135 – Die Neokratie

Warum sich die Demokratie gerade zerlegt.
Und sich gleichzeitig neu erfindet.

Matthias Horx, Februar 2025

Wir stecken in einer Art emotionaler, relationaler und spiritueller Krise, und das ist die Ursache unserer politischen Dysfunktion und der allgemeinen Krise unserer Demokratie. Was geht hier vor sich?
David Brooks, „How America got mean”
The Atlantic

Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.
Antonio Gramsci, ital. Politiker (1891-1937)

Hat die Demokratie noch eine Zukunft? Das fragen wir uns heute alle. Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis der Hasspopulismus alle europäischen Länder übernommen hat? Die Verfassung zersägt und ein weltweites Imperium des Bösen errichtet, mit Trump und Putin an der Spitze und grölenden Massen als Hasstreiber?

Wird die Zivilisations-Geschichte wieder auf ihren hässlichen, mörderischen Kurs zurückfallen? Auf den Kurs der Tyrannei, Unterdrückung und der Kriege?
Ist der nächste Faschismus unvermeidbar?

Bei solchen Fragen besteht die Gefahr der Angst-Komplizenschaft. Man starrt in einer Art Trance auf eine Wand, auf der nur die Bilder von Faschismus, KZ und Weltenbrand flackern. Angst verblendet uns, macht uns blind für die Komplexität und den Wandel der Welt. Sie macht uns irgendwann zu Komplizen des Gefürchteten. Self-fulfilling prophecy …

Meine These:
Die Demokratie as we knew it, ist tatsächlich am Ende.
Aber das ist nicht das Ende der Demokratie.
Im Gegenteil.

Demokratie, revisited

Was IST eigentlich Demokratie? Eines ist sie eben nicht: die „Herrschaft des Volkes“. Als solche aber wird sie immer gerne missverstanden. Und im Hassdiskurs des Populismus umgedeutet.
Ein „Volk“ setzt immer eine Einheitlichkeit voraus. Eine „Identität“, die sich machtmäßig manipulieren lässt. Der Volksbegriff schließt aus und konstruiert Feinde, um ein hermetisches „WIR“ stabilisieren zu können. Genau DAGEGEN wurde die moderne Demokratie unter langen Kämpfen entwickelt: als Methode, die Gesellschaft vor zu viel Machtwillen und Formungsmacht zu schützen.

Ein Kern der Demokratie ist das Repräsentationsprinzip. Durch die Wahl leihen wir unsere Stimme bestimmten Personen. Aber in einer echten Demokratie verpflichten wir unsere Repräsentanten nicht nur auf unsere eigenen Interessen. Sondern auch auf etwas Höheres: „das Gemeinwohl“. Demokratie bedarf also einer Abstraktionsleistung vom „Ich“ zum „Wir“, von den eigenen Interessen und Nöten zu den gemeinsamen Zielen. Und sie benötigt eine Zukunfts-Dimension: Der Wohlstand der Gesellschaft soll erhalten werden, etwas Besseres soll entstehen. Fortschritt. Das ist die Aufgabe der Demokratie: Sie konstruiert mit den Mitteln der Politik Wandlungsprozesse, und dafür braucht sie eine Idee der Zukunft, des Besseren FÜR ALLE.
Demokratie setzt allerdings Dinge voraus, die sie von sich selbst aus nicht garantieren kann:

  • Eine gewisse Distanz zwischen „Masse und Macht“ (Repräsentationsprinzip).
  • Ein grundlegendes Vertrauen in diejenigen, denen wir unsere Stimme leihen – auch in diejenigen, die wir NICHT gewählt haben, also in die Opposition.
  • Konfliktstrategien, die sich entlang bestimmter Formen bewegen (Diskurs, Argument, Reversibilität).
  • Die Akzeptanz von regelnden Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren.
  • Ein Maßhalten mit den eigenen Ansprüchen.
  • Respekt vor dem Mehrheitsprinzip UND dem gleichzeitigen Schutz der Minderheiten.
  • Begrenzung des Einflusses wirtschaftlicher Machtinteressen auf die Politik (Korruptionsgesetze).

Heute scheinen alle diese Grundlagen in Gefahr zu sein. Dabei wird eine grundsätzliche Paradoxie der Demokratie freigelegt: Demokratische Strukturen sind dazu geschaffen, Macht ständig so zu zerlegen, zu zersplittern, zu relativieren, dass nie Endgültiges oder Irreversibles entsteht. Das Wort „Gewaltenteilung“ bringt es auf den Punkt. Demokratie ist im Grunde eine Organisation von Machtlosigkeit. Wenn sich die Zeiten jedoch ändern – wenn Drängendes entsteht, Bedrohliches, Kränkendes – wächst das Bedürfnis nach Macht, die bedingungslos agieren, also „durchgreifen“ kann. Die Sehnsucht nach der Faust, die alles regelt, wird über-mächtig.

Das Fortschritts-Paradox

Um zu verstehen was Fortschritt eigentlich ist, müssen wir uns ein wenig mit der Spieltheorie beschäftigen. Die Gesellschaft ist nichts anderes als ein Ergebnis von Billionen und Aberbillionen von „Spielen“, Interaktionen, die zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen und der Natur ablaufen. Es gibt drei Sorten: Win-Win-Spiele, Nullsummenspiele und Minussummenspiele. Letztere sind Interaktionen mit negativen Folgen für beide Seiten (schlechte Scheidungen, Kriege). Bei Nullsummenspielen gewinnt nur der eine, der andere verliert (Trumps Lieblingsspiele).

Win-Win-Spiele sind die Basis des Fortschritts. Durch Interaktionen zwischen den verschiedenen Gruppen, Interessen und Individuen entstehen bei diesen mehr Vorteile FÜR ALLE. Eine Art Nettogewinn. Das geschieht in fairen Märkten, intelligenter Kooperation, in der Liebe, in der Kunst, die etwas bewegt.

Durch Win-Win-Spiele wird der Möglichkeitsraum der Gesellschaft erweitert, was zu neuen Freiheiten führt. Die Geschichte des Fortschritts ist genau das: Immer mehr Menschen kamen in den Genuss von Bildung (das Spiel des Wissens), Gesundheit, Verwirklichungs-Chancen, Sicherheiten und Optionen, ihr eigenes Leben zu gestalten. Dadurch entsteht eine komplexe, von Millionen von Interaktionen zusammengehaltene Struktur von Wechselwirkungen. Ab einem gewissen Punkt dieses Spiels entstehen allerdings Komplexitätsüberschüsse, die zu Paradoxien führen, die nicht mehr ohne Weiteres aufgelöst werden können.

Nehmen wir die Migrationsfrage. Unser industrieller Wohlstand basiert weitgehend auf Wanderungen. Schon immer haben sich arme Menschen aus der Armuts-Sesshaftigkeit auf den Weg gemacht, um ihre Arbeitskraft in der Fremde zu verkaufen (in der Vormoderne wurden sie versklavt). Das war weitgehend ein Win-Win-Spiel, weil Menschen aus dem Elend entfliehen konnten, und die Ankommenden den vorhandenen Wohlstand mehrten. Im Mittelalter trieb es Ethnien und Kulturen quer über den Kontinent, die sich irgendwann niederließen und mit Fleiß und Geschick neue Möglichkeiten schufen. Das Ruhrgebiet wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Menschen aus dem Osten Europas besiedelt, die heute die Bevölkerung bilden. In deutschen Krankenhäusern arbeiten heute alle Nationalitäten der Erde. Die Integrationsprozesse sind oft hart, kulturelle Reibungen sind unvermeidlich. Aber das ist das Erfolgsgeheimnis des modernen Wohlstands: Das Spielfeld der Wirtschaft, der Kultur, wird erweitert. Mehr Komplexität ist möglich.

Die Kontexte von „Migration“ haben sich in den Globalisierungsschüben der letzten Jahrzehnte jedoch stark verändert. Die weltweite Mobilität ist gestiegen, durch den Flugverkehr und die globalen Medien, die die Verlockungen des Wohlstands in die ganze Welt tragen. Warum sollten arme Menschen NICHT versuchen, Chancen in anderen Ländern zu suchen? Nun wird Migration auch noch von Diktatoren funktionalisiert – als Waffe zur Destabilisierung der Demokratien. Die Möglichkeit von Asyl in wohlhabenden Ländern ist für jeden Diktator eine Carte blanche, ein gutes Instrument, die Opposition loszuwerden.

Die offene Gesellschaft stößt nun auf ein moralisches Dilemma. Sie braucht neue Arbeitskräfte, aber viele Menschen fühlen sich in den Modernisierungsschüben benachteiligt. Es gibt sozusagen zweimal Flüchtlinge: Die von Außen, die nach Teilhabe und Lebenschancen suchen. Und die von innen, die vor den Anforderungen der modernen Gesellschaft in Wut-Enklaven flüchten. So entsteht ein Dilemma, eine Spannung, die irgendwann Verrücktheit und Verbrechen erzeugt.

Wie kann man diesen Konflikt lösen? Wenn man ehrlich ist: Gar nicht. Jedenfalls nicht endgültig. Auch wenn man versucht, nur die „guten“ Migranten zu selektieren, wird man keinen endgültigen Erfolg haben. Migrationsgesellschaften entwickeln immer auch kulturelle Konflikte, Reibungen, die produktiv wie destruktiv sein können. Man kann den Konflikt nur so gut wie möglich einhegen, ausbalancieren, und ja doch: verwalten. Aber genau das kann in einer Erregungs- und Anspruchskultur nicht mehr akzeptiert werden. Kompromisse? Abwägungen? Unmöglich!

„Wenn es ein Signum der heutigen Kultur gibt, dann ist es ohne Zweifel die exponentielle Ausweitung der Sprecherpositionen.“ schreibt der Soziologe Armin Nassehi in seinem Buch „Das große Nein“ (S. 37). Heute kann sich jede Gruppe, Lobby, Pressure-group in einer hypermedialen Öffentlichkeit lautstark zu Wort melden, um ihre eigenen (egoistischen) Interessen einzuklagen. Jeder hat zu allem eine Meinung, und diese Meinung wird ständig medial verstärkt, bis sie zu einem einzigen brüllenden NEIN geworden ist.

„Der Hass, den die Menschen gegenüber Privilegien empfinden, wächst im Verhältnis zur Abnahme dieser Privilegien, so dass die demokratischen Leidenschaften am heftigsten zu lodern scheinen, wenn sie am wenigsten Brennmaterial haben.”
Der französische Publizist und Politiker Alexis de Toqueville, 1855, über das Demokratie-Paradox

Der Deliverismus oder die Erwartungskrise

Die heutige Krise der Demokratie ist vor allem eine Erwartungskrise. Der Soziologe Andreas Reckwitz führt in seinem Buch „Verlust: Ein Grundproblem der Moderne“ aus, wie moderne Wohlstandsgesellschaften immer weniger mit Verlusten umgehen können, die aber gerade in Wohlstandsgesellschaften unvermeidlich sind. Wohlstandszuwachs führt zu einem Schaukeleffekt: Je höher der Wohlstand steigt, desto höher werden ja die Ansprüche an Ungestörtheit, Perfektion, Komfortabilität. Gleichzeitig wachsen die Ängste vor Verlusten aller Art immer steiler in die Höhe.

„Die Politik muss endlich liefern !!!“ ist der meistgehörte Satz in allen Talkshows, Kommentaren und Stammtischen der Republik. In der angelsächsischen Politikdebatte nennt man das „Deliverismus“: Politiker geraten in eine Art Zwangsspirale, und der Bürger wird immer mehr zum Konsumenten, der jedes „Paket“ zurückschickt, weil es ihm irgendwie nicht gefällt. Politiker sitzen in einer Anspruchsspirale: MÜSSEN immer höhere Versprechen machen, um überhaupt noch kommunikativ durchzudringen. Sie müssen ständig den Einsatz erhöhen, aber gerade dadurch werden sie immer angreifbarer. Viele Interviews, die Journalisten heute mit Politikern führen, ähneln einem Verhör: Was haben Sie versprochen? Wann werden Sie liefern? Ist das etwa genug? So ging man früher mit Dienstboten um. Mit Subalternen.

Erwartungsexpansion

In der modernen Gesellschaft beziehen sich Verlusterfahrungen nicht allein auf das, was man im Verhältnis zur Vergangenheit verloren hat, sondern sie betreffen in erheblichem Umfang auch den Raum der Zukunftserwartungen. Damit tut sich ein weites Feld zusätzlicher Möglichkeiten dessen auf, was alles als Verlust beklagt werden kann. Dass sich in hohem Ausmaß positive Zukunftserwartungen mit Blick auf die Ökonomie, die Politik, die Techni und die subjektive Lebensführung ausbilden, ist ein Resultat der Institutionalisierung des Fortschrittimperativs. In der modernen Gesellschaft findet so eine Erwartungexpansion historisch ungewöhnlichen Ausmaßes statt. Erwartungen haben jedoch grundsätzlich die Eigenschaft, enttäuschungsanfällig zu sein. Wenn solche Erwartungenttäuschungen sich akkumulieren und verfestigen, dann sich die Erfahrung eines grundsätzlichen Verlusts der Zukunftshoffnungen einstellen, die man hegte: ein Zukunftsverlust. Je höher die Erwartungen steigen, umso größer wird die Verlustaffinität. Wie wir bereits gesehen haben, sind für die moderne Erwartungsexpansion drei Elemente charakteristisch, die zusammengenommen die Möglichkeit von Verlustwahrnehmungen potenzieren.

Der deutsche Philosoph Odo Marquard hat einmal das „Fahrstuhlproblem“ beschrieben. „Während wir in Sachen Komfort, Wohlstand, Sicherheit immer weiter nach oben fahren, scheint die Welt nach unten, ins Prekäre durchzusacken.“ Dahinter steht die „Prospect Theory“ – die Erwartungstheorie. Der Grenznutzen von Wohlstands-Zuwächsen nimmt ständig ab. Die Unzufriedenheit steigt paradox ins Bodenlose. Alles wird zu einem Abwärtsvergleich. Alles wird immer schlechter, weil es noch viel besser hätte werden müssen! Unser Erwartungssystem ignoriert die Errungenschaften und übertreibt maßlos die Defizite. Aus diesem tiefen Fass speisen sich die Strudel und Ströme des Wutpopulismus.

Worte, die uns fehlen

Populisten sind Meister der Wortverdrehung. Gestern war Freiheit noch ein Hoffnungsbegriff. Heute ist Freiheit plötzlich die Möglichkeit, jede Unverschämtheit, Gemeinheit und Gewaltandrohung zu platzieren. Aus Energieanlagen, die uns helfen können, den Planeten nicht zu überhitzen, werden „Windmühlen der Schande“.
Flood the area with shit.

Gleichzeitig fehlen uns Worte, die uns helfen könnten, eine Gelassenheit des Wandels zu bewahren. So sind zum Beispiel zwei Vokabeln weitgehend aus dem demokratischen Diskurs verschwunden:
REFORM
und
EMANZIPATION

Der Begriff Reform handelt von der Idee der graduellen Veränderbarkeit der Dinge – der schrittweisen Verbesserung, die nicht absolut sein kann, aber auch nicht sein muss, denn es handelt sich ja um einen andauernden Prozess. Parteien warben früher mit „Reformprogrammen“, und das machte Appetit auf das Bessere. Heute bringt der Begriff nur müdes Hohnlachen hervor. Lieber gleich Revolution! Disruption! Umsturz! Weg damit!

Echte Veränderung vollzieht sich jedoch immer in kleinen, rückgekoppelten Schritten. Eine Art Wandel-Tanz. Der Soziologe Armin Nassehi formulierte das in seinem bereits erwähnten Buch „Das große Nein“ so:

„Am Beispiel des Wandels der Geschlechtertoleranzen kann man sehen, dass Neues, Ungewohntes, Transformatives sich nicht disruptiv durchsetzt, sondern evolutionär. Es muss sich bewähren können. Restabilisieren, seinen Überraschungswert verlieren können, normalisieren.“

In den 70ern und 80er Jahren, der Zeitspanne des Aufbruchs, wurden viele Gesetze reformiert: Vom Familienrecht über das Erbschaftsrecht bis zum Scheidungsrecht. Die Legislative hörte der Gesellschaft und ihrem Wandel zu. Und formte daraus neue Regeln, die wiederum die Gesellschaft von innen heraus veränderten.

Ähnlich funktioniert(e) das Wort Emanzipation. Bei diesem eleganten Begriff ging es um Befreiung von alten Zwängen, Normen, Rollenbildern. Aber emanzipieren kann und muss man sich nicht nur VON etwas, sondern auch ZU etwas. Zur Freiheit gehört auch ein Selbst-Wandel, bei dem wir in eine neue Verantwortung, eine neue Größe hineinwachsen. Genau diese positive Doppelbedeutung machte den Begriff so romantisch, so wirkmächtig. Diese Emotion handelte von einer Geschichte des inneren Aufstiegs.

Heute hat das Opferdenken weitgehend den Emanzipationsgedanken ersetzt. Jeder beschwert sich nur noch über seine Unterdrückung, seine Defizite, die immer nur von außen kommen. Alle sind nur passive Opfer von „Denen Da Oben“. Oder „den Eliten“. Niemand scheint mehr einen Anteil an sich selbst zu haben. Political Correctness fordert Regeln ein, die einen schützen sollen, aber den Respekt gleichzeitig in ein neues Norm-Verhältnis zwingen. Doch wenn etwas zur Norm gezwungen wird, kann es sich eben nicht in der gelebten Erfahrung normalisieren.

Das aus dem Lot geratene Spiel zwischen Freiheit und Verantwortung findet sich in den heutigen politischen Parolen wieder. Nehmen wir den „Bürokratieabbau“. Dieses Wort, dass so süffig klingt, hat fatale Nebenwirkungen. Es führt dazu, dass man Verwaltungen, Institutionen, Regelsysteme, als Ganzes abwertet. Nicht nur, dass das Millionen von Mitarbeitern in Behörden zu Parias und Taugenichtsen erklärt – ganz im Sinne von Elon Musks Abschaffungs-Furor. Es ignoriert auch, dass wir als Bürger mitverantwortlich für das sind, was wir da beklagen.

„Bürokratien“ entstehen nicht, weil sich „Staatsdiener“ oder „Bürokraten in Brüssel“ neue Folterwerkzeuge zur Knechtung der Bürger ausdenken. „Bürokratie“ ist das Ergebnis zahlloser Einwände und Widersprüche, die Konflikte regeln und verrechtlichen sollen. Der Nachbar will den Baum des Nachbarn fällen lassen – und fordert neue Regelungen. Der Verein zur Erhaltung des deutschen Gartenzwerges fordert eine Norm für Zipfelmützen gegen chinesische Importe – und so fort. Rund um die Uhr werden neue Regelungen, Vergütungen, Ausnahmen gefordert, von juristisch bis an die Zähne bewaffneten Lobbys.
It‘s the society, stupid!

Nehmen wir als Beispiel die Bauernrevolten in vielen europäischen Ländern. Es brannten die Barrikaden, weil ein Teil der Bauern militant gegen „die staatliche Bürokratie“ polemisierte. Vorwiegend ging es um die Berichtspflicht bei Tierhaltungen, die Registrierung von Krankheiten, Antibiotikagaben, Gülleverklappungen. Oder um Rückhalteflächen für ökologische Vielfalt. All das war ein Versuch, die wiederkehrenden grausigen Exzesse bei der Tierhaltung einzudämmen. Die Behörden hatten sich für Berichtspflichten entschieden, weil sie nicht mit Polizei und Strafbefehlen in die Bauernhöfe einmarschieren wollten.

Man kann das falsch finden – wahrscheinlich ist der harte Weg über Verbote, Kontrollen und Strafen, am Ende doch der Richtige. Aber in einer lebendigen Demokratie sollte es eine Grundregel geben: Wer gegen Institutionen argumentiert, sollte zumindest die Probleme, die sie zu lösen versuchen, anerkennen. Zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Gemeingut existiert eine Spannung, mit der Behörden umgehen müssen. Bürokratie ist eben auch ein Teil von Lösungen – es kommt darauf an, sie elegant zu gestalten.

Der Parteien-Schwurbel

Eine Grundform der Demokratie fasst sich in der „Partei“. Parteien repräsentieren Ideen der sozialen Organisation. Sie bilden Erkenntnis – und Interessensräume, in denen sich Gestaltungsformen der Zukunft entwickeln lassen.

Allerdings scheint dieser Formungsprozess nicht mehr gut zu funktionieren. Wenn man die Parteivertreter in den Talkshows beobachtet, merkt man schnell, dass etwas nicht mehr stimmt. Alle reden unentwegt durcheinander, und man hat den Eindruck, dass sie oft nicht wissen, was sie sagen sollen. Es herrscht eine seltsame Art von Konfusion, in der unentwegt alte Parolen und „Stanzen“ wiederholt werden, die irgendwie nicht mehr zueinander und in die Zeit passen.

Die alten politischen Narrative der Industriegesellschaft sind auserzählt – aber sie rattern unaufhörlich weiter. Ungerechtigkeit muss weg. Die Reichen sollen mehr besteuert werden. Preise müssen runter. Der „kleine Mann“ hat immer recht. Die Wirtschaft muss beschleunigt und befreit werden. All diese Forderungen wirken im Grunde hilflos, unterkomplex. Natürlich kann man eine Vermögenssteuer für Superreiche einführen. Aber würde das tatsächlich die erhoffte Veränderung bringen? Ist die (angebliche) Superkrise der Wirtschaft wirklich „gelöst“, wenn wieder alle im Stil der alten Malocher-Gesellschaft arbeiten? Mit den Denkweisen und Methoden der Vergangenheit schießt man auf die Gegenwart – und verhindert so die Zukunft.

Unser politisches Achsen-System ist auf eine veraltete Weise binär geblieben. Das Links-Rechts-Schema ist nach der Sitzordnung des französischen Parlaments nach der Revolution von 1789 geformt. In den Klassengesellschaften des aufsteigenden Industrialismus hatte das Wechselspiel zwischen Rechts und Links seine Berechtigung, es führte zu einer komplexen Evolution. Wir erinnern uns:
Links = Umverteilung, Kontrolle der Wirtschaft, Starker Staat.
Rechts = Ordnungsbetonung, kultureller Konservativismus, Wirtschaftsorientierung.

Heute sind Rechte anarchistisch-rebellisch und wollen zusammen mit hyperlibertären Clowns den Staat abschaffen. Linke wirken dagegen bisweilen als hätten sie einen Dauerschlips an. Man spricht auch vom „Hufeisensyndrom“: Es gibt inzwischen rechte Linksparteien und illiberale Liberalparteien. Und ständig kommen neue bizarre Kombinationen dazu:
* Anarchistischer Kapitalismus (Elon Musk)
* Kollektiver Egoismus (ein Wort von Bernd Ulrich, DIE ZEIT).
* Liberaler Autoritarismus.
* Wie wäre es mit Demokratischem Faschismus?
Was machen wir mit dieser Verschwurbelung der politischen Grenzlinien? Ich schlage vor, wir verschwurbeln erstmal richtig, statt hektisch in die alten Frontlinien und Schützengräben zurück zu flüchten.

Ich fühle mich inzwischen als eine Art Multiwähler. Ich finde eigentlich alle Parteien des demokratischen Bogens gut. Ich finde Sozialdemokratie wichtig – eine Balancekraft zwischen Wirtschaft und Staat. Aber auch die Grünen, die mit ihrem Naturverhältnis einen wichtigen Punkt markieren. Die Konservativen sind unabdingbar, weil sie auf Bewahrungen beharren, auf Kontinuitäten, die wir brauchen. Auch die Liberalen sind unverzichtbar, denn ohne Freiheit kann nichts werden.

All das sind legitime Perspektiven, die man auf die Gesellschaft haben kann. Falsch werden sie erst, wenn man sie aufs Ausschließliche verengt. Gesellschaft ist eben mehr als Wirtschaft. Gerechtigkeit mehr als Umverteilung. Ökologie mehr als Konsumverzicht.

In den USA boomt die Wirtschaft. Aber die Gesellschaft scheint sich ins Unglück zu verkriechen. Und die Demokratie zerfällt.
Das alte Denken wirkt nicht mehr in die Zukunft hinein.
Die Politik hat ihre Poesie verloren.

Manchmal wünsche ich mir so etwas wie eine Multipartei. Nein, nicht EINHEITSpartei. Sondern eine VIELFALTS-Partei, die das Widersprüchliche im Sinne der Zukunft VERBINDEN kann: Das Ökonomische mit dem Ökologischen. Das Liberale mit dem Sozialen. Das Wirtschaftliche mit dem Kulturellen. Das Fortschrittliche mit dem Bewahrenden. Das Autonome mit dem Verbindenden. War Politik nicht immer dann stabil und erfolgreich, wenn sie genau das fertigbrachte?
Was wäre, wenn es nur noch ZWEI Sorten von Politik gäbe:
Konstruktive Politik
und
Destruktive Politik.

Destruktive Politik sucht nach den Schnittstellen. Und versucht sie für Spaltungen zu nutzen.
Konstruktive Politik achtet die Teilmengen. Sie versucht, das Gemeinsame zu erweitern.

Destruktive Politik arbeitet nur mit dem DAGEGEN.
Konstruktive Politik betont das DAFÜR.
Destruktive Politik treibt durch Entweder-oder-Logik Keile in die Gesellschaft.
Konstruktive Politik funktioniert im Sowohl-als-auch Modus.
Destruktive Politik stellt immerzu nur die Machtfrage, im Sinne der MachtERGREIFUNG.

Grafik: Konstruktive Politik - Destruktive Politik© Horx Future GmbH

Konstruktive Politik sieht Politik als Raum des Zusammenwirkens.
Eine neue Aufteilung des Parteienspektrums müsste sozusagen den Emotionsgrad berücksichtigen, mit dem eine Partei im Kommunikations- und Diskursraum agiert. Etwa so (finden Sie Ihre eigenen Positionierungen):

Next Democracy

Hat die Demokratie „in dieser Welt“ überhaupt noch irgendeine Zukunft?

Zunächst sollten wir ihre Widerstandsfähigkeit nicht unterschätzen. In einer Studie zur Autokratisierung hat ein englisches Wissenschaftler-Team herausgefunden, dass die Drift von Demokratien in autoritäre Verhältnisse in den wenigsten Fällen dauerhaft ist. Vielmehr bewegt sich die Entwicklung in einer Art Schleife. Die Wissenschaftler schreiben:

„Unsere Analyse bietet einen systematischen empirischen Überblick über Muster und Entwicklungen von „demokratischen Rückfällen”. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass 52 % aller Autokratisierungs-Episoden zu U-Turns werden, was sich auf 73 % erhöht, wenn man sich auf die letzten 30 Jahre konzentriert. Die überwiegende Mehrheit der Kehrtwenden (90 %) führt jedoch zu einer Wiederherstellung oder sogar Verbesserung der Demokratie… Die Autokratisierungs-Episoden dauerten im Durchschnitt nur 2,5 Jahre, gefolgt von einer 2,5-jährigen Stillstands-Periode, die in einer Re-Demokratisierung endeten; nach durchschnittlich weiteren drei Jahren standen die Länder höher im Demokratie-Ranking des World Democracy Index als vor der Autokratisierung.

Marina Nord, Fabio Angiolillo. Martin Lundstedt. Felix Wiebrecht. Staffan I. Lindberg: When autocratization is reversed: episodes of U-Turns since 1900
https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/13510347.2024.2448742

Vor lauter Trump-Panik und AfD/FPÖ-Getöse nehmen wir solche demokratische Erholungen kaum wahr. Dass in Sambia und auf den Malediven autoritäre Regimes wieder abtraten, in Bangladesh eine Despotie auf glückliche Weise beendet wurde, das ist weit weg. Dass in Slowenien und Dänemark radikale Nationalisten die Wahl verloren, in Polen sich das Liberale regeneriert oder dass Brasilien seinen populistischen Tyrannen abschüttelte, bleibt in unserem überhitzten Wahrnehmungssystem weitgehend unbemerkt. Auch die erstaunliche Wende in Syrien verbuchen wir irgendwie nicht auf der positiven Seite – ist alles zu schrecklich und zu kompliziert. Auf diese Weise sind wir dem Populismus auf den Leim gekrochen, der uns suggeriert, unbesiegbar und unaufhaltbar zu sein.

Um die Zukunft der Demokratie zu verstehen, müssen wir „von vorne“ denken lernen: Aus der möglichen Zukunft heraus, in der sich Demokratien bewähren, indem sie sich verwandeln. Wovon können wir uns dabei inspirieren lassen?

  1. Das Schweiz-Prinzip
    Das demokratische System der Schweiz ist nicht am Reißbrett entworfen worden, sondern hat sich in harten Konflikten entwickelt; es ist ein Beispiel für „Evolution durch Krisen“. Das Schweizer Demokratiemodell basiert auf einer Macht-Schichtung, die der lokalen Ebene die höchste Verfügungsmacht zuweist – die Kantone haben sogar weitgehende Steuersouveränität. Der eigentliche Nationalstaat erscheint schwach, wie ein Verwaltungs-Konsortium. Aber das macht gerade seine Stärke aus: Die direkte Demokratie ist äußerst talentiert darin, gesellschaftliche Konflikte zu verarbeiten, indem sie diese zur Abstimmung stellt. Es ist ein Bottom-Up-Feedback-System, das sich selbst stabilisiert.

    Schweizer Behörden arbeiten sparsam, aber effektiv – der Bürger ist tatsächlich Kunde, und benimmt sich auch so. Im Zentrum der Schweizer Regierungsform liegt das sogenannte „Konkordatssystem“. ALLE gewählten Parteien stellen die Regierung. Das dämpft den Polarisierungseffekt. In diesen Strukturen entsteht eine stabilisierende Rückkoppelung: Wer langfristig an der Macht bleiben will, der teilt sie.

  2. Expertenregierungen
    Politiker ist ein Spezialberuf, der heute eigentlich niemandem mehr zuzumuten ist – als Politiker wird man meistens nur verachtet, verhört und schließlich undankbar vom Hof verjagt. Auffällig ist, dass Regierungen – etwa in Frankreich und Österreich – in denen statt Politikern Fach-Experten saßen, viel weniger Verachtung und mehr Anerkennung erfuhren.

    Expertenregierungen werden einberufen, wenn das Land aufgrund unmöglicher Mehrheit vorübergehend unregierbar wird. Könnte daraus auch ein „Normalbetrieb“ werden? Wie viel negative Energie könnte sich die Demokratie ersparen, wenn die Teilnehmer nicht im Raum der moralischen Erregung, sondern entlang von Kompetenzen und Erfahrungen argumentieren ließen? Vielleicht könnte für Expertenpolitiker sogar ein globaler „Markt“ entstehen, ähnlich wie der für Fußballtrainer … Mario Draghi for Germany!

  3. Buntkoalitionen
    In Benelux und in immer mehr kleinen Ländern sitzen zehn bis zwölf Parteien im Parlament. Das macht Koalitionsgespräche zu einem langwierigen Projekt.
    In Belgien merkte in den Jahren 2019 – 2022 niemand, dass sich gar keine Regierung mehr bildete. Das Land funktionierte trotzdem.
    Was sagt uns das? Hat Unregierbarkeit womöglich irgendwelche Vorteile?
    In vielen Ländern kommen immer mehr „Sonderparteien“ ins Parlament: Tierparteien, Piratenparteien, Behindertenparteien, Parteien für die Einführung alltäglicher Meditation, Witzparteien… Vielleicht wird es in dieser interessensbasierten Vielfalt sogar wieder leichter, die notwendigen Kompromisse und Verständigungen zu finden. Man konkurriert ja nicht um Ideologien, sondern um Interessen. Zwischen diesen ist ein pragmatischer Kompromiss womöglich einfacher zu finden. Eine ähnlich disziplinierende Funktion können auch Minderheitenregierungen haben.
  4. Herz-Jesu-Politik
    Die ständige Dauerforderung an die Politik lautet, dass sie sich „kümmern“ muss. Sie soll die Menschen „abholen“ (was im Kontext rechtsradikaler Rhetorik etwas Gruseliges hat). In einigen Städten Österreichs regieren seit Jahren „kommunistische“ Parteien, die sich auf den Kern eines historisch gewachsenen Linkskatholizismus beziehen. Hier herrscht der Segen der praktischen Barmherzigkeit: Ständig werden von der Stadtregierung Altersheime besucht, Behindertenorganisationen gelobt, Gemeindebauten mit milden Gaben bedacht, Hilfsaktionen für Arme gestartet. Die Politik übernimmt die Aufgaben der Kirche von früher. Das schafft womöglich mehr Raum für die Zivilgesellschaft, die nicht mehr durch Lager-Wahlkämpfe und ideologische Kämpfe zerrissen wird. Könnte man sich eine solche Care-Demokratie als eine neue Form des Sozialstaats vorstellen?
  5. Kybernetische Demokratien
    Die CDU kann mit den Grünen außenpolitisch. Aber sonst überhaupt nicht. Die Linken hassen die Liberalen, obwohl sie in vielen Bereichen liberal denken. Die Liberalen liebäugeln mit den woken Minderheiten, aber nicht mit dem Wokismus. Die SPD glaubt, die beste Partei von allen zu sein, weil sie die „Gerechtigkeit“ avisiert. Aber Gerechtigkeit ist ein Schwammbegriff, der sich mit allen möglichen Forderungen und Erregungen aufladen lässt.

    Wäre ein politisches Sortiersystem möglich, mit dem man Wahlmotive „stapeln“ kann, etwa indem man bei einer Wahl Punkte verteilen oder direkt bestimmte „Issues“ abstimmen kann, anstatt Parteien zu wählen, mit denen man nur zu maximal 30 Prozent übereinstimmt? Hier wäre eine sinnvolle Aufgabe für die Künstliche Intelligenz: Sie könnte dabei helfen, unsere politische Intelligenz zu verbessern, indem sie den Political Mind strukturiert. Auf digitalem Wege könnte man eine echte Interessens-Demokratie entwickeln. Basisdemokratisch digital. Allerdings würden wir dabei schnell auf die Erkenntnis stoßen, dass unsere Wünsche paradox sind: Wir wollen, wenn wir ehrlich sind, immer genau DAS. Und gleichzeitig genau das Gegenteil …

  6. Neoparteien
    Es hat in den letzten Jahrzehnten einige Versuche gegeben, das Rechts-Links-Schema zu überwinden. Durch Bewegungsparteien wie die Piraten oder die „Fünf Sterne“ in Italien, die ziemlich schnell an ihrer eigenen Chaotik scheiterten. Im Norden entwickelten sich die „Moderaten“ als Brückenparteien zwischen den Flügeln. Sind neue Parteien wie VOLT (die erste transeuropäische Partei) oder die NEOS (Österreich) als neo-neoliberale Partei die Lösung? Vielleicht. Vielleicht aber muss das Parteiensystem erst einmal vollständig demontiert werden, bevor etwas wirklich Neues entstehen kann.

Der Nordic Code

Und dann gibt es im Norden Europas noch jene Länder, die sich gegenüber dem populistischen Megashitstorm als erstaunlich robust erweisen. Was machte den „Nordischen Code“ so attraktiv?

  • Ein kräftig ausgebauter Sozialstaat, der ständig weiterentwickelt und reformiert wird.
  • Eine hohe Integration der Frauen auch in die wirtschaftlichen Hierarchien und die Politik.
  • Ein Individualismus, der sozial rückgekoppelt ist, verbunden mit einer liberalen Grundhaltung gegenüber Lebensstilen und Lebensverhältnissen.
  • Eine hochtechnisierte Wirtschaft, die Produktivitätsfortschritte generiert, die die hohen Löhne kompensieren können.
  • Eine sehr aktive Zivilgesellschaft, die ihre Wurzeln in alten Gemeinde-Strukturen und Bildungs-Systemen hat.

Natürlich gibt es Rechtspopulismus auch in den Nordländern. Aber er erreicht irgendwie nicht den Kern der Demokratie. Auf die populistische Herausforderung reagierten die Skandi-Länder mit einer Art pragmatischer Gummi-Strategie. Zum Beispiel die Migrations-Politik der dänischen Sozialdemokraten, die eine konsequente Law-and-Order-Ausländerpolitik durchsetzte, ohne den Kern von Weltoffenheit und Toleranz zu beschädigen. Heute sind die Wahlanteile der Rechtsradikalen in Dänemark kräftig geschrumpft, und die Brüllerei im Parlament wirkt irgendwie von gestern. Die Dänen einigten sich auf vielerlei Klimaschutzgesetze, unter anderem auf eine CO2-Steuer für die Landwirtschaft. Der Anteil erneuerbarer Energie liegt bei 83 Prozent. Klimaschutz wird nicht spaltend betrieben, sondern „entdeckungsvergnügt, smart, elegant“ (DIE ZEIT vom 13. 2. 2025, „Klimaschutz in gut gelaunt“). In der Filmserie „Borgen“ wird der Hintergrund dieser Entwicklung in den Nuller Jahren nachgezeichnet, als die dänischen Rechten plötzlich sehr stark wurden, weil das dänische Toleranzsystem aus dem Ruder geriet. Toleranz, so die schmerzliche Erkenntnis, öffnet auch allen möglichen Entgrenzungen und Missbräuchen Tür und Tor. Wer darauf nicht reagiert, verliert das politische Spiel.

Diese Erkenntnis hat Skandinavien auch in seine Sozialsysteme eingebaut. Staatliche Versorgungssysteme sind durch private Systeme ergänzt, die aber wiederum staatlich reguliert werden. Sozialmissbrauch wird systemisch bekämpft, und niemand bezweifelt, dass es diesen gibt. So ist etwa der Kündigungsschutz fast gleich null, so dass den Unternehmen viel Freiheit bleibt, Mitarbeiter zu entlassen. Allerdings geraten die Entlassenen sofort in ein „Bouncing Net“ des Sozialstaats, das auf massiven Förderungen und einer üppigen Umschulungsbranche basiert.

Das Grundmodell der skandinavischen Gesellschaft ist auf einem verantworteten Individualismus aufgebaut, der den Bürger nicht nur einfach machen lässt, sondern ihn auch in die Pflicht nimmt. Opfergejammer ist unbeliebt. Der Zauber des „Nordic Code“ liegt in der virtuosen Verbindung zwischen gesellschaftlicher, staatlicher und wirtschaftlicher Sphäre. Einem gesellschaftlichen Meta-Design, das die Paradoxien der modernen Welt ständig in neue dynamische Gleichgewichte adaptiert.

The Listening Society

Einer der wenigen utopischen Ansätze der Demokratie hat auch hier, in Skandinavien, seinen Ursprung: Die Coaching-Gesellschaft. Oder auch: „The Listening Society“. Die Gesellschaft des Zuhörens.

Im Rahmen des METAMODERNISMUS – einer neuen historischen Philosophie, die derzeit in einem weltweiten Netzwerk intellektueller Vorwärtsdenker entwickelt wird – handelt es sich um den Versuch, die nächste Stufe der demokratischen Wohlstands-Gesellschaft Demokratie vorzudenken. Als neues Element einer Zukunfts-Gesellschaft vertritt dieses Modell die Idee eines „human upgrading“. Ziel ist es, mehr Selbstkompetenz bei den Individuen zu schaffen, und die Individualisierung als soziale Kompetenz-Anforderung zu verstehen. Zitat:

  • Jeder sollte die Möglichkeit haben, während des Heranwachsens mit einem freundlichen, zuhörenden professionellen Therapeuten über seine Lebensziele und seine Zukunftsbilder zu sprechen.
  • Jeder sollte lernen, sowohl Achtsamkeits-Training wie auch Meditations-Techniken zu lernen, um besser mit Stress umgehen und mit seinen eigenen Emotionen in Kontakt zu kommen.
  • Jeder sollte von klein auf gutes Fitnesstraining bekommen, damit er mit einem guten Körperbewusstsein, einem positiven Körperbild, und mit gesunden Gewohnheiten heranwächst.
  • Jeder sollte in Dialog und Argument geschult werden und die Chance bekommen, an öffentlichen Debatten oder Beratungen teilzunehmen.
  • Jeder sollte Hilfe bekommen, um mit der Angst vor dem Tod umzugehen und den harten Tatsachen des Lebens ins Auge blicken zu können – um uns dabei zu helfen, zu erkennen, dass unsere Zeit hier kostbar ist.

metamoderna.org/the-listening-society-possible-and-necessary

Natürlich kann man eine solche Vision leicht mit Kostenargumenten oder Elite-Vorwürfen niederkartätschen. Aber auf diese Weise wurde auch in der Vergangenheit das heutige Sozialsystem für unmöglich erklärt. Im Grunde geht es um die Erkenntnis, dass wir für eine bessere Gesellschaft, für die Demokratie der Zukunft, selbst-kompetentere Menschen brauchen. Eigentlich handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Bildungsgedankens im ganzheitlichen Sinne: Wenn tatsächlich die menschlichen Kooperationsfähigkeiten der Schlüssel zum Wohlstand der Zukunft sind, wäre dieses Modell der logische nächste evolutionäre Schritt einer „vorsorglichen Demokratie“. Hanzi Freinacht, der Avatar des Metamodernismus, schreibt in „The Listening Society: Possible and Necessary“:

„Was in unserer Zeit fehlt, ist die Fähigkeit der Menschen, komplexe Probleme zu bewältigen, die Geduld, Wissen, Übersicht, Kreativität, gegenseitiges Vertrauen und freundliche Zusammenarbeit über Sektoren, wissenschaftliche Disziplinen, Kulturen und Subkulturen hinweg erfordern. Mit einem Wort: das Management der Komplexität.“
„What is lacking in our day and age is the ability for peo¬ple to manage complex problems that require patience, knowledge, over¬sight, creativity, mutual trust and friendly co-operation across sectors, scientific disciplines, cultures and subcultures. In a phrase: the management of complexity.“

metamoderna.org/the-listening-society-possible-and-necessary

Die Multikratien der Zukunft

Der Begriff Demokratie geht auf die Silbe „kratia“ = Regel zurück. Menschliche Gemeinschaften werden sich IMMER Regeln geben. Welche Varianten zeichnen sich ab? Hier noch einige Vorschläge:

  • Olchokratie: Pöbelherrschaft, Dominanz der Wütenden.
  • Lottokratie: Eine Demokratie, in der Verantwortungspositionen auch verlost werden, nach dem Vorbild der antiken Demokratien.
  • Gerontokratie: Die Übermacht der Alten und Verbitterten.
  • Herokratie: Eine Kultur, die in einer heroischen Phase steckengeblieben ist, ihre Helden vergöttert und dafür ihre Gegenwart opfert (Beispiel: Kuba).
  • Domokratie: Wir ziehen uns ins Haus, ins private Glück zurück, und lassen das Gemeinwohl hinter uns.
  • Gynaeokracy: Frauenherrschaft.
  • Kakistrokratie: Eine Gesellschaft des Krawalls, der Streits, aber auch der chaotischen Stabilisierung (Beispiel: Italien).
  • Pseudokratie: Für bestimmte Gesellschaftsformen eignen sich die klassischen Streit-Demokratien des Westens eher nicht. Das „Modell Singapur“ verbindet legislative und exekutive Strenge mit einer hohen multikulturellen Toleranz. Die arabischen Länder wie Saudi-Arabien oder VAR praktizieren eine Mischung aus Feudalstaat und (ökonomisch begründeter) Toleranz. Auch DAS ist ein Teil der demokratischen Evolution, auch wenn es vorerst noch auf einem Heer von Billigarbeitern in einem Semi-Sklavenstatus beruht.

Und dann gibt es noch eine Sonderform, die uns in den nächsten Jahren besonders beschäftigen wird:

Die Bullykratie!

Der Blogger-Ökonom Adam Tooze, hat einen wunderbaren Begriff für einen Politikstil gefunden, der sich derzeit von Westen kommend ausbreitet: Bullying. Der „Bully“, der Klassenschläger, der Gangster-Typ mit dem größten Maul, der geringsten emotionalen Intelligenz und dem schlechtesten Karma wird zum Staatschef gewählt. Seine Methode ist das Schikanieren, Erpressen und Bedrohen. Diese Methode wird von einer relativen Mehrheit der Bevölkerung bewundert und unterstützt. Weil sie erfolgversprechend erscheint.
Tooze schreibt:

„Was macht BULLYING zu einer besonderen Regierungsform? BULLYING ist nicht dasselbe wie Autoritarismus, Tyrannei, Diktatur oder Unterdrückung. BULLYING beinhaltet den Einsatz von Macht zur Demütigung sowie zur Einschüchterung, Verletzung oder Nötigung. BULLYING ist grenzüberschreitend und exzessiv. Es geht über herkömmliche Polizeistrategien, Bestrafung oder Zwang hinaus und ist dennoch weniger. Es ist weniger zielgerichtet und instrumentell als andere Machtformen. Letztendlich kann das wiederholte Herbeiführen von Demütigungen ein Selbstzweck sein. BULLYING ist gewalttätig, aber es ist nicht das Verhalten eines Meisters oder Helden.”

Tooze zitiert Hegel, der den Kampf zwischen Herr und Knecht als „Kampf zum Tode“ definiert. Beide brauchen die Anerkennung des anderen, sie sind existentiell in dieses Bedürfnis verstrickt. Es gewinnt immer derjenige, der bereit ist, seine volle Existenz zu riskieren, während der, der das Leben wählt, zum Leibeigenen/Sklaven wird. Dieses Verhältnis ist allerdings instabil. In dem Moment, in dem er in seinem Streben nach Anerkennung auch nur einen Moment nachlässt, wird der Tyrann zum Opfer einer möglichen Wendung, die unweigerlich zum Sturz führt. Shakespeare lässt grüßen.
Tooze schreibt weiter:

„Bullying kann als eine degenerierte Form dieser Dialektik betrachtet werden. Es kann die Form eines frustrierten Sklaven annehmen, der seine Mitmenschen schikaniert, ohne die grundlegende Hierarchie in Frage zu stellen. Oder es kann sich um einen gelangweilten und sadistischen Meister handeln, der den Moment der Unterwerfung nur simuliert, weil er die wirkliche Macht als Verantwortung scheut. In beiden Formen ist Bullying gewalttätig und dramatisch, aber es bringt den historischen Prozess nicht voran. Bullying schafft keine neue Ordnung, sondern schlägt nur um sich, bedroht und zerstört bestehende Dinge. In diesem Sinne ist Bullying eine sekundäre Machtform.“

Machen wir uns nichts vor: Wir werden in den nächsten Jahren durch ein dunkles Tal der Demokratie gehen. Was uns in den kommenden harten Zeiten trösten kann, ist, dass die Herrschaft solcher Gang-Mobs meistens kurzlebig ist. Die Bullys und ihre Adjutanten stolpern meistens schnell über die Schuhsenkel ihres Größenwahnes. Im Bullyismus kann viel passieren, sich aber nichts stabilisieren. Ein gutes Beispiel ist der englische Anti-Europa-Tory-Populismus, der sich mit dem Brexit selbst zersägte. Kann sich noch jemand an Boris Johnson erinnern?

Was können wir tun, um diese dunkle Zeit nicht nur zu überstehen? Ich schlage ein „Doing Future“ vor. Ein Handeln im Sinne der Zukunft. Das setzt voraus, dass wir uns aus dem Angst- und Streit-Diskurs verabschieden. Früher nannte man das „Aussteigen“, heute scheint das wieder nötig zu sein. Üben wir Demokratie von unten her, machen wir sie lebendig: In der Familie, in den Unternehmen, in der Schönheit kreativer Prozesse, in Netzwerken von Freundlichkeit und praktizierter Zuneigung. Lernen wir, konstruktiv zu sein, mit uns selbst und anderen. Unsere Gemeinsamkeiten besser zu schätzen, unsere Unterschiede zu preisen und unsere Ansprüche zu moderieren. Lang lebe die Demokratie der Zukunft!

Kleines Wörterbuch des metamodernen Demokratiediskurses

Reaktionärer Modernismus

Jeffrey Herf, ein amerikanischer Historiker, hat die Kombination aus kapitalistischem Radikalismus und gesellschaftlichem Konservatismus bereits im Jahre 1981 als reactionary modernism bezeichnet. Es geht, so Herf, um einen „grenzenlosen Enthusiasmus für die Möglichkeiten der Technologie“ und eine gleichzeitige Infragestellung der Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft. In diesem Muster lässt sich auch die Janusköpfigkeit des Nationalsozialismus verstehen. Heute kann man reaktionären Modernismus schlüssig auf die Klammerung zwischen der republikanischen Antiwoke-Rhetorik und dem Musk’schen „Wir fliegen zum Mars – wer braucht dafür schon Bürokratie?“- Größenwahn verstehen. (Jeffrey Herf, „Reactionary Modernism: Technology, Culture and Politics in Weimar an the Third Reich”).

Opfernationalismus

Der koreanische Historiker Jie-Hyun Lim prägte diesen Begriff durch sein gleichnamiges Buch im Jahr 2024. Lim beschreibt damit die vielfältigen Formen aggressiv entgleisender nationaler Identitätsbildungen, die auf historische Demütigungen zurückgehen. Die polnische Nationalbewegung wurde erst durch die mehrfache Teilung des Landes im Verlauf europäischer Kriege provoziert. Israel und die Ukraine sind Beispiele, wie die Opfererfahrung zum entscheidenden Baustein der Nationenbildung werden kann. Mag die nationale Identität vor dem russischen Überfall fragwürdig gewesen sein – in Putins brutalen Angriffs-Krieg ist sie mit Sicherheit entstanden. Gefährlich wird Opfernationalismus, wenn die Opferrolle auf Dauer gestellt wird – oder nur polemisch erfunden wird, wie es Donald Trump tut, der die USA von allen Seiten, vor allem von Europa, ausgenutzt und ausgeplündert sieht. (Jens Jessen, „DIE ZEIT”)

Der polit-thermostatische Effekt

Politikwissenschaftler und -statistiker sprechen gern von thermostatischen Effekten in der öffentlichen Meinung. Die Reaktionen auf Obamas und Bidens Amtszeiten sind gute Beispiele dafür. Die Stimmung in der Öffentlichkeit verschob sich gegen die Agenda des Präsidenten, während die Regierung „zu links“ erfunden wurde, stellten viele Menschen den inneren Thermostaten auf eine antiliberalere Einstellung um. Umgekehrt driftet die Stimmung bei als rechts empfundenen Regierungen wieder in die andere Richtung. Das Ermüdende und gleichzeitig Gefährliche an diesem Spiel ist die Hochschaukelung, die schließlich zu einem „Überkippen“ der Demokratie führt. Die Meta-Politik der nächsten Epoche wird diese Links-Rechts-Schaukel zugunsten einer höheren Ebene überwinden müssen.

Die Rechtsruck-Illusion

Gegen den thermostatischen Effekt wirkt allerdings auch eine Gegenkraft: Während das Rechte sein Momentum bekommt, gruppieren sich die Mentalitäten neu entlang von Polarisierungs-Achsen. Frauen werden in Zeiten reaktionärer Initiativen eher linker/moralischer, während Männer rechter/aggressiver werden. Dieser Haltungsaustausch ist mit einer Diskrepanz zwischen unbewussten und bewussten Motiven zu verstehen: Während einige Frauen sich von reaktionären Bewegungen die Wiederherstellung „sicherer“ weiblicher Rollen versprechen, fühlen andere sich in ihrer Identität bedroht. Männer wiederum sind in den Emanzipationsbewegungen zwar unter Rollendruck geraten, haben aber durchaus auch Vorteile genossen. Die misogynen Cliquen, die sich heute in der Politik ausbreiten, haben also keineswegs alle Männer hinter sich.

www.zeit.de/gesellschaft

Änderismus

Der „Änderismus“ ist die Vorstellung, dass Wandel nur durch einen totalen Bruch mit der Gegenwart herzustellen wäre, ist für das überreizte Gehirn von großer Faszination. Allerdings erweist sich die Formel, dass sich „ALLES“ ändern könnte, und immer MUSS! auch als eine existentielle Drohung, die vielfältige Widerstände auslöst. Wer behauptet, dass sich ALLES ändern lässt, verspielt die graduellen Veränderungen, die möglich sind.

Wir stecken in einer Art emotionaler, relationaler und spiritueller Krise, und das ist die Ursache unserer politischen Dysfunktion und der allgemeinen Krise unserer Demokratie. Was geht hier vor sich?
David Brooks, „How America got mean”
The Atlantic