127 – Humanistischer Futurismus
12. Kapitel von „Zauber der Zukunft – wie wir die Welt verändern”.
Was ist Humanistischer Futurismus?
Mit dem Futurismus ist das so eine Sache. Seine Ursprünge finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die ursprüngliche Bewegung der »Futuristen« war eine eher durchgeknallte Künstler-Boheme-Sekte um den italienischen Dandy Filippo Tommaso Marinetti, der später vom Anarchismus zum Faschismus konvertierte. Marinetti veröffentlichte 1909 sein »Futuristisches Manifest«, in dem es vor allem um die Verherrlichung von rasendem Fortschritt, Geschwindigkeit, und industriellen Maschinen ging, ebenso um die radikale Abschaffung alles Alten, Überkommenen. Wie leicht diese Idee zu einem Wahn werden konnte, zeigte sich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, in dem die meisten der damaligen Futuristen starben, weil sie den Krieg als eine Art Beschleunigungsmaschine der Geschichte verherrlichten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galten als Futuristen eher die Vertreter der typisch technisch-US-amerikanischen Zukunftsgläubigkeit, mit ihrem Hang zu Überschallflugzeugen, Weltraumfahrt, stromlinienförmigen Autos und Atomkraft (in der kommunistischen Welt gab es ebenfalls eine Entsprechung). Heute existiert Futurismus als bekennender Zukunftsglaube vor allem in den verschiedenen Strömungen des Transhumanismus, die den Menschen an die (hypertechnische) Zukunft anpassen beziehungsweise ihn lieber gleich ganz abschaffen und gentechnisch und superdigital neu konstruieren will.
Gegen diese Radikalisierung des technoiden Zukunftsglaubens hat sich in den letzten Jahren eine neue Schule der Zukunftsforschung entwickelt, die sich wieder dem Menschen und seinen Bedingungen und Bedeutungen zuwendet. In dieser Disziplin geht es zunächst vor allem darum, wirklich gute Fragen zu stellen.
Zum Beispiel: Wenn es eine Unsterblichkeitspille gäbe – würden Sie/würdest Du sie nehmen?
Das wäre eine gute Eingangsfrage für einen Club der humanistischen Futuristen. Gerne dürfen Sie Mitglied werden, egal wie Sie antworten. Es geht nicht um die »richtige« Antwort, sondern um einen Weg zum Erkennen, was der Mensch wirklich ist. Was ihn ausmacht. Die Mitgliedschaft im Club erhält man nicht, wenn man mit »Niemals!« antworten würde oder mit »Na klar, aber sofort!« Sondern wenn man gute Gründe für beide Entscheidungen vorbringen kann, im Sinne des Menschlichen und in der Wahrheit der Widersprüche.
Die Tradition des humanistischen Denkens führt weit in die Antike zurück. In der Renaissance des 13. und 14. Jahrhunderts begannen zunächst einzelne intellektuelle Wanderer und Wunderer wie Petrarch, Botticelli und Dante sich in das unsichere Gelände des Humanums vorzuwagen. Und ein neues Denken zu erproben, das den Menschen in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung stellte. Es ist vielleicht kein Zu- fall, dass diese neue Geistesrichtung inmitten einer Pandemie begann, die in Teilen Europas zwei Drittel der Bevölkerung dahinraffte – der Pest. »Inmitten von Szenen von Unordnung, Krankheit, Leiden und Tod nahmen einige Enthusiasten die Fragmente einer tiefen Vergangenheit und benutzen sie für einen frischen Start«, schreibt die britische Historikerin Sarah Bakewell in ihrem Buch Humanly Possible.
In den folgenden Jahrhunderten entwickelten die Denker der Aufklärung den humanistischen Glauben als eine Befreiungs- und Emanzipationsvision, die den Namen »Aufklärung« erhielt. Im Englischen enlightenment – Erleuchtung, Erhellung. »Freethinking, enquiry and hope« – so bringt Sarah Bakewell die drei Kernpunkte des Humanismus auf den Punkt. Freies Denken, Hinterfragung und Hoffnung.
