132 – Digitaler Feudalismus
Wir durchleben den Abschied vom Digitalen Mythos.
Endlich!
Bei all den schlechten und bedrohlichen Meldungen, die uns in dieser verwirrten Zeit erreichen, gibt es manchmal doch etwas Sinnvolles, Klärendes. Etwas wird plötzlich überdeutlich, was früher nur als dunkle Ahnung vorhanden war. Oder unter einer Decke von Illusionen verborgen blieb.
Ein solcher Moment war das X-Gespräch zwischen Elon Musk und Alice Weidel. Als Alice Weidel stolpernd und unendlich unsicher, mit ständiger Buckelei zum GROSSEN MUSK und in grauenhaftem Anbieder-Englisch („yesyesyes!“), Hitler als Kommunisten umdefinierte, wurde endgültig klar, worum es in unserer Gegenwart und Zukunft eigentlich geht.
Es hat lange gedauert. Viel zu lange.
Aber niemand kann sich jetzt mehr rausreden.
Wir leben im DIGITALEN FEUDALISMUS.
Es kommt in allem, was wir politisch, gesellschaftlich oder kulturell äußern, überhaupt nicht mehr darauf an, WAS gesagt wird. Es geht auch nicht um Lügen. Weil es nämlich gar keine Wahrheiten mehr gibt. Die Kategoriensysteme und Denkweisen, in denen wir uns bewegen, haben ihre Bedeutungen verloren. Links oder Rechts? Freiheit oder Unterdrückung? Was bedeutet das noch, wenn wir längst so etwas haben wie Anarchistischen Kapitalismus? Oder Libertäre Tyrannei?
Es geht um den Klick. Sonst nichts. Um den milliardenfachen Kick im Netz, der Milliarden Hirne zu irgendetwas zusammenschaltet, was man ausbeuten kann. Wahr ist, was Aufmerksamkeit generiert. Erregung ist die einzige Ware, die im hyperdigitalen Universum zählt.
Verkauft wird uns das Ganze als Freiheit.
Und immer wieder fallen wir darauf rein.
„Digitaler Feudalismus“ ist kein neuer Begriff. Er wurde schon vor zehn Jahren vom EU-Diplomaten Ramon Blecua, einigen Journalisten oder auch dem linken griechischen Heißsporn Yanis Varoufakis benutzt. Bislang ging es dabei eher um Überwachungs-Staatlichkeit, Datenschutz und unfaire Geschäftspraktiken. Jetzt erst hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen den Begriff in einen neuen gesellschaftlichen Kontext gestellt – und siehe da, er erstrahlt in einem anderen Licht. Im Licht der aktuellen Wirklichkeit.
Es geht nicht mehr um die Gefahr staatlicher Überwachungen. Oder um irgendwelche Datenlecks. Es geht um die Verbindung von Macht, Algorithmus und narzisstischem Wahn zu einem welterobernden Irrsinn. Um die digitale Tyrannei.
Der digitalistische Kult
Wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Die Idee, dass Computer und Netzwerke die Welt verbessern, zum Guten, Demokratischen, Dezentralen, ja sogar Ökologischen, wurde in den späten 80-ern geboren. Aus dem Abklingbecken der großen Jugendrevolte und der neuen digitalen Technologie speiste sich eine digitale Graswurzelbewegung, die ihre eigenen Rituale und Denkmuster entwickelte. Eine heilige digitale Utopie entstand, die im Silicon Valley Hippies und „Techs“ zusammenführte. Und zu einer Art utopischem Super-Projekt verschmolz.
Ich weiß das, weil ich zeitweise selbst ein tiefgläubiger Jünger dieser Bewegung war. Mitte der 80-er Jahre kaufte ich mit einen Commodore 64, den ersten bezahlbaren Homecomputer. Im Krächzen und Zwitschern des Modems schien die ganze Welt zu einem einzigen Wirklichkeitsraum zusammenzuwachsen. Eine schöne neue Netzwerk-Welt entstand, in der alles Wissen geteilt und alles Wahre verbreitet wurde. Dachten oder vielmehr fühlten wir.
Als nach der Jahrtausendwende der Zusammenbruch des „Neuen Marktes“ die wunderbare digitale Anarchie beendete, in der tausende von kreativen Firmen an der neuen Welt bastelten, änderte sich jedoch der Kurs des digitalen Projekts. Aus Netzwerken wurden gesteuerte Plattformen, aus ikonischen Startups gigantische Konzerne. Der sogenannte „Plattformeffekt“ hinterließ schließlich vier, fünf Weltmonopole, die inzwischen machen können, was sie wollen. Und jetzt, im Durchbruch des anarchistischen Kapitalismus à la Musk, endgültig zu Manipulationsmaschinen werden.
In den Nuller Jahren Zweifel am Digitalen Mythos zu äußern, war so gut wie unmöglich. Und auch heute ist es noch schwer. Bis heute ist das Hohelied des Digitalismus Standardtext jeder Firmenbroschüre, jeder Digital-Beilage jeder Politiker- und CEO-Rede, jedes „Deutschland-ist-am-Ende-wenn-wir-nicht-sofort-alles-digitalisieren”-Kommentars in Wirtschaftszeitungen. Es ist erstaunlich, wie die klügsten und intellektuellsten Geister die Folgeschäden des Digitalen immer nur verharmlosten. Und bis heute in großen, wortschönen Kommentaren unentwegt die sozialen Medien verteidigen, als handele es sich um ein unveräußerliches Kulturgut …
Es fiel nicht weiter auf, dass die „Piraten“, eine einst hoffnungsvolle Partei, die sich die digitale Transformation auf die Fahnen geschrieben hatte, nach kurzer Zeit in schrillem Streit und Gemurmel verschwand.
Es fiel auch nicht auf, WER alles ins Silicon Valley fuhr. In den Zehner Jahren machten sich so gut wie alle CEOs großer mächtiger Konzerne zur Wallfahrt ins Valley auf. Schließlich sogar Springer-Chefredakteure, die mit Bart zurückkamen und einen ganz sonderbaren Tech-Speak verbreiteten, in dem es von Anglizismen und scheinprogressivem Geschwurbel wimmelte. Das Reaktionäre und das Revolutionäre fing an, sich auf einer ganz neuen Ebene zu vereinen.
Alle schimpften unablässig gegen die Googles und Zuckerbergs dieser Welt, gegen den ganzen Grusel und Horror und Müll, der unermüdlich aus dem Netz quoll. Und fütterten doch die Maschine unentwegt mit ihren eigenen Ängsten, Süchten, Meinungen und Erregungen.
In meiner rebellischen Jugendzeit gab es so etwas wie den „Boykott“. Damit konnte man erstaunliche Effekte gegen rücksichtslose oder machtgierige Konzerne erringen. Allerdings erforderte das auch einen gewissen Aufwand. Man musste dann auch mal auf etwas strategisch verzichten.
Dass die Digitalisierung womöglich auch deshalb so schleppend verläuft, nicht weil alle so „technikfeindlich“ sind, sondern weil es einen hartnäckigen (unbewussten) Widerstand gegen ihre „Errungenschaften“, eine Art stille Sabotage gibt, die durchaus ihre Gründe hat, kommt niemandem in den Sinn.
Die Trolligarchie
Wer hat letztlich dieses Spiel um Macht, Geld, Einfluss und Hybris gewonnen?
Es ist der Troll.
Der Troll entstand irgendwann als Randfigur aus den Subkulturen des ausgehenden 20.Jahrhunderts. Eine Mischung aus Hacker und Punk, der im Keller von Mama und Papa verharrte und nur selten nach oben kam, um Fast Food zu sich zu nehmen. Meistens litt er unter einem starken Vernachlässigungs-Syndrom bei gleichzeitigen Größenfantasien.
Wie die isländischen Trolle in den Sagen sich zu gigantischen Monstern aufblähen, wuchs der Troll im Verlauf der digitalen Expansion aus seiner Schmollhöhle heraus in einen gigantischen Aufmerksamkeitsraum. Bis er irgendwann auf dem Mars seine eigene Welt gründen wollte.
Trolle müssen ständig ihren Weltradius ausweiten, um nicht in sich zusammenzufallen. Musk ist ein Super-Troll. Trump ist ein typischer Über-Troll. Die ganze Trump-Truppe besteht aus Trolls, etwa Stephen Miller, der designierte Stabschef des Weißen Hauses. Oder Vivek Ramaswamy, der mit Musk das Department of Government Efficiency leiten wird. Ebenso wie der Spross der Kennedys, der aus der Würde einer klassischen Dynastie herausgefallen ist. Und so weiter. Und natürlich findet sich der Troll-Typus scharenweise in den europäischen Populismus-Parteien, an sein schiefes Reden haben wir uns längst gewöhnt.
Natürlich gab es Trollerei längst schon vor dem Internet. Romane und Erzählungen von Dostojewski wimmeln von Troll-Charakteren. In einer Geschichte aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „The First Troll“ in der Zeitschrift „The Atlantic“ erkannte der Autor James Parker trollische Anklänge im Werk von Thomas De Quincey, einem exzentrischen englischen Schriftsteller, der mit seinen 1821 erschienenen Memoiren über seine Sucht, „Confessions of an English Opium-Eater“, bekannt wurde.
Trollsein hat mit Drogengebrauch und Drogendealen zu tun – auch im erweiterten Sinne. Anerkennung, Reichweite, „Influence“ sind der eigentliche „Stoff“. Welches Instrument wäre dafür besser als ein Hyper-Medium, mit dem man andere Menschen verlässlich süchtig machen kann?
Siehe auch Shan Wang, The Rise of the Troll, in „The Atlantic“.
Um den Bannstrahl des Monstertrolls zu entkommen, müssen wir uns gleichzeitig von zwei Illusionen befreien: Dem heroischen „Digitalismus“ als Erlösungsmaschine, die ALLE Probleme der Menschheit lösen wird. Und der Vorstellung, dass die digitale Existenz in der Lage wäre, die Analogität unserer Existenz, unser sterbliches, fleischliches Leben zu ersetzen. Wir müssten verstehen, dass wir einem Opferkult zum Opfer gefallen sind, von dem wir uns schleunigst EMANZIPIEREN sollten. Im Sinne eines Humanistischen Futurismus, der die Zukunft aus der Perspektive des Menschlichen sieht. Und verteidigt.
Die Dritte Informationskrise
Betrachten wir das digitale Desaster noch einmal aus einer überzeitlichen „epochalen“ Perspektive.
Wir, die Menschheit, die menschliche Kultur, befinden uns heute in der DRITTEN INFORMATIONSKRISE.
- Die erste Informationskrise fand in einem Zeitraum von 8000 bis 2000 vor Christus während der Entwicklung der Schrift statt. Wogegen in der Jäger- und Sammlerkultur Wissen nur „gegenwärtig“ verbreitet werden konnte (von Mund zu Mund, Generation zu Generation), konnte man jetzt Wissen und „Content“ speichern – und monopolisieren. Schrift diente zunächst nicht primär der Kommunikation, sondern der Registratur – in der frühen agrarischen Welt hatten sich Überschüsse entwickelt, die in Handelsprozessen gezählt und verwaltet werden mussten. Der Anfang der Schrift war die Bürokratie. Aus diesen Kulturtechniken erwuchsen die „pyramidalen“ Kulturen – die Groß-Hierarchien der Zivilisationen am Euphrat und Nil. Es entwickelte sich eine Kaste von „Schriftgelehrten“, die das informelle Wissen verwaltete und den Herrschern zur Verfügung stellte.
- Die zweite Informationskrise begann mit der Erfindung des Buchdrucks um 1450. Auch hier kam es zunächst zu einer Verstärkung von Herrschafts- und Gewaltformen: Die ersten Massendruck-Erzeugnisse waren „Hetzschriften“ – Flugblätter, mit denen etwa die Hexenverbrennung angefeuert wurden. Der verheerende 30-jährige Krieg, dem ein Drittel der zentraleuropäischen Bevölkerung zum Opfer fiel, hatte eine Menge mit dem Aufkommen massenhafter religiöser Traktate zu tun, die den Konfessionskrieg anheizten. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Drucktechnik sich in der Idee der Bildung und Redaktion demokratisierte und zivilisierte.
Informationskrisen markieren immer den Übergang von der einen in die andere Epoche. Vom „Alten Normal“ in ein „Neues Normal“. Ursache für diese Transformationen sind kognitiv-kollektive Prozesse, in denen Menschen lernen, anders zu denken, zu sprechen, zu fühlen. Die Welt auf komplexere Weise in sich selbst und untereinander zu konstruieren.
- In der dritten Informationskrise, auf deren Höhepunkt wir heute zulaufen, steigern sich die informellen Prozesse in einer unfassbaren Weise. Information beschleunigt sich in einer „Echtzeitwelt“, in der alles nur im Moment erscheint. Alles ist nur noch Reiz, Impuls, Erregung – und morgen schon wieder vorbei. Diese Überbeschleunigung zerstört Wissenszusammenhänge, die „Frames“, mit denen die menschliche Kultur Wahrheit und Wirklichkeit, also Zusammenhang konstruiert. Der Horizont unserer Wahrnehmung wird gleichzeitig unendlich ausgedehnt und aufs Kleinste geschrumpft: den Klick.
Mit der Künstlichen Intelligenz lagern wir nun auch noch die Wissensproduktion an Maschinen aus. Zumindest glauben wir das. Die KI, so heißt es, sei ja unseren menschlichen Fähigkeiten überlegen. Sei „intelligenter“ als wir. Daraus entsteht eine ständige Selbstabwertung, eine Entkernung menschlicher Identität. Man hat bisweilen den Eindruck, viele Menschen könnten es gar nicht erwarten, sich selbst in Maschinen zu verwandeln, die nach berechenbaren Algorithmen funktionieren.
Unser derzeit amtierender Meta-Philosoph und Historiker Yuval Noah Harari schreibt im Vorwort seines neuen Buches „Nexus“:
„Über zehntausende von Jahren knüpften Sapiens ihre großen Netzwerke mithilfe von Fiktionen, Fantasien und Trugbildern – über Götter, Hexenbesen, KI und vieles mehr. Für sich genommen sind Menschen in der Regel daran interessiert, die Wahrheit über sich und die Welt herauszufinden, doch große Netzwerke arbeiten mit Fiktionen und Illusionen, um ihre Mitglieder an sich zu binden und für Ordnung zu sorgen. So kam es zu Nationalsozialismus und Stalinismus. Beides waren extrem mächtige Netzwerke, die durch außergewöhnlich verworrene Ideen zusammengehalten wurden. Wie George Orwell schon sagte: „Ignoranz ist Stärke“.
An diesem Punkt stehen wir heute. Wir bringen offensichtlich nicht genug „Ignoranz“ im Sinne einer kognitiven Autonomie auf, um uns gegen den Ansturm der Hypermedialität zu behaupten. Wir gehen den digitalen Sirenengesängen immer wieder auf den Leim.
Ist die Lage also hoffnungslos? Die vergangenen informellen Krisen zeigen, dass Menschen sehr wohl in der Lage sind, sich an neue Umwelten zu adaptieren. Die informelle Krise ist eine Anregung zur geistigen Evolution. Früher, in den guten alten Hippie-Zeiten hätte man gesagt: Bewusstseinserweiterung. Indem wir wieder lernen, informelle Technologien im Sinne von Komplexität und sozialem Fortschritt zu nutzen (etwa zwischen dem Digitalen und dem Analogen eine sinnvolle GRENZE ziehen), können wir die hypermediale Krise überwinden. Noch einmal Harari:
„Wir sollten nicht annehmen, dass auf Wahnvorstellungen basierende Netzwerke automatisch zum Scheitern verurteilt sind. Wenn wir aber ihren Sieg abwenden wollen, müssen wir einige Anstrengungen auf uns nehmen.“
Tun wir es also. Schalten wir ab. Ernüchtern wir uns ins Wahrhaftige. Kehren wir zurück in eine Wirklichkeit, in der die reale Beziehung zwischen Menschen Bedeutung hat. Bauen wir die innere Welt neu, damit die äußere sich wieder wandeln kann. Und der Troll sich endlich trollt.
Tristan Horx: „Danke Elon!“
Einst war ich ein Fan von Elon Musk – darauf blicke ich nun leicht beschämt und vor allem enttäuscht zurück.
Es braucht Menschen, die immer etwas zu groß träumen, um die Welt zu verändern. Leider kann eine Mischung aus Größenwahn und Kränkung einen Menschen völlig verändern. Vom Träumer zum Oligarchen, was für ein bitterer Werdegang. Vielleicht ist sein Verrücktwerden aber auch ein wichtiges Learning für uns.
So peinlich und befremdlich seine politischen Einflussnahmen doch sind, so zeigen sie uns auch sehr klar, wie grotesk soziale Medien geworden sind. Wenn Zustimmung so süchtig macht, dass der reichste Mann der Welt seinen Ruf und sein Vermächtnis dafür opfert, öffnet uns das die Augen. Es braucht die Zuspitzung, das Groteske, um es wirklich sichtbar zu machen. Die Degradierung von Twitter, zu was auch immer es jetzt geworden ist, wird ein Mahnmal für die Zukunft der sozialen Medien setzen – und das ist gut so.
Wir merken auch, wie veränderbar unsere vermeintlichen „Positionen“ doch sind. Auf einmal sind Elektroautos doch auch für die rechte „Fridays for Hubraum“-Fraktion cool. Wer hätte das gedacht! Es ging gar nicht darum, welcher Antrieb im Auto ist, sondern nur darum, GEGEN die anderen zu sein. Diese Erkenntnis könnte auch eine heilende Wirkung entfalten. Innovation ist keine Frage der politischen Couleur, wir haben uns nur in diese Denkrichtung manipulieren lassen. Auf der Suche nach unserem „Tribe“ haben wir die Rationalität völlig verloren.
Wir sollten Elon Musk dafür danken, dass er diesen Wahnsinn in aller Öffentlichkeit, Durchschaubarkeit und Peinlichkeit durchführt. Denn was hier sichtbar wird, geschieht schon lange – nur eben hinter verschlossenen Türen. Das beste Mittel gegen Korruption ist Licht, auch wenn es uns anfangs kurz blendet.