat.
Wenn man jedoch selbst E-Autos fährt, macht man erstaunliche Erfahrungen. Ich bin noch nie stromlos hängengeblieben, auch im Winter nicht. Ich habe an Berghütten geladen, auf versifften Autobahnraststätten und mit Kabel durch die Fenster von Nachbarn oder Freunden. Heute ist das alles nicht mehr nötig. Elektronen sind im Universum häufiger als Kohlenwasserstoffe. Die Reichweiten steigen stetig, und E-Autos werden immer eleganter. Wenn man einmal eingestiegen ist, möchte man nicht mehr zurück in die alten Rappelkisten. In manchen Städten fahren E-Autos mit mehr als einer halben Million Kilometer auf dem Tacho (ein Alptraum für die Autoindustrie).
Wandel beginnt in der Veränderung der Perspektiven. Während ich in den guten alten Dieselzeiten gerne tausend Kilometer ohne Pause heruntergerissen habe (und dann ziemlich dumm im Kopf war) genieße ich inzwischen das Pause machen. Ich reise mehr als ich rase. Allerdings dauert eine Vollladung heute kaum mehr als 20 Minuten. Das ist schon wieder zu kurz zum Kaffeetrinken.
Weil ich mich jetzt für das Mögliche interessiere (und nicht mehr nur für das, was nicht geht), weiß ich, dass Elektroauto-Technologie sich stetig weiterentwickelt. In den nächsten Jahren kommt eine neue Batteriegeneration auf den Markt, die deutlich weniger seltene Erden braucht. In den USA stehen die ersten Vollrecycling-Anlagen für Lithium-Ionen-Akkus kurz vor der Eröffnung, in Deutschland gibt es Probeläufe. Viele Elektroauto-Firmen dekarbonisieren jetzt auch die Produktion der Fahrzeuge. Und so weiter.
Haben Sie davon gehört?
Wir nehmen wahr, was in unsere Erwartungen passt.
In Norwegen stieg die Prozentzahl der Elektrofahrzeuge bei den Neuwagen in acht Jahren von 20 auf 80 Prozent. Dort hat man ganz andere Diskussionen, nämlich darüber, wie man die Erneuerbaren noch schneller ausbaut. Die normative Kraft des Faktischen. Spätestens wenn mehr als die Hälfte Autofahrer elektrisch unterwegs sind, kommt man sich mit seinem Verbrenner plötzlich ziemlich blöde vor.
Könnte das mit Ölheizungen und vielem anderen Fossilen, was nicht in die Zukunft passt, nicht auch so gehen?
In der Geschichte wie im richtigen Leben gibt es Phasen des Übergangs, in denen das Alte noch nicht aufgehört hat und das Neue noch nicht richtig begonnen hat. Wichtig ist, dass wir in solchen Konfusionsphasen, nicht nur in Richtung der Angst blicken. Sondern auch dem Gelungenen eine Möglichkeit geben.
Deutschland hat trotz einer radikalen Energiekrise im vergangenen Jahr seine CO2-Reduktionen eingehalten. In vielen Medien wird das als eine Art höheres Versagen interpretiert. Es hätte ja noch besser kommen müssen…
Ich nenne das eine Anspruchs-Verblendung.
In den Wüsten der Erde werden derzeit rund 1.000 gigantische Solarkraftwerke gebaut, teilweise mit neuen Speichertechniken. Die Gesamtkapazität liegt bei 500 bis 600 Kernkraftwerken. Haben Sie jemals davon gehört?
In diesem Jahr wurden zwei erstaunliche globale Umwelt-Abkommen abgeschlossen. Das Abkommen über die globalen Meeres-Schutzgebiete. Und das globale Wasserschutz-Abkommen. Interessiert Sie das? Oder sind „sowieso“ der Meinung, dass „Abkommen nichts bringen“?
Ich erinnere nur an das FCKW-Abkommen, das half, das Ozonloch zu schließen. Oder das Walfangverbot, dass dazu führt, dass heute die allermeisten Wal-Arten sich wieder erholen.
In den meisten entwickelten Industrienationen sinken die CO2-Ausstöße. China bringt jedes Jahr so viel Erneuerbare-Energie-Kapazität ans Netz wie ganz Europa und Amerika heute produzieren.
Es ist leicht, auf solche positiven Meldungen mit negativem „Whataboutismus“ zu reagieren („Und was ist mit China = Kohlekraftwerke?!“). Damit steht man immer kritisch da, und das Kritische gilt ja als moralisch gut.
Das Kritische kann aber auch leicht das Reaktionäre werden.
Ein probates Mittel, Wandel nicht wahrzunehmen, ist auf „den Menschen“ zu schimpfen, der eben egoistisch, faul und wandlungsunfähig ist. Aber in dieser negativen Anthropologie steckt auch ein gehöriges Stück Selbstbeweihräucherung.