Man kann das auch unter dem Begriff der »Konstruktivität« zusammenfassen. Es geht darum, der Welt nicht mit magischen Projektionen, verkürzten Parolen oder mentalen Reduktionen entgegenzutreten. Den Mind an die Komplexität der Wirklichkeit anzugleichen. An dieser Tradition setzt der humanistische Futurismus an, wohl wissend, dass wir heute in einer anderen Welt leben, die von Maschinen, Memen und bisweilen monströsen Möglichkeiten geprägt ist. Wir brauchen eine neue Aufklärung, die folgende Elemente beinhaltet:
Evolutionäre Aufklärung: Die Zukunft ist nicht in Details vorhersagbar, aber sie entwickelt sich entlang der Gesetze der Evolution. Evolutionäre Prozesse von Mutation, Selektion und Adaption sind auf soziale, gesellschaftliche, sogar technische Prozesse übertragbar, auch wenn es wichtige Unter- schiede zwischen biologischen und technischen Adaptionen gibt. Neben der biologischen gilt für Menschen noch die kulturelle Evolution. Es sind die Sozialsysteme und Kommunikationsformen, die sich ebenso nach den »darwinistischen« Gesetzen entwickeln: Was sich in bestimmten Umweltsituationen bewährt (und Kulturen können selbst eine Umwelt bilden), pflanzt sich fort. Zur evolutionären Aufklärung gehört auch, zu wissen, dass Evolution nicht im moralischen Sinne »gut« ist. Zu jedem evolutionären System gehören Symbionten, Parasiten, »Räuber«, Strategien, die Entropie nutzen – sie sind Teil jeder evolutionären Dynamik. Allerdings überwiegen sie nicht zugunsten der Symbiosis, dem Prinzip der gegenseitigen Kooperation.
Systemische Aufklärung: Die Welt funktioniert fundamental in Systemen. Gesellschaften, Organisationen, Technologien oder Körper lassen sich als »systemische Einheiten in Vielfalten« beschreiben. Man kann Systeme in ihrer Struktur erkennen, bestimmen und in gewissem Sinne prognostizieren, etwa indem man ihre Resilienz, Adaptivität, Variabilität versteht. Der Kern der Systemtheorie ist das Komplexitätsmodell, das sich mit der Unterschiedlichkeit von Systemelementen und ihren vielfältigen Wechselbeziehungen und Feedbacks beschäftigt.
Memetische Aufklärung: Neben dem genetischen Code der DNA, der die Reproduktionen steuert, gibt es noch eine andere Wandel-Formungskraft: das MEM (nicht zu verwechseln mit den Internet-Memen, die als schnelle Gags kursieren). Der Begriff stammt vom britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der die Meme als »zweiten Replikator« bezeichnet, der die menschliche Kultur formt. Meme sind Ideen, Vor-Stellungen, Denkweisen, Anschauungen, die durch Kommunikationen von Mensch zu Mensch übertragen werden. Meme »kopieren« sich in menschliche Hirne, wie die DNA in Zellen. Sie vermehren sich durch Imitation; in der heutigen globalen Hypermedialität können sie zu großen »Memplexen« anschwellen – sich rasend schnell verbreiten, aber auch rasend schnell mutieren.
Spirituelle Aufklärung: Die klassische Aufklärung entwickelte sich überwiegend in der Differenz zum Religiösen. Aber heute wissen wir, dass Menschen ohne eine vertikale Dimension nur schwer leben können. Aufgeklärte Spiritualität ist das Erkennen und Erfahren der »Verbindlichkeit«, mit der wir untereinander und mit dem Kosmos verbunden sind. Ohne die Dimension einer Zukunfts-Spiritualität bleiben wir in der tragischen Position einer »singulären Gegenwart« stecken.
Humanistischer Futurismus würdigt die Kraft des Menschen, sich in seinen existenziellen Paradoxien und unvermeidlichen Leidensprozessen immer wieder neu zu behaupten. Er sieht gerade in der Unfertigkeit, der Schwäche und dem Irr- tum die Zeichen des Zukünftigen.
