139 – Das große Trotzdem

Wie wir mit dem Schrecklichen der Welt anders umgehen können als mit befürchten, jammern und verzweifeln.

Matthias Horx, April 2025

Ich werde derzeit oft gefragt, wie wir aus diesem tiefen Loch der Weltverzweiflung herauskommen, in das wir spätestens „seit Trump und Co.“ gefallen sind. Es stimmt ja: Die Welt ist zum Verzweifeln. Aber wie oft kann man das Düstere, Drohende, Hoffnungslose, das Disruptive der Geschichte noch beschwören? Wie lange wollen wir noch mit diesem selbstmitleidigen „Die-Welt-ist-Am Ende“-Hundeblick durch die Gegend schleichen?
Oder wie ein ZEIT-Leserbriefschreiber es neulich formulierte: „Wie lange noch wollen wir uns von einer Dumpfbirne herumschubsen lassen?”

Ich schlage vor, einen ganz bestimmten Trotz zu entwickeln.
Einen Trotz, der unsere Würde wahren kann.
Trotz hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Er gilt als Ausdruck von Unerwachsenheit, Verweigerung, unreifem Egoismus. Aber das Wort hat einen ganz anderen Ursprung: Im Mittelhochdeutschen stand tra(t)z oder tru(t)z für Herausforderung oder auch Unerschrockenheit, Mut, Standhaftigkeit. Auch für Schutz, Fürsorge, Stolz. Davon zeugen alte Redewendungen wie Trutz bieten oder Trutzburg.

Trotz gilt der Selbsterhaltung und ist zugleich eine Frage nach den eigenen Fähigkeiten. Man möchte über sich selbst hinauswachsen, traut es sich aber noch nicht zu. Deshalb geht man in eine Verweigerungshaltung, die einen Freiraum bietet, kann es aber noch nicht ganz. So testet man sein Weltverhältnis. Trotz „wächst sich aus“, wenn wir in eine andere Phase unseres Lebens wechseln.
Mit einer bestimmten Art von Trotz kann man die Welt aus den Angeln heben (wer Kinder hat oder eine erfolgreiche Rebellion erlebte, kennt sich da aus).

Punks sind trotz oder gerade wegen ihrer Trotzigkeit im Grunde freundliche, sogar charmante Leute. Sie möchten mit ihren Widrigkeiten angenommen werden. Deshalb bleiben sie im Noch-nicht-da-sein. Wie eigentlich auch die Wähler von Trump und AfD.
Der Trotz führt uns zunächst ins TROTZDEM – in die Erkenntnis, dass die Welt andere Seiten hat. Dass man die Dinge aus mehreren Perspektiven sehen kann. Eine besonders spannende Sichtweise ist die Perspektive aus der Zukunft auf die Gegenwart.

Das Trotzdem der Demokratie

Die Demokratie ist am Ende. Sie wird von einer dunklen Allianz von Wutbereiten, Tyrannen, Hetzern und Hypernarzissten Stück für Stück demontiert. Ein Land nach dem anderen fällt der tyrannischen Bösartigkeit zum Opfer, bis alle Länder Diktaturen sind. Aller Widerstand scheint diese dunklen Kräfte nur stärker zu machen. Jeder Protest scheint das Monster nur weiter zu füttern. Wenn man den Trumps dieser Welt irgendeine Schweinerei vorwirft, reagieren sie mit einem Grinsen. Wenn man den Bösartigen ihre Bösartigkeit vorhält, sagen sie: Genauso sind wir, allerdings! Und prompt werden sie noch mehr gewählt und bejubelt.

In dieser aussichtslosen Narration haben wir uns komfortabel leidend eingerichtet. Wir sind geradezu süchtig danach. In der Verhaltenspsychologie nennt man das eine Hyperfixierung: Wir sind so fixiert auf die dystopische Erzählung, dass wir gar nicht mehr von ihr lassen können. Wir können die Welt gar nicht mehr anders denken als im Fatalen.
Drehen wir die Perspektive einmal um. Wagen wir eine Gegen-Erzählung.

Man nennt diesen Prozess auch RE-GNOSE. Bei PROGNOSEN bewegen wir uns mental immer an einer einmal festgestellten Tendenz, entlang dessen, was wir schon zu wissen glauben, ohne zu verstehen, dass die Entwicklungen immer widersprüchlich und paradoxial verlaufen. In einer Re-Gnose nehmen wir mit einer Zukunft Kontakt auf, die uns überrascht.

Die Demokratie wird sich in dieser Krise TROTZDEM durchsetzen. Gerade WEIL sie in Gefahr ist, wird sie sich neu erfinden.
Zum Beispiel Großbritannien. Der Brexit war ein erster Triumph eines national-autokratischen Wutanfalls. Die meisten dachten, dass die Demokratie im Mutterland der Demokratie damit erledigt sei. Heute finden 70 Prozent der Briten, dass der Brexit ein Fehler war. Ein Sozialdemokrat ist Premier, und Boris Johnson gilt inzwischen eher als Clown, an den man sich eher mit ironischem Kopfschütteln erinnert. „Wen haben wir da nur gut gefunden?“ Typisch englisch.
Das heißt nicht, dass die Briten bald wieder in die EU eintreten (oder dass der populistische Spuk völlig vorbei ist). Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Vielleicht gibt es ganz andere Wege.


Autokratische Populisten haben die Tendenz, sich selbst zu zersägen. They are pathologically self-destructive. Zu Dauerdiktatoren oder totalitären Führern entwickeln sie sich nur unter ganz besonderen historischen Umständen, in der langwirkende Abhängigkeiten und Traumata zu einer gesellschaftlichen Regression geführt haben. Wie in Russland oder Nordkorea.

Den etwa zehn Demokratien, die in den letzten Jahren in Richtung Autokratie gedriftet sind, stehen rund zehn Demokratien gegenüber, die sich nach einer populistischen Phase wieder gefangen haben. Brasilien fand aus dem Bolsonaro-Hype zurück in seine südamerikanische Normalität. Polen befreite sich aus dem rechtsreaktionären Programm wieder in Richtung auf eine liberale Demokratie. Andere Länder wie Indonesien, Thailand oder Sambia, das inzwischen von einer Frau regierte Sri Lanka, die ebenfalls durch einen autokratischen Zyklus gegangen sind, aber sich re-demokratisieren, nehmen wir gar nicht erst auf der Landkarte wahr. Hat irgendjemand etwas von den Verhältnissen in Kolumbien oder der stabilen Demokratie in Uruguay gehört? Hat irgend jemand davon gehört, dass in Slowenien nach einer ziemlich finsteren Rechtsregierung eine liberal gewendete grüne Partei in einem Wahlkampf von nur 100 Tagen die Mehrheit bekam – und seit 2022 den Ministerpräsidenten stellt? Nein, Slowenien ist zu klein.


Schon kommt das massive ABER. Sind das nicht Ausnahmen, schwache Rettungsanker? Ist nicht in Russland und Israel und Ungarn und im übermächtigen Amerika alles vollkommen hoffnungslos? Steigt nicht die AfD dauernd in den Umfragen?

So dreht sich alles immer im Kreis. Unsere Selbstverängstigung führt uns am Nasenring durch die Manege. Unser demokratischer Fatalismus ist in sich selbst fatal. Er hilft den Populisten, die mit unserer Hilflosigkeit spielen. Und macht uns blind für das Wesen der Welt, in der das Eine stets auch das Andere erzeugt.
Trend macht Gegentrend.
Gegentrend macht neuen Gegentrend.
Momentum erzeugt Gegen-Momentum …
Die Welt bleibt nicht stehen. Auch nicht im Dunklen.

Es gibt ein recht gutes Modell für die Demontage der Demokratie, das Drift-to-Danger-Modell des Psychologen Ralph Hertwig, der Erkenntnisse aus der Reaktor-Risiko-Forschung auf den Zerfall von Demokratien übertrug.
(Siehe z.B. www.spektrum.de)

Das Modell schildert, wie die Erosion der Demokratie durch immer mehr kleine Regelüberschreitungen entsteht, wie in einem Reaktor, bei dem man nach und nach die Kühlkreisläufe aus Kostengründen ausbaut, die Kontrollräume verkleinert, das Personal abzieht. Ähnliches können wir derzeit tatsächlich in manchen Ländern der Welt beobachten.

Aber TROTZDEM – oder gerade, weil – die Demokratie unter Druck ist, wird sie sich regenerieren. Sie entstand nicht, weil ein paar Intellektuelle irgendwann beschlossen haben, etwas Idealistisches zu erfinden, und dabei leider danebenlagen. Demokratie ist das Resultat einer langen gesellschaftlichen Evolution. Sie entstand in vielen Kämpfen, weil Gesellschaften immer wieder mit dem Phänomen der Macht-Verselbstständigung konfrontiert waren. Weil Gesellschaften immer komplexer wurden, und dafür neue Regelsysteme fanden.

Allerdings müssen wir wissen: Das Alte Normal kommt nicht zurück. So wie es war, kann das System Demokratie nicht bleiben. Demokratie as we knew it, ist an eine Grenze geraten, an der sie mit ihren inneren Widersprüchen nicht mehr zurechtkommt.

Wir brauchen ein Upgrade. Wie könnte eine Demokratie aussehen, die sich selbst besser stabilisieren kann? Die lebendiger ist und gleichzeitig konstruktiver? Die mit Paradoxien klüger, geschickter, integraler umgeht? Darüber sollten wir nachdenken, nein vordenken, anstatt uns immer nur zu fürchten.

(Siehe dazu auch Kolumne #135: Die Neokratie).

Das Trotzdem der Ökologie

Der Planet ist kaputt. Die Natur am Ende. Kurz vor dem Kollaps. Die Welt ist am Sterben. So höre ich es immer wieder, von Journalisten, Aktivisten, Fachleuten, Experten, von lieben, besorgten Menschen, die auch meine Freunde sind.

Die aber meistens keine Ahnung von der Natur haben. Sondern nur ein sehr vages romantisches Verhältnis zu ihr.
Ich kenne einen Astronauten, einen freundlichen, ausgeglichenen Menschen, der voller Sorge und Zuneigung zu unserem Planeten ist, den er viele Male umrundet hat. Mit einem feinen Lächeln sagt er: „Wenn Du da draußen warst, und dieses Juwel gesehen hat, weißt du: Es ist fragil, aber gleichzeitig unglaublich robust. Ständig basteln Organismen daran herum. Unsere Erde wird noch viele Millionen Jahre blau, rund und schön sein. Ob wir‘s glauben oder nicht.“

Die postfossile Wende ist in vollem Gange, TROTZDEM (oder gerade, weil) so viele die Klimakrise ignorieren, beschimpfen oder sogar für „illegal“ erklären. Seit drei, vier Jahren explodieren die Zuwachs-Raten der erneuerbaren Energien in alle Richtungen. Die Kapazitäten von Wind- und Sonnenenergie verdoppeln sich heute alle zwei Jahre. Neue Batterietechniken entstehen im Monatsabstand. Neue Verfahren, natürliche Energie zu gewinnen, zu speichern, umzuformen, werden rund um die Uhr entwickelt. Die Erwartungen der IPCC, des Weltklimarates an den Energiewandel, sind in einigen Parametern bereits übertroffen. Heiße These: Wir gewinnen den Kampf um die Zukunft des Planeten TROTZ des fossilen Backlashs. Kennen wir das nicht auch aus anderen menschlichen Bereichen? Kurz bevor sich etwas Neues durchsetzt, gibt es noch einmal einen Trotzeffekt. Ein Zucken des Alten. Dann kommt das Neue aber doch. Es hat sich längst schon, latent, auf dem Weg durch habituelle Veränderungen und Wertewandel, durchgesetzt.
Kennen wir das nicht von den Trotzanfällen unserer Kinder? Oder unseren eigenen?

ember-engergy.org
rmi.org/reality-check
www.spiegel.de/wissenschaft
www.iea.org/reports

Das Trotzdem der Globalisierung

Wird Trump, nachdem er den Welthandel zerstört hat, den Welthandel zerstört haben? Ist die Globalisierung dann „kaputt“? Natürlich nicht. Wie die Demokratie und die Natur ist auch der Welthandel ein meta-adaptives Phänomen. Meta-adaptive, oder metakomplexe Systeme, passen sich schnell an neue Bedingungen an und folgen den evolutionären Netzwerk-Gesetzen: Wo Verbindungen gekappt werden, entstehen schnell neue.

In der nächsten Phase der Globalisierung werden die Container immer mehr zwischen Tansania, Thailand, Kanada und Indonesien hin- und hergeschoben. Wäre das so schlecht? Den Containern folgen die Ideen. Den Waren folgen die Kulturformen. Es ist kein Zufall, dass die Blüten der menschlichen Zivilisation sich mit dem offenen Handel öffneten, und durch Abschottungen immer das Gegenteil entstand. Es ist normal, dass überall wo es Handel gibt, auch Piraten und Halsabschneider ihr Unwesen treiben. Es ist auch kein Zufall, dass das Prinzip des Kolonialismus – Auspressung, Aneignung, Unterwerfung – historisch gescheitert ist. Schon lange.

Die Globalisierung ist am Ende? Vielleicht ist sie auch mitten in einem neuen Beginn. Das dabei entstehende Chaos verursacht jede Menge Stress. Es weist uns aber auch auf falsche Abhängigkeiten hin, die wir jetzt bereinigen müssen. Das ist schmerzhaft, weil es uns, wie so vieles dieser Tage, auch auf unsere eigenen Illusionen hinweist.

Der europäische Frühling

„Die Weltordnung, in die wir hineingewachsen sind, zerfällt.“ (Joschka Fischer in einer Talkshow). Das lässt sich nicht leugnen und nicht relativieren. Es erzeugt eine notwendige Trauer. Wir verabschieden uns von einer Phase des Friedens und eines scheinbar endlosen Fortschritts, den wir unser ganzes Leben lang genießen durften.

Trauer ist ein schmerzender Abschied vom Gewohnten, Erwarteten. Und als solcher ein sehr menschlicher, heilender Prozess.
Hinter der Trauer beginnt immer ein neuer Möglichkeitsraum.
Zum Beispiel Europa. Europa war viele Jahre eher ein politischer punching ball, ein Spielball für schlechte Laune und politische Unterstellungen. Alle haben sich an Europa abgearbeitet, Linke, Rechte, Liberale. Immer war dort die Wurzel des Übels verortet, bei „den Bürokraten in Brüssel“. Das war der ganz normale Anti-Europa-Populismus, den sogar wir Progressiven mitmachten.

Dass uns Europa in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Vorteile in einem freien Leben gebracht hat, offene Grenzen, großartige Kulturprojekte, eine gemeinsame Währung, weitgehend haltbare ökologische Standards (die auf nationaler Ebene garantiert gescheitert wären) – wer konnte das schon würdigen?

Jetzt ändern sich plötzlich die Sichtweisen. Wir entdecken plötzlich das Kostbare an Europa. Auch das Notwendige. Wir begreifen plötzlich, langsam, die Erzählung dieses Kontinents. Eine Erzählung der Überwindung von Polaritäten. Eine Suche nach den Balancen einer komplexen Gesellschaft, die Freiheit UND Verbindlichkeit sucht.

Ich spiele mit dem Gedanken, der Partei VOLT beizutreten. Der einzigen kompletten Europa-Partei. Die politische Grundidee von Volt besteht in Überwindung der Rechts/Links-Lagerlogik durch eine Politik der best practices. Statt sich wie die Kesselflicker über überkommene Ideologismen zu streiten, orientiert man sich an dem, was wirklich funktioniert. Zum Beispiel das Rentensystem Schwedens. Die rückgekoppelte Demokratiepolitik der Schweiz. Das Bildungssystem Finnlands. Die italienische Küche (kleiner Scherz). Politik als Synthese. Als Osmose des Möglichen.
Das geht nicht?
Das kann nichts werden?
Warum eigentlich nicht?
Das ist viel zu schwierig, zu komplex?
Das wird niemals perfekt.
Eben darum!

Die zwei Zukunfts-Denkweisen

Es gibt grundsätzlich zwei Arten und Weisen, die Welt und die Zukunft zu konstruieren. Das Nullsummen-Denken. Und das Win-Win-Denken. Beides hat mit unserem Weltgefühl zu tun, unserer inneren Konstellation. Es handelt sich um einen fundamentalen mindset, mit der wir nicht nur Informationen verarbeiten, Positionen entwickeln. Sondern auch unser Verhalten steuern.

In der Nullsummen-Logik betrachten wir die Welt als einen begrenzten, knappen Raum, in dem jede Interaktion immer nur EINEN Gewinner kennen kann. Wenn ich/wir gewinnen, verliert der/die anderen. Und umgekehrt. Hier gibt es nur oben und unten, es geht letztlich darum, zu herrschen oder beherrscht zu werden. Das ist das Trump-Denken. Das Squid-Game-Denken. Das Paranoia-Denken. Nazi-Denken. Eine Art falsch verstandener „Darwinismus“, der keine Entwicklung, keine Veränderung zulässt, die von Dauer sein kann. Alles besteht nur aus Kampf, der alle Energien verbraucht.
Darwin, der seine Evolutionstheorie vor allem an der Beobachtung von Kooperations- und Adaptionsformen der Natur entwickelte, würde sich im Grab umdrehen.

Im Win-Win-Modus gehen wir davon aus, dass das Spiel der Welt gegenseitige Vorteils-Prozesse auslösen kann. Win-Win-Spiele, oder Interaktionen, erzeugen einen Überschuss, ein Surplus, der das Möglichkeitsfeld der Welt generell erweitert. Das Ergebnis ist größer als die Summe seiner Teile. Es entsteht ein Überschuss, der der ins WEITER führt.

Wer im Win-Win-Modus ist, dessen Hirn funktioniert anders als jemand, der sich im Nullsummen-System befindet. Nullsummen-Menschen befinden sich ständig im Alarmmodus, was man schon an der leicht brüllenden oder nörgelndenden Stimme erkennt. An der ständigen Kampfbereitschaft. Auch Frauen können in diesem Modus sein, neigen aber weniger dazu.

Das Win-Win-Denken basiert auf dem Grundrohstoff des Vertrauens. Empathie spielt dabei eine Rolle, aber auch eine Selbstwirksamkeit, die nicht nur von Angst geprägt ist. Mit Enttäuschungen umzugehen, ist ein wichtiger Teil davon. Das Leben zeigt uns, dass das nicht alle Spiele gelingen. Kriege sind nicht nur Nullsummenspiele, sondern MINUS-Spiele, in denen alle Parteien verlieren. Selbst die Sieger, wenn es welche gibt. So ist es auch bei Scheidungen oder dummen Konflikt-Debatten in Talkshows.

Auch Fußball ist ein Win-Win-Spiel, selbst wenn meistens nur eine Mannschaft gewinnt. Und ein Unentschieden als Nullsumme erscheint. Fußball erzeugt das Win-Win durch die Resonanz der Zuschauer: Beim Akt des Dabeiseins, beim Fan sein, in der Eleganz des Spiels selbst entstehen kognitive und emotionale Überschüsse, die zu einem echten MEHRWERT führen – nicht nur im geldlichen Sinn. Fußball führt uns vor, wie das Leben wirklich spielt: Es ist eine oszillierende Mischung aus Regeln, Wille, Kompetenz und Zufall. Besonders wichtig ist es, wie man etwas wegsteckt (mein Großvater sagte beim Fußball schauen im Fernsehen immer „Gebt doch beiden Mannschaften einen Ball!“. Kein guter Tipp).

Win-Win-Logik beschreibt das Grundprinzip des Universums ebenso wie das Wesen des Fortschritts: Zwischen Atomen, Molekülen, Zellen, Elementen, Energien bilden sich im ewigen Spiel Überschüsse aus, die zu Vielfalt und Schönheit führen. So entsteht das Komplexe, wie der Mensch, der Wald, die Bäume, die Tiere, Galaxien und Schwarze Löcher.

Der beste Booster für das kosmische Win-Win, alias „die Zukunft“, ist die Liebe. Das wussten die Religionen immer schon, auch wenn sie sich nicht immer so verhielten.

In der Zeitschrift „Science“ kann man eine interessante Studie darüber lesen, wie das Nullsummenspiel-Denken vor allem in der westlichen Welt in den letzten Jahren zugenommen hat. Danach glauben immer mehr Menschen, dass Macht wichtiger ist als Gemeinsamkeit. Das hat sehr viel mit der heutigen „Spielsituation“ zu tun. Mit den Beschleunigungseffekten der modernen Welt, jener medialen Expansion, die wir noch kaum verstanden haben, in der wir aber ständig zappeln. In einer überreizten, geradezu entzündeten Reiz-Gesellschaft besteht die Tendenz, immer nur nach dem unmittelbaren (Aufmerksamkeits-) Vorteil zu greifen, weil man der Zukunft nicht mehr traut. Kränkungen sind die Folge. Hysterien, die wiederum ihre eigenen Resultate erzeugen.

Es wird alles davon abhängen, wie wir in den nächsten Jahren aus der Hysterie aussteigen lernen. Und wieder ins Win-Win kommen. Das ist uns als Spezies in den letzten Million Jahren schon mehrmals gelungen.

Shai Davidai, Martino Ongis: The politics of zero-sum-thinking: The relationship between political ideology and the belief that life is a zero-sum game.
www.science.org

Sahil Chinoy, Nathan Nunn, Sandra Sequeira, Stefanie Stantcheva: Zero-Sum Thinking and the Roots of U.S. Political Divides
scholar.harvard.edu

Der Sinn der Krise

Mir gefällt dieses Diagramm des Sozialphilosophen Roman Krznaric:

Grafik: Der Nexus des Wandels


Roman Krznaric definiert „Krise“ als einen stetigen Prozess des Übergangs, der Transformation. Krise bedeutet, dass etwas an sein Ende gelangt ist. Dadurch entwickelt sich die Nachfrage nach neuen Ideen. Das erzeugt neue Narrative, die zu sozialen und mentalen Bewegungen und Neu-Formungen führen. Woraus wieder Krisen entstehen, denn nun prallen alte und neue Kräfte aufeinander und erzeugen vermehrt Paradoxien. Die wiederum durch neue Ideen auf einer höheren Stufe gelöst werden können …

Wenn man dieses zirkuläre Modell innerlich bejaht, wird aus dem Untergangsgefühl ein Gefühl von Kontinuität im Wandel.
Allerdings bedingt das den Abschied von der Erwartung, dass alles immer so bleiben muss, wie es gestern zu werden schien.
Die Krise zu überwinden fängt bei uns selbst an. Als Herausforderung, die Dinge anders zu sehen als im gleichen Erwartungsmuster. Neu zu bewerten. Akzeptanz zu üben. Sich auf die wahre Realität einzulassen. Das wäre der richtige, der wahre Trotz. Der Trotz gegen die Trotzigkeit. Der Schritt ins Werden.

Siehe das Buch „History for Tomorrow: Inspiration from the Past for the Future of Humanity”, englische Ausgabe 2024:


Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.

Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com