Eine neue Studie des Umweltministeriums zeigt, dass 86 Prozent in Deutschland einen Lebensstil-Wandel zugunsten der Dekarbonisierung bejahen. In der PACE-Studie sagen zwei Drittel, dass es für eine postfossile Zukunft einen übergreifenden Konsens jenseits der Parteien und Interessensgruppen geben sollten.
Jetzt gibt es eine neue Umfrage, in der „nur die Hälfte” der deutschen Bevölkerung den Klimawandel für ein ernstes Problem hält. Wirklich? Die Hälfte wäre ja auch schon etwas. Und eine alte Erfahrung sagt, dass Meinungen oft so erscheinen, wie man in sie hineinfragt…
In den meisten entwickelten Industrienationen existiert heute die stabile „Ökologische Klasse” (Bruno Latour), die sich aus allen möglichen Schichten und Milieus zusammensetzt. Sie muss noch nicht einmal die absolute Mehrheit ausmachen, um für die Zukunft wirksam zu sein.
Positive Tipping Points
Die „Tipping Points“, die Umkipp-Punkte, die wir im Kontext des Klimawandels so fürchten, gibt es nicht nur in katastrophischer Richtung. In dynamisch-komplexen Systemen kommt es an bestimmten Punkten zu Emergenzen, in denen das System sein Richtung ändert. Dadurch entsteht früher oder später ein „Neues Normal“, eine neue Selbst-Stabilisierung.
In technologischen Innovationsprozessen gilt die Regel der „dynamischen Skalierung“: Wenn eine innovative Technologie etwa 20 Prozent des Gesamtmarktes erreicht hat, entsteht ein Beschleunigungseffekt, der zum Durchbruch führt. Das haben wir beim Internet erlebt, und es wird mit der Dekarbonisierung nicht viel anders sein.
In einem ganzheitlichen Modell der Klimawende hat die Grazer Systemforscherin Ilona Otto ein Diagramm der Tipping Points in Richtung einer dekarbonisierten Welt dargestellt. Wenn bei den erneuerbaren Energien bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, im Bildungs- und bei den Wertesystemen sich etwas tut, wenn 25 Prozent der Menschen sich aktiv für die Klimawende engagieren, mehr Menschen in dekarbonisierten Umwelten (etwa grünen Städten) leben, wenn Finanzmärkte durch ökonomische Inputs reagieren, kommt es zu einer sich-selbst-verstärkenden Konvergenz. Dann „kippt“ das System vom fossilen Prinzip in eine post-fossile Dynamik.
Ein solches Modell stellt die Herausforderungen der Zukunft nicht als Unmöglichkeiten dar, sondern als Potentiale. Es ist wie ein Win-Win-Spiel, das wir mitspielen können. Statt uns in die Defizite zu verrennen, können wir Stück für Stück die Wirklichkeit verbessern. Wir alle, als Individuen, Familien, Gruppen, Gesellschaften, sind Wirkende in diesem neuen Kontext.
Zukunft ist eine Erfahrung, für die man sich entscheidet.
PS: Hier noch ein Stück aktueller SPIEGEL-Immerschlimmerismus-Prosa:
Es ist eine harte Zeit für die Deutschen, und vielleicht haben auch Sie das Gefühl, in einen perfekten Sturm geraten zu sein: Die Inflation frisst das Geld auf, nach jedem Einkauf schaut man kopfschüttelnd auf den Kassenzettel, die Folgen von Putins Krieg kosten auch dieses Land Unsummen, und jetzt will die Regierung auch noch das Land klimafreundlich umbauen. Nur wer soll das alles bezahlen? Vor allem das Aus für Gas- und Ölheizungen wird unfassbar teuer werden, für Häuschen-Besitzer und Mieter. Noch nie wurde so erbittert über Wärmepumpen, Pelletheizungen oder Wasserstoff geredet und gestritten, auch in den Marathon-Sitzungen des Koalitionsausschusses jetzt. SPD und FDP fürchten offenkundig die Wut der Wählerinnen und Wähler, die Grünen dachten vor allem ans Klima. Heraus kam ein Kompromiss, der wohl niemanden glücklich macht, vor allem da eine neue Umfrage zeigt, dass ungefähr die Hälfte der Deutschen Klimapolitik nicht für besonders wichtig hält. Die neue SPIEGEL-Titelgeschichte beschreibt, wie es zum Showdown in Berlin kam – und was das jetzt für uns alle bedeutet.
Was bedeutet das? Es bedeutet, dass man sich eigentlich nur noch die Kugel geben kann. Oder das Magazin abbestellen. Und hinausgehen in die Welt, um neue Erfahrungen zu machen, die einen ver-wandeln.