Humanistischer Futurismus sieht den Menschen als Zukunftswesen, das nach dem Anderen und Besseren strebt, ohne das Perfekte jemals zu erreichen zu können. Menschliche Zukunft bleibt immer »Work in Progress«. Fortschritt findet statt, langsam, graduell, trotz oder wegen aller Rückschläge.
Humanistischer Futurismus sieht das Zukünftige als eine Steigerung unseres lebendigen Verhältnisses, unserer Vitalität im Verhältnis zur Welt (zu anderen Menschen und zu uns selbst).
Humanistischer Futurismus beschränkt sich nicht allein auf das Zukunftsmodell des westlichen Industrialismus. Er würdigt die Erfahrungen aller menschlicher Kulturen aller Zeiten in ihrem Beitrag zum Menschheitsprojekt. Er sieht die menschliche Kultur als Ganzheit und »kosmische Perspektive«.
Humanistischer Futurismus beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von innerer und äußerer Zukunft. Wie formen Visionen, Utopien, Zukunftsnarrative mächtige Meme, die Vor-Stellungen und Handlungen der Menschen auf dem Wege Sich-selbsterfüllender Prophezeiungen?
Humanistischer Futurismus ist eine Zukunftsforschung der Verantwortung, in der das eigene Handeln als Agent der Zukunft wirkt. Wie schon Bert Brecht sagte: »Eine Aussage ist dann eine Wahrheit, wenn sie eine Voraussage gestattet – bei dieser Voraussage muss aber der Aussagende als Handelnder auftreten.«
Einige »Sponti-Parolen« des Humanistischen Futurismus
In den Siebziger Jahren gab es in meiner Herkunftsstadt Frankfurt die „Spontis”, eine Gruppe von Aktionisten, die die Welt mit Spaß und Freude und Kreativität verändern wollten. Aus dieser Zeit stammen Sprüche wie:
- Alle können denken; nur bleibt es den meisten erspart.
- Alle wollen zurück zur Natur, nur nicht zu Fuß.
- Alle Menschen sind klug: Die einen vorher, die anderen nachher.
- Alle Menschen werden als Original geboren, die meisten sterben als Kopie.
- An die Waffeln, Bürger!
Entsprechend könnte man Parolen für den Human-Futurismus erfinden:
- Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich manchmal fürchterlich. In diesem Lärm versteht man seine eigenen Gedanken nicht.
- Das Neue löst das Alte nicht ab, es spielt nur eine neue Melodie.
- Krisen sind Zukunftsagenten, mit denen man klug verhandeln sollte!
- Lass dich nicht vom Neuen blenden! Achte auf das Bessere!
- Die meiste Zukunft von heute ist längst schon von gestern, nur keiner merkt’s.
- Während vieles immer schneller wird, wird manches endlich langsamer.
- Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Aus Trend und Gegentrend (und Gegen-Gegentrend) entsteht der Tanz des Wandels.
- Wir sind dabei, Götter zu werden. Wir sollten uns deshalb schleunigst wieder mit der Ketzerei beschäftigen (frei nach Stewart Brand).
- Maschinen werden Menschen nie völlig ersetzen, es sei denn, wir selbst verwandeln uns in Maschinen.
- Man verwandelt die Welt nicht durch Forderungen, sondern durch ergreifende Geschichten.
- Die Zukunft ist kein fertiges Wohnzimmer, in das wir nur einziehen müssen. Sie ist keine Lokomotive im Tunnel, die auf uns zurast, und wir können noch nicht einmal beiseite springen. Sie ist auch kein Fluss, in den wir hineingehen, um uns davontreiben zu lassen. Zukunft ist eine Dimension des Lebens, eine Kraft die uns bewegt und verändert, wenn wir fürsorglich mit ihr umgehen. Ein Spiegel, in dem wir unsere Rolle in einem fantastischen Universum erkennen können.