140 – Die kommenden Aufstände
Wann wird der Wind of Change sich wieder drehen?
Über die Kraft des Wandels in turbulenten Zeiten
Matthias Horx, Mai 2025

„Wir bewundern heroisch
nutzlosen Trotz.
Und belächeln
langmütigen Widerstand.”
Ursula K. Le Guin
1. Das Momentum
Es ist wieder Mai. Das weckt Erinnerungen.
Es gab eine Zeit im Mai, in der die Diktatoren reihenweise abtraten. In meiner Boomer-Jugend in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts fielen die letzten Diktaturen Westeuropas. Einer nach dem anderen verschwanden die finsteren Typen mit den verspiegelten Sonnenbrillen und den Militäruniformen von der Bildfläche: Griechenland, Türkei, Portugal, Spanien …
Auf dem Plaza de Mayo im Herzen von Lissabon war ich im April 1974 als junger Student dabei, als Hippie-Frauen und -Männer rote Nelken in die Gewehrläufe junger Soldaten steckten, die dem portugiesischen Diktator Salazar die Gefolgschaft gekündigt hatten. Langhaarige Studenten fuhren auf den Panzern mit, die noch vor Kurzem der Diktatur gedient hatten. Alles war voller romantischer, sehnsüchtiger Musik, und die Menschen tanzten auf den Straßen.
Siehe z. B. www.casadojose.de/post/die-nelken-revolution. Wer noch einmal diese Stimmung nachverfolgen will, höre das wunderbare Revolutionslied „Grândola, Vila Morena” von José Afonso. Und Paulo de Carvalhos Beitrag „E depois do Adeus“ (Und nach dem Abschied), das beim Grand Prix Eurovision 1974 teilnahm und zum Schlüssellied des Aufstands wurde.
Die Revolte, die Rebellion der Freiheit, hatte ein Momentum. Ein hoffnungsfrohes Vibrieren lag in der Luft, das ansteckend wirkte. Unaufhaltsam veränderte sich alles in Richtung Freiheit, Individualität, Offenheit, Schönheit, Erotik. Das war die Euphorie meiner Jugend. Ich muss gestehen: Ich vermisse das sehr, gerade im reiferen Alter.
Ein Momentum ist jene Energie, die einen Körper in der physikalischen Welt unaufhörlich nach Vorne treibt, wenn keine hindernde Kraft vorhanden ist. In der gesellschaftlichen Entwicklung ist dieses Momentum eine Energie, die Ideen, Menschen und Hoffnungen auf geheimnisvolle Weise zu einer Kraft zusammenfügt, die soziale Veränderungen beschleunigt, die längst schon in der Gesellschaft vorhanden sind. Diese Kraft bringt irgendwann den schlimmsten Tyrannen zu Fall – so war es jedenfalls lange Zeit.
Heute hat sich das Momentum umgekehrt. Es geht zurück ins Dunkle. Die Frage nach der Zukunft lautet nun: Wie bekommt man Tyrannen, Autokraten, ein Regime von Idioten jemals dazu, abzutreten?
Wie bringt man das Böse, das sich verfestigt und eingenistet hat, auch in den Köpfen und Seelen, ins Wanken?
Und wie entsteht wieder jener Drive, der die Dinge auf neue Weise zusammenfügt?
Was damals leicht erschien, tänzerisch eben, scheint heute immer unmöglicher zu werden.
2. Die Ära der Farbenrevolutionen
Eine Farben-Rebellion oder Regenbogen-Revolte ist ein Aufstand der Vielfalt. Minderheiten tragen ihre Unterschiedlichkeiten auf die Straße und formen daraus etwas Neues – das Narrativ einer besseren Zukunft. Farbenrebellionen sind kein Massenprotest mit marschierenden Kolonnen und martialischen Parolen. Man erkennt sie daran, dass auch Zauberer, Magier und Verkleidungskünstler teilnehmen.
Die Farbenrevolution ist nicht nur GEGEN etwas („Nieder mit! Weg mit!“). Sie ist auch FÜR etwas, das im Protest symbolisch aufscheint. Sozusagen vor-gelebt wird. Ein anderes Miteinander. Eine andere Sozialität. Eine zarte Empfindlichkeit liegt in der Luft liegt, die die Herzen auch derer berührt, die zunächst nur am Rand zuschauen.
Der Prototyp für diese mächtige Form der Gesellschaftsveränderung war die Pariser Mai-Revolte im Jahr 1968. Damals wurde ein junger Rebell mit jüdisch-französischen Wurzeln, Daniel Cohn-Bendit, zum Sprecher einer antiautoritären Bewegung, die von den Studenten ausging, aber weite Teile der Gesellschaft erfasste. „Achtundsechzig“ stürzte den französischen Staat in einen Notstand, eine Legitimationskrise. Und leitete eine lange Epoche der Reformen und kulturellen Demokratisierungen in ganz Europa ein.
Einige Jahre später erfanden wir in der Frankfurter Sponti-Bewegung die Regenbogen-Fahne.
Andere Reklamationen werden gerne entgegengenommen. Einigen wir uns darauf: Die Regenbogen-Fahne ist bestimmt mehrere Male an verschiedenen Orten „erfunden” worden.
Die Fahne mit den bunten Streifen stand damals nicht für bestimmte Minderheiten oder sexuelle Orientierungen. Eher für eine Idee der Unterschiedlichkeit, in der viele Ideen und Varianten Platz hatten. Es ging nicht zuletzt um eine Alternative zu den roten Fahnen der kommunistischen Kaderorganisationen, die damals noch viele Demonstrationen beherrschten. Aber auch um eine Alternative zum dunklen Schwarz der Lederjacken-Militanten, die in Richtung Straßenschlachten als Machtdemonstration abdrifteten.
In der Regenbogen-Fahne verbanden sich die Ideen und Gefühle der weltweiten Jugend- und Hippie-Kultur mit dem politischen Aktivismus. Der bunte Aufstand entwickelte sich auch als Alternative zum Bürgerkrieg, der damals in vielen Ländern tobte. Die IRA in Irland, die ETA im Baskenland, die „Roten Brigaden“ in Italien, die irre RAF in Westdeutschland, die in Hass und Gewalt endete. In Südamerika entstanden aus den heroischen Siegen der Linksguerilla gleich wieder die nächsten Diktaturen. Farbenrevolutionen signalisierten eine andere Idee des gesellschaftlichen Wandels, der nicht aus der Machtergreifung, sondern aus dem Herzen kommen sollte. Ihre Kernenergie war die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben.
Eigentlich ging es um die Liebe.
3. Die Niederlage der Sehnsucht
Um die Jahrtausendwende verstärkte sich noch einmal der Wind des Wandels. Nach der friedlichen Revolution in der DDR, der samtenen Revolution in Prag und anderen östlichen Staaten sang die halbe Welt das Lied The Winds of Change. Im Jahr 1999 tanzten eineinhalb Millionen Menschen in Berlin zur Love Parade. Die Farbenrebellionen setzen sich fort: Der Sturz von Milosevic in Serbien 2000 und die Orangene Revolution in der Ukraine 2004. Die Tulpenrevolution in Kirgisien 2004, die Rosenrevolution in Georgien 2003 und die Safran-Revolution in Myanmar. Dazu kamen die vielfältigen „Issue“-Bewegungen“, die sich schon in den 80er Jahren gebildet hatten. Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Schwulenbewegung. Später kamen Black Life Matters, MeToo, Fridays for Future dazu.
In den Nuller Jahren schien das Internet, die Möglichkeiten digitaler Netzwerke, die Kraft der Rebellionen noch zu verstärken. Der arabische Frühling dehnte den Regenbogen auf die arabischen Länder aus, und von da aus würde er sich weiter über die Welt bewegen.
Alles würde besser werden.
Friedlicher, toleranter, gerechter, solidarischer.
Die Tyranneien würde verschwinden, sooner or later.
Gewalt und Krieg ebenso.
Obwohl es schon lange Gegen-Anzeichen gab.
Im Jahr 1989 fuhren auf dem Tian’anmen-Platz in Peking Panzer auf und erstickten eine studentische Revolte. Es gibt bis heute kaum Bilder von diesem Aufstand mit über 2.000 Toten, er blieb völlig folgenlos. 25 Jahre später scheiterte die fantasievolle Regenschirm-Revolte in Hongkong an den Repressionsstrategien der kommunistischen Regierung in Peking. Alles wurde in Gerichten und Gefängnissen erstickt.
Der Zusammenbruch des arabischen Frühlings mündete in einen apokalyptischen Bürgerkrieg in Syