133 – Der Megatrend Dummheit

Über die Zukunfts-Intelligenz – und wie wir sie zurückgewinnen

Ich werde derzeit heftig gefragt, was eigentlich der größte Megatrend ist.
Also jene Veränderungskraft, die unsere Welt am stärksten verändert.

Noch vor vier fünf Jahren wäre die Antwort einfach gewesen. Es wäre die Digitalisierung gewesen, die alles effizient und „konnektiv“ macht. Oder die Globalisierung, die alle Wirtschaftsräume und Kulturformen zusammenbringt. Oder die Individualisierung, als stärkste soziokulturelle Idee. Der Drang, sein eigenes Leben ganz und gar in die Hand zu nehmen. Sein „eigenes Ding“ zu machen. Sich zu unterscheiden von allen anderen, aus der Masse herauszuheben, sein eigenes Selbst zu sein.

Inzwischen aber hat sich etwas gedreht. Grundlegend.
Das Wort, das mir als erstes und zunehmend einfällt, wenn ich die „gegenwärtige Weltlage“ (man könnte auch sagen: den Zeitgeist) beschreiben soll, ist: DUMMHEIT.

Natürlich kann Dummheit eigentlich kein Trend sein. Aber was ist Dummheit dann? Eine Denkweise? Eine Handlungsart? Eine Eigenschaft? Ein Charakterzug? Passt irgendwie alles nicht.

Geholfen hat mir hier ein alter Freund im Geiste. Der amerikanische Publizist (humanistische Philosoph, Kolumnist, Rat-Geber) David Brooks. Ich verfolge seine klugen Texte und Essays in der New York Times und der Zeitschrift Atlantic schon lange. Brooks schreibt immer über das, was man nur sehr schwer be-schreiben kann: Gefühle, Beziehungen, Ideen, gesellschaftliche, aber auch mentale Verhältnisse. Über alles, was mit unserer Verfasstheit als Menschen zu tun hat. Brooks Texte sind immer philosophisch UND psychologisch, in einer erwachsenen Weise spirituell, sie geben uns Halt im Chaos der Zeit, indem sie uns in eine tiefe Selbstverantwortung nehmen. Er ist einer der wenigen „Gurus“ der Selbstveränderungs-Bewegung, der einem nicht mit Standardparolen („Hey, erkenne dein inneres Selbst!“) auf die Nerven geht. Er ist, glaube ich, ein weiser Mensch, der das aber nie von sich selbst behaupten würde.

Brooks hat jetzt unter dem Titel „Die sechs Prinzipien der Dummheit“ einen Text veröffentlicht, indem er etwas sehr Kluges macht: Er trennt die Person von der Dummheit. Er schreibt:

„Ich sage nicht, dass die Mitglieder der Trump-Regierung nicht intelligent sind. Wir alle kennen Leute mit hohem IQ, die sich saudämlich verhalten. Ich glaube nicht, dass es dumme Menschen gibt, sondern nur dummes Verhalten. Wie der italienische Historiker Carlo M. Cipolla es einmal formulierte: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person dumm ist, ist unabhängig von allen anderen Eigenschaften dieser Person.“

Wenn man sich über Dummheit äußert, gerät man immer in die Gefahr, den gewaltigen Splitter im eigenen Auge zu übersehen. Das ist die Arroganz-Falle. Dumm sind immer die anderen. Die bösartigen Populisten im Stile von Alice Weidel geben schon mit ihrer Körperhaltung, ihrem ganzen Duktus, zu erkennen, dass sie alle anderen für dumm halten, sich selbst aber für die Grandiosesten unter der Sonne. Aber ist Alice Weidel dumm? Nein, sie ist schlau. Und gerade das ist das Furchtbare. Dumme Schlauheit neigt zum Mörderischen, weil sie ihr MOMENTUM auf Hass aufbaut. Siehe Putin, siehe alle Tyrannen der Welt.

Brooks schreibt weiter:

„Ich definiere Dummheit als Verhalten, bei dem die Frage ignoriert wird: „Was würde als Nächstes passieren?” Wenn jemand zu Ihnen kommt und sagt: „Ich glaube, ich werde bei einem Gewitter mit einer Kupferantenne auf dem Kopf wandern“, antwortet die Dummheit: „Das klingt nach einer wirklich tollen Idee!“ Dummheit ist die Tendenz, Dinge zu tun, die Ihnen und den Menschen um Sie herum schaden.“

Was würde als nächstes passieren? In diesem Satz kommen wir zur ZUKUNFT zurück. Er ist der Schlüsselsatz unserer humanen Existenz. Zukunft ist nämlich nicht irgendein fixer Zustand im Morgen, den man exakt ausrechnen oder „voraussagen“ kann. (Zukunft ist zwar antizipierbar, aber immer auch offen). Oder ein irgendwie utopisches GANZES, in das sich die Welt sortieren muss. ZUKUNFT entsteht durch unsere Reaktionen, unser lebendiges Sein. ZUKUNFT ist zugleich eine mentale Fähigkeit, zu erkennen, was als nächstes passieren könnte.

Unser ziemlich komplexes Hirn wurde von der Evolution genau dafür geformt: Dass wir uns die Zukunft vorstellen können, in ihren Zusammen­hängen mit Gegenwart und Vergangenheit, als Ergebnis von Handlungen, die wir beeinflussen oder selbst ausführen können. Sie ist eine innere Dimension unseres Lebens, sozusagen eine Brille, durch die wir die Welt sehen. Auch unsere Gefühle sind ja in gewisser Weise Informationen über die Zukunft – Informationen, die uns vor etwas warnen oder zu etwas hinziehen sollen.

„Die Zukunft“, also das, was wird, hängt davon ab, wie wir Zukunft „rückwirkend antizipieren“. Wir nennen das auch die REGNOSE: durch die Vor-Stellung dessen, was werden kann, können wir Rückschlüsse auf die Gegenwart und unsere Entscheidungen ziehen. Diese magische Schleife ist das, was unsere Spezies als Fähigkeit ausmacht. Das ist der Kern des Zukunftswesens Mensch – das, was uns von den Tieren unterscheidet. Und was uns zum WIR unserer Spezies befähigt: Die Fähigkeit zu Bewusstheit in der Zeit. Der „Future Mind“.

Die Dummheit, verbunden mit Aggression, Hass und Rache, mit fatalen Reaktionen auf Kränkungen, legt diese wunderbare Fähigkeit lahm. Sie sabotiert unseren Zukunfts-Sinn, der auch so etwas ist wie ein Lebens-Instinkt. Wie aber gehen wir nun mit der Dummheit um? Wie begegnen wir dem DUMMEN, ohne selbst blöd zu werden? Dazu helfen Brooks‘ sechs Prinzipien, die uns vor allem unterscheiden lernen, was Dummheit ist und was nicht:

  • Prinzip 1: Ideologie erzeugt Meinungsverschiedenheiten, aber Dummheit erzeugt Verwirrung. Wenn Dummheit die Kontrolle hat, so argumentiert Politikwissenschaftler Patrick Moreau, werden Worte „aus ihrem Bezug zur Realität“ herausgedreht. (Es geht also darum, Worte sorgfältig zu wägen, sie in ihren Bedeutungen zu erkennen und verantwortungsvoll zu nutzen).
  • Prinzip 2: Dummheit liegt oft in Organisationen, nicht in Einzelpersonen. Wenn Sie eine Organisation schaffen, in der ein Mann die ganze Macht hat und alle anderen seinen Vorurteilen schmeicheln müssen, dann ist Dummheit die Folge. Wie der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer es ausdrückte: „Dies ist praktisch ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht des einen braucht die Dummheit des anderen.“
  • Prinzip 3: Menschen, die sich dumm verhalten, sind gefährlicher als Menschen, die sich böswillig verhalten. Böse Menschen haben zumindest ein genaues Gespür für ihr eigenes Interesse, das sie zurückhalten könnte. Dummheit wagt Großes, hat aber bereits alle Antworten, und wirkt dadurch zerstörerisch (sie ist das Gegenteil von Lernfähigkeit).
  • Prinzip 4: Menschen, die sich dumm verhalten, sind sich der Dummheit ihrer Handlungen nicht bewusst. Sie haben vielleicht schon vom Dunning-Kruger-Effekt gehört, der besagt, dass inkompetente Menschen nicht die Fähigkeit haben, ihre eigene Inkompetenz zu erkennen (Kompetenz ist eine der unterschätztesten Kategorien in unserer rasenden Aufmerksamkeits-Kultur; sie ist in vieler Hinsicht das Gegengift zur Dummheit).
  • Prinzip 5: Dummheit ist fast unmöglich zu bekämpfen. Bonhoeffer bemerkt: „Gegen Dummheit sind wir wehrlos“. Weil dumme Handlungen keinen Sinn ergeben, kommen sie ausnahmslos überraschend. Bonhoeffer fährt fort: „Bei alledem ist der dumme Mensch im Gegensatz zum böswilligen Menschen äußerst selbstzufrieden und wird, da er leicht reizbar ist, gefährlich, indem er zum Angriff übergeht.“
  • Prinzip 6: Das Gegenteil von Dummheit ist nicht Intelligenz, sondern Rationalität. Der Psychologe Keith Stanovich definiert Rationalität als die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die Menschen helfen, ihre Ziele zu erreichen. Menschen, die im Griff der populistischen Denkweise sind, neigen dazu, Erfahrung, Besonnenheit und Fachwissen, hilfreiche Bestandteile der Rationalität, zu verachten. Sie leben nicht in einem strukturierten Gedankengebäude, sondern in einem Rave-Party-Chaos von Vorurteilen.

In diesen sechs Prinzipien liegt auch eine bittere Wahrheit, ein Schmerz: Wir sind gegenüber der Dummheit weitgehend ohnmächtig. Alle Versuche, sie direkt zu bekämpfen, sie „anzugehen“, scheitern, weil sie in einer Art Echosystem das Dumme nur verstärken. Da die Dummheit auf Kränkungen beharrt, zieht sie ihre Legitimation immer aus moralischen Bösartigkeiten. Auch die brave Grundidee, dass „mehr Bildung“ hilft, hat sich als Illusion herausgestellt: Die „Gebildetsten“ sind of von grandioser Dummheit erfüllt, weil sie glauben, alles zu wissen. Die Dummheit stellt uns eine Falle: Je mehr wir sie bekämpfen, desto stärker wird sie. Sie MÄSTET sich geradezu mit klugen Vorwürfen und Wertungen. Wenn sie kritisiert wird, läuft sie erst richtig zur Form auf – das haben wir im Aufstieg des dummen Populismus erlebt.

Um aus dieser Paradoxie herauszukommen, müssen wir die Kräfte, die die Dummheit um sich herum mobilisiert, irgendwie austricksen. Und uns selbst aus der Angstzone bringen. Das funktioniert leider nicht mit Klugheit oder Vernunft. Dagegen ist die Dummheit immun wie der Krebs gegen die Kräfte des Immunsystems (das ist ja gerade ihr Trick: Sie speist sich auf negative Weise aus der Klugheit). Am ehesten hilft noch der Humor – eine zugewandte Ironie – die alles, was die Dummheit bierernst nimmt (Dummheit hat keinen Humor, nur Grölen), nicht so ernst nimmt.

Und vielleicht brauchen wir als Zaubermittel auch wieder so etwas wie Naivität. Radikale Naivität. Wie bitte? Naivität ist etwas, das der Welt mit einer grundlegenden Bejahung vorbehaltlos gegenübertritt. Naivität ist eine genuine Freundlichkeit und Offenheit, wie Kinder sie in ihren besten Wachstumsphasen haben. Naivität ist auf eine gewisse Weise die Verteidigung einer besseren Zukunft. Gegen diese Kraft ist die Dummheit machtlos, weil sie sie nicht manipulieren kann. Nützliche Illusionen sind hier hilfreich.

Versuchen wir’s einmal: Die Welt ist besser, als wir es in unserem von der Dummheit deprimierten MIND vormachen. Wir können sie besser machen. Jeden Tag, immerzu. Denn die Welt ist das, zu dem wir in Bezug stehen. Wer das nicht glaubt, bleibt dumm.