131 – Wie heißt das Next Age?

Die Wellen des Wandels

Eine Zukunfts-Meditation zum Jahreswechsel

„Nichts kann existieren ohne Ordnung.
Nichts kann entstehen ohne Chaos.”
Albert Einstein

„What goes too long unchanged destroys itself.”
Ursula K. Le Guin

1. Der Name der Epoche

In dieser schwebenden Zeit zwischen den Jahren lese ich ein Buch, das sowohl Science-Fiction als auch raffinierte Gegenwarts-Story ist. Naomi Alderman heißt die Autorin eines Weltbestsellers mit dem schönen Titel „The Future“ (auch auf Deutsch erhältlich). Darin geht es um einen simulierten Weltuntergang, durch den der wildgewordene amerikanische Anarcho-Kapitalismus endlich zu Fall gebracht wird. Wie? Indem die Elon Musks, Jeff Bezos und Mark Zuckerbergs mit ihren Familien auf einer einsamen Insel ausgesetzt werden. Und dort in einer Simulation des Weltuntergangs gehalten werden, dem sie scheinbar in letzter Minute entkommen sind …

Ein raffinierter Plan von Frauen.
Geht es nur so? Betrug durch Betrug, Illusion durch Illusion zu bekämpfen?

Naomi Alderman formulierte neulich in einem Podcast einen denkwürdigen Satz:

„Die nützlichste Information, die du über Dein Leben haben kannst, ist der Name der Epoche, in der du lebst.“

Dieser Satz übt eine seltsame Magie aus. Zunächst klingt er banal: Ist es nicht vollkommen egal, wie eine „Epoche“ heißt? Was soll das überhaupt sein, eine „Epoche“? Wenn man den Satz aber auf der Seele zergehen lässt, entsteht eine tiefe Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Orientierung. Nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen. Nach Verbundenheit mit der Zeit, in der wir leben. Oder leben werden.

Wir sind von der Evolution geprägte Zukunftswesen. Wir können gar nicht anders, als uns die Zukunft vorzustellen. Unser übergroßes und unruhiges Hirn ist ständig mit Vor-Denken und Hinaus-Denken beschäftigt, mit Projektionen und Visionen, auch wenn wir es gar nicht merken. Diesen Future Mind hat uns die Evolution mitgegeben.

Wir wollen wissen, in welchen Kontexten wir uns befinden.
Wir wollen wissen, worauf alles „hinausläuft“.

Umso dramatischer ist es, wenn wir die Zukunft verlieren. So, wie es derzeit der Fall ist.

In unserer rasenden Gegenwart haben wir den Glauben an eine Werdende Zeit verloren. Eine solche Narration, eine „Morgen-Story“, ist aber für eine Zivilisation, eine Kultur, unabdingbar. Zukunfts-Vorstellungen synchronisieren die Gesellschaft, machen sie überhaupt erst handlungs- und konsensfähig. Heute aber hat sich die Zukunft hinter den Horizont verzogen. Von dort aus droht sie uns mit schrecklichen Katastrophen und Untergängen. Sie bietet uns nicht viel mehr als Schrecken und Ängste, Verzweiflung und endlose Talkshows, die uns immer wieder vor Augen führen, dass irgendwie nichts mehr besser werden kann.

2. Der Zukunftsbetrug

Der Publizist Tom Junkersdorf verfasste neulich unter dem Titel „Postfuture Hangover“ einen wunderbar poetischen Text in der Zeitschrift Business Punk:

„Wir alle haben offenbar einen Kater. Aber es geht nicht nur um eine Krankheit, sondern um das, was wir Leben nennen. Wir haben uns auf den Fortschritt gefreut. Die Technik. New Work. Die Chance auf Homeoffice, neue Werte und neue Wertschöpfung. Wir haben die Digitalisierung umarmt wie gute Gastgeber. Jetzt haben wir all das. Und spüren, dass es unserem Wohlbefinden nicht besser geht. Wir wollten Wellbeing und haben plötzlich Toxic Care. Wir wollten Wohlstand und haben plötzlich Notstand überall. Wie wollten Frieden und haben plötzlich Krieg. Man gibt den Menschen das Internet, das das Wissen der Jahrtausende enthält. Und sie suchen nach Katzenvideos. Oder speien ihren Hass hinein. Man gibt ihnen das Smartphone, das sie mit allem und jedem auf der Welt verbindet. Und sie inszenieren sich damit bis zur Selbstauflösung in Selfies. Oder speien ihren Hass hinein. Man gibt ihnen die Demokratie, und sie wählen Menschenfeinde, Antidemokraten (w/m/d, aber oft dann nur noch m). Speien also ihren Hass hinein.“

Man kann dieses bittere Lamento leicht weiterführen. Sind wir nicht alle zutiefst enttäuscht vom Gang der Dinge, vom „Wesen der Welt“, wie es sich heute darstellt? Klafft da nicht ein riesiger Enttäuschungs-Spalt zwischen unseren Erwartungen, unseren legitimen Wünschen, und der Realität?
Aber was ist das überhaupt, „Realität“?
Und wie kommen wir aus dieser Jammerspirale hinaus?

Der zukunftslose Zustand ist relativ neu. Vor Corona war die Zukunft noch ziemlich klar am Horizont erkennbar: Sie bestand aus einer Verlängerung des „Immer besser, immer mehr“, die wir im Großen und Ganzen in 80 Jahren Frieden und Wohlstandsgewinn erfahren durften. Man musste nur die bestehenden Groß-Trends, die MEGATRENDS, weiter nach vorne verlängern: Mehr Globalisierung – die Welt würde zu einem einzigen Kultur- und Wirtschaftsraum zusammenwachsen. Mehr Handel und Wandel, wodurch die Demokratie ihren Siegeszug fortsetzen würde. Aus der alten Industriegesellschaft mit ihren Klassenkämpfen und Schichtenspaltungen entstand die Wissensgesellschaft, in der hohe Bildung für alle die Ungleichheiten der Gesellschaft auflösen würde. Segensreiche Digitalität würde alle weiteren Probleme lösen, der Fortschritt würde sich immer weiter beschleunigen (Innovation! Disruption!), bis unsere Straßen von Robotern bevölkert sein würden, die uns die dumme Arbeit abnehmen und alle Züge pünktlich fahren ließe. Und alles wäre nachhaltig! So sah die Zukunft aus. Nur klingt das heute wie das Rattern und Quietschen eines schon längst aus den Gleisen gesprungenen Zuges.

3. Das Kafka-Gefühl

Wer war die wahre Kultfigur des vergangenen Jahres 2024? Britney Spears? Chat GPT? Ich glaube es war Franz Kafka. Kafka lebte Anfang des vergangenen Jahrhunderts, er stolperte durch eine Welt, in der nichts zusammenpasste. Überall sind die Türen zu groß, man wird nicht vorgelassen und schon gar nicht angehört. Man wacht morgens als Käfer auf und kann nichts dagegen tun als zappeln. Im Haus wohnt ein Wesen namens Odradek, ein sprechendes Wesen in Form eines Zwirnsterns (einer Spule, auf die ein Faden gewickelt ist – das kennen wir nur allenfalls noch aus der Nähkiste unserer Großmutter).

(In der Kafka-Erzählung „Die Sorgen des Hausmeisters“)

Wer würde hier nicht an die Künstliche Intelligenz denken, die alles besser weiß, aber jeden Sinn sabotiert?

Ein antiislamistischer Mediziner und Psychologe aus Saudi-Arabien, AfD-Sympathisant, überfährt mit seinem Auto 200 Menschen und tötet 5 auf einem Weihnachtsmarkt. Er benutzt dabei die Flucht- und Rettungswege, die für Notfälle vorgesehen sind. Was die AfD nicht daran hindert, mit dieser Monstrosität rechtsradikalen Wahlkampf zu machen.

Kafka hätte nur sein leeres Lächeln gezeigt.

Frank Kafka lebte in einer Epoche, in der die alten Ordnungen brüchig geworden waren – ähnlich wie heute. Er beschreibt dies als den Zustand „unhaltbarer Existenz“. Da die Welt im Großen nicht mehr stimmig erscheint, lebt jeder in einer eigenen Wahrnehmungsblase. Jeder hat irgendwelche Meinungen, ohne dass daraus ein Gesamtbild entsteht, auf das wir uns beziehen können. Nichts kommt zusammen, um ein tragfähiges Neues zu bilden.

Man kann diesen Zustand aber auch als ein deutliches Anzeichen für einen Epochenwechsel sehen.

Das Alte hat noch nicht aufgehört, es zappelt und rumort besonders laut. Aber längst klopft etwas Neues an die Tür. Ein neuer Zusammenhang.
Die Frage ist nur, ob wir das überhaupt hören. Ob wir die Tür öffnen. Oder vor lauter Angst gleich wieder zuschlagen.
Vielleicht wachsen die Monster nur, solange keine frische Luft hereinkommt.

4. Die Omnikrise

Der Langzeit-Futurist Ari Wallach nennt in seinem Buch „Longpath“ – Becoming the Great Ancestors of our Future Needs“ den Übergang von einer Epoche zur anderen einen „Gezeitenwechsel“:

„Viele Menschen fragen mich, was einen Gezeitenwechsel so besonders macht und warum er sie interessieren sollte. Wir erleben ständig kleine Paradigmenwechsel innerhalb einer bestimmten Branche oder einer Kultur. Das Aufkommen des Internets, das Fallen der Geburtenraten, den Anti-Grün-Trend oder die Veränderung der Gesetzgebung zugunsten von Minderheiten. Das Leben scheint trotzdem normal weiterzugehen. Ein echter Gezeitenwechsel tritt ein, wenn sich die Paradigmenwechsel verschärfen und miteinander verflechten, wenn der Grad der Komplexität und Verwirrung den Rahmen sprengt. Und was am wichtigsten ist: Wenn die zugrunde liegenden Ideen, Narrative und Regeln dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, in Frage gestellt werden.“ (S. 38)

Wir haben dieses Phänomen die OMNIKRISE getauft. Omnikrisen unterscheiden sich von „normalen“ Krisen dadurch, dass in ihnen nicht nur irgendein Bereich eine vorübergehende Störung hat. Etwa der Finanzsektor oder das Gesundheitswesen oder die Ökonomie, die nicht wachsen will, wie wir es erwarten. In einer Omnikrise wirken viele krisenhafte Erscheinungen aufeinander ein, verstärken sich gegenseitig, werden zu einem krisenhaften Gesamt-Erleben, bei dem „die Welt aus den Fugen“ gerät.

Die Omnikrise unserer Tage ist vor allem eine kognitive Krise. Wir erkennen die Welt nicht mehr. Wir leben in einer „radikalen Medialität“, die unsere Wahrnehmungen in lauter Bruchstücke zerfallen lässt. Ist nicht ALLES inzwischen Fake, Lüge, Simulation, Betrug und Selbstbetrug? Alles scheint plötzlich gegeneinander zu stehen, auseinanderzufallen in Paradoxien, Unlösbarkeiten, Gegnerschaften: Ökonomie GEGEN Ökologie. Individualität GEGEN Gemeinschaft. Technologie GEGEN Erfahrung. Kommunikation GEGEN Verbindung und Verbindlichkeit …
Henne gegen Ei …
Daraus kann ja nichts werden.

Omnikrisen entstehen, wenn die Systeme, die uns umgeben, in einen Zustand der Übersättigung geraten. Nichts lässt sich mehr steigern, muss aber um jeden Preis gesteigert werden. Aus dem „Immer mehr“ wird das „Viel zu viel.“ Zu viel Billiges. Zu viel Information, die wir nicht zu Wissen (das Verstehen von Zusammenhängen) verarbeiten können. Zu viel Marmeladesorten, Gleichzeitiges, Ungünstiges, Peinliches, Banales.

In einer Omnikrise verwandeln sich die Systeme unserer Zivilisation in „Molochfallen“. „Moloch“ ist die Bezeichnung für einen archaischen Opferritus, bei dem Kinder geopfert werden mussten. In einer Molochfalle wird jeder und jede zum Zwangsteilnehmer eines Systems, das sich von innen zersetzt. Man wird gezwungen, etwas zu tun, was man eigentlich vermeiden will, aber nicht vermeiden kann, wenn man weiter mitspielen will. Radfahrer müssen dopen, weil sie sonst gar nicht erst bei der Tour de France antreten können. Politiker müssen ständig populistische Rhetorik raushauen – das Söder-Syndrom – weil sie sonst nicht mehr gewählt werden (zumindest fürchten sie das, was schon ausreicht, um den Effekt zu erzeugen). Im Internet müssen Frauen einen digitalen Schönheitsfilter benutzen, was unentwegt Hässlichkeits-Reflexe erzeugt und Menschen in Puppen verwandelt. Wir alle müssen haufenweise Müll und CO2 erzeugen, damit wir konsumieren oder mobil sein können. Jeder Journalist muss in Sachen Sensation, Zuspitzung, Übertreibung noch einen draufsetzen, sonst wird er von KI ersetzt.

So entsteht eine Wirklichkeit, in der man nicht mehr wirken kann. Man muss immer schneller rennen, so wie es die Rote Königin in Alice im Wunderland verlangt. Und bleibt noch nicht mal auf der Stelle.

5. Der Meister der Kurven

Der amerikanische Kinderarzt und Pharmazeut Jonas Salk (1914-1995) schenkte der Menschheit Anfang der 50er Jahre den Impfstoff gegen die Kinderlähmung, eine der schrecklichsten Infektionskrankheiten überhaupt. Auf die Frage, warum er sein Impf-Patent einfach an die Weltgesundheitsbehörden verschenkt hatte, antworte er in einem Interview:
„You can’t patent the sun.“
(Man kann die Sonne nicht patentieren.)

Neben seiner medizinischen Forschertätigkeit war Salk ein universalistischer Humanist. Dabei griff er auf philosophische Konzepte wie Tikkun Olam zurück. Das hebräische Wort stammt aus der judäischen Philosophie und heißt „Welt-Reparatur“ oder „Konstruktion für Dauer“.

Salk beschäftigte sich – wie später der Unternehmensberater Charles Handy – intensiv mit der Dynamik von Kurven-Systemen. In ihnen sah er die Grundmatrix jeden Wandels: Sigmoide oder „Schwanenhalsfunktionen“, beschreiben Absatzentwicklungen, Populationsverläufe, Konjunkturzyklen, das Auf und Ab von Lebenszyklen. Mit ihnen lassen sich die Dynamiken von Liebesbeziehungen oder Unternehmensbilanzen ebenso modellieren wie die Zyklen von Sternen und Galaxien. Mit Sigmoiden lassen sich vor allem die Übergänge von Gesellschaftsformen und Zivilisationen darstellen.

Salk sah bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts voraus, dass die globale Populationskurve im 21. Jahrhundert ihren Zenit erreichen würden. Schon zu seiner Zeit sanken die Geburtenraten in den Industrieländern. Salk konnte als Immunologe und Kinderarzt die Zusammenhänge zwischen Kindersterblichkeit, wachsendem Wohlstand und Geburtenrate prognostizieren, weil er in Zusammenhängen dachte. Seine Prognose, dass die Bevölkerung der Erde gegen Mitte dieses Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichen und die Menschheit danach wieder schrumpfen wird,

Grafik: Sigmoidkurve© Horx Future GmbH

Wenn eine Kurve nach oben strebt, kann die Illusion entstehen, es ginge immer so weiter, ins Exponentielle. Aber das Universum kennt keine Exponentialität (jedenfalls keine, die die umlegende Komplexität nicht zerstören würde, Beispiel Krebs). Die Kurve neigt sich also wieder. Entweder entsteht dann ein neues Äquilibrium – Selbststabilisierung auf einem neuen Niveau. Oder die Kurve „stürzt ab“, nachdem sie einen „Tipping Point“ erreicht hat.

Nach Salk haben Sigmoidkurven zwei Phasen, es handelt sich eigentlich um ZWEI Kurven: Die aufsteigende und die abschwächende Phase. In der Mitte einer Sigmoidkurve existiert ein inflection point, ein Wendepunkt, an dem sich „die Richtung ändert“. Dieser trennt den ersten Teil der Kurve vom zweiten.

Grafik: Inflection Point© Horx Future GmbH

Im acceleration growth herrschen expansive Erwartungen: Optimismus, Euphorie, Aufbruch – alles passt irgendwie zusammen. Das Denken ist erwartungsvoll und optimistisch – zukunftsorientiert eben. Die Haltungen und Handlungen der Menschen sind expansiv, vorwärtsstrebend, „progressiv“. Wie sang die Band Fehlfarben in den neunziger Jahren? – „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht – ES GEHT VORAN!“.

Wenn die Kurve sich wendet (deceleration growth), dreht sich der Erwartungshorizont der Kultur: Man spürt, dass es „so nicht mehr weitergehen kann“. Aber man will es nicht so gerne wahrhaben. Ängste breiten sich aus, Bezichtigungen wuchern. Kommende Knappheiten werden vermutet – und durch gesteigerte Furcht regelrecht hergestellt. Unruhen und Hysterien häufen sich. Die Gesellschaft spaltet sich in jene, die um jeden Preis noch schneller voran wollen – in die rasende Exponentialität. Und einen Teil, der eher auf die Bremse treten möchte. Um sich neu orientieren zu können, mit dem Blick auf eine mögliche Stabilisierung.

Grafik: Turbulenz© Horx Future GmbH

Kommt uns das alles nicht irgendwie bekannt vor?

Man kann den Epochen-Übergang auch in einer „Zitterkurve“ darstellen, zwischen ansteigender und absteigender Kurve liegt eine Phase der chaotischen Turbulenz. Wie lange diese Turbulenz dauert, ist schwer vorherzusagen. Es hängt von der Reife einer Bevölkerung ab. Von der Weisheit von Leitpersonen. Von der Wandlungsfähigkeit, der Future Fitness der Gesellschaft – der Fähigkeit, in veränderten Umständen adaptiv zu werden.

Grafik: Dynamik der Epochen© Horx Future GmbH

Der Gesamtverlauf von Epochen lässt sich auch in einer oszillierenden Linie darstellen. In den Anfangsphasen eines „Zeitalters“ (einer Zivilisationsform/Lebensweise/Kultur) stabilisieren sich die Verhältnisse durch ständige kleine Aufs und Abs von selbst. Danach nehmen die Schwingungen und Amplituden fortlaufend zu – bis zu jenem Entscheidungspunkt, an dem das System entweder auf eine höhere oder eine niedrigere Komplexitäts-Ebene springt. Nach den Sprungpunkten verzweigen sich die Verläufe weiter – in einen unruhigen Abstieg in weniger komplexe Zivilisationsformen. Oder einen weiteren Aufstieg in höhere Komplexität und Integration.

Grafik: Sprungpunkte© Horx Future GmbH

Wenn neue Epochen entstehen, synchronisieren sich die verschiedenen Elemente, die zu einer Gesellschaft gehören. Sie ordnen sich zu einer neuen Dynamik (Alignment).

Grafik: Alignment© Horx Future GmbH

Wenn Zivilisationen zerfallen, verwirren sich die einzelnen Stränge der Komplexität, die Ebenen unserer Lebensweise, die Elemente unserer Gesellschaftsform (Resolution).

Grafik: Resolution© Horx Future GmbH

Salks Überlegungen zur Kurvendynamik waren nicht im strengen Sinn mathematisch. Sie basierten auf einer intuitiven Wahrnehmung von Komplexität und Chaos, Wirkung und Rückwirkung. Salk dachte in seinen Modellen kein bisschen moralisch, oder „idealistisch“. Er wandte die Gesetze der Evolutionstheorie auf den menschlichen Kulturzusammenhang an. In der aufstrebenden Phase werden bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Individualität, Machtpräferenz, Wettbewerb, Autonomiestreben, Tendenz zu Extremen sozusagen „ausgelesen“ – sie entsprechen der evolutionären Fitness, die in dieser Phase notwendig ist. Nach dem „Inflection Point“, wenn die expansiven Kräfte nachlassen, werden jedoch andere Parameter wirksam. Verbesserte Kooperation in Arbeitswelt und Politik, Kompromissfähigkeit, „Coopetition“, also eine milde Konkurrenz, mit der Unternehmen untereinander UND mit der Gesellschaft kooperieren. Sensibilität für Andere und das Streben nach Balance statt Dominanz wird nun evolutionär erfolgreicher.

„Wir stehen an einer Grenze“, schrieb Salk in seinem Buch „A New Reality“. „Aber sie ist weder territorial noch technologisch, sie ist menschlich und sozial. In dieser Zeit sich verändernder Bedingungen und Werte kommen Zweifel auf, ob wir diese Grenze überschreiten und den Anforderungen der Zukunft gerecht werden können … Wenn uns das gelingt, werden wir aus der gegenwärtigen Zeit nicht nur als Überlebende hervorgehen, sondern als Menschen in einer neuen Realität.“

Ein späteres Buch von Jonas Salk hieß „Survival of the Wisest“. Hier definierte er den Gang der Humangeschichte als Bewusstseinsprozess, in dem Menschen, Kulturen, Gesellschaften durch Krisen lernen. Hier lag der Kern seines evolutionär-humanistischen Optimismus. Und dort findet sich auch der Schlüssel zum wahren Hoffnungs-Horizont unserer Zeit: Nach Zeiten der Verwirrung und Chaotisierung entstehen immer auch neue Ordnungs-Systeme. Die meisten von ihnen auf einer höheren Ebene der Komplexität.

Jonas Salk und Jonathan Salk: A NEW REALITY – Human Evolution for a sustainable Future. City Pint Press 2018, S. 22

Grafik: Zivilisationsentwicklung© Horx Future GmbH

5. Doing Future

Wie also lautet der Name des „Next Age“, des nächsten Zeitalters? Das können wir nicht wissen, aber wir können unsere Ahnungen entwickeln. Neue Epochen entstehen nicht durch Planung, sondern durch Reaktionen auf Krisen. Sie stabilisieren sich sozusagen „rückwärts“, durch Neuanfänge, aus denen irgendwann Kontinuität wächst.

In Zeiten der Omnikrise sollten wir zunächst Enttäuschungskompetenz üben. Ent-Täuschung, mit Bindestrich geschrieben. Damit wir nicht innerlich am Alten kleben bleiben, und immer nur Verluste bejammern, ist es wichtig, nutzlose Illusionen loszulassen.

Wir gewinnen die Zukunft, wenn wir wieder zu Staunen beginnen. Was alles trotzdem möglich ist. Was alles noch werden kann. Chaotische Zeiten müssen nicht immer nur Zeiten des Leidens und des Niedergangs sein. Nicht alles muss so schlimm kommen, wie befürchtet. Man denke an Syrien, ein Land, das wir, wenn überhaupt, noch bis vor Kurzem als toten Fleck auf der Landkarte wahrgenommen haben. Plötzlich wird ein Tyrann vertrieben. Eine erstaunliche Positiv-Energie entsteht. Und schon reagieren wir mit einem selbstgerechten Belehrungs-Pessimismus: Das kann ja gar nicht gutgehen! Das böse Ende kommt bestimmt!

Es geht um Würde. Eine Art Zukunfts-Würde die uns aus der ewigen Jammer-, Angst- und Beschwerderoutine herausführt. Nicht ins Abseits, sondern ins Doing Future.

Doing Future meint: Mit der Zukunft im Jetzt beginnen. „Die Zukunft ist keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen.“ (Florence Gaub. Eine neue Epoche beginnt immer im Kleinen, im Provisorischen, im Zwischenmenschlichen. Neue Lebensformen zu entwickeln. Neue Ökonomien zu probieren. Durch neue Gedanken über sich selbst hinauswachsen. Der Verunsicherung eine „Protopie“ entgegenzusetzen – ein Handeln über den Tag hinaus, mitten in der Praxis des Lebens.

Wenn wir die Zukunft höflich nach ihrem zukünftigen Namen fragen, verwandelt sich unser Bewusstsein durch die Frage selbst. Wie sagte der Neurowissenschaftler Anil Seth so schön?
„We predict ourselves into the future!“

„Erst wirbeln wir Staub auf, dann beklagen wir uns,
dass wir nichts sehen können.”
George Berkeley, Theologe, Sensualist und
Philosoph der Aufklärung, 1740

„Die eigentliche Ursache des Leids liegt in unserer Unwilligkeit, Tatsachen als reelle Tatsachen und Ideen als bloße Ideen zu sehen, und dadurch, dass wir ununterbrochen Tatsachen mit Konzepten vermischen. Wir tendieren dazu, Ideen für Tatsachen zu halten, was Chaos in der Welt schafft.”
Paul Watzlawick

Mehr zu den Gesetzen des Epochenwandels und zum Namen der kommenden Zeit in BEYOND 2025, unserem Jahrbuch für Zukunft.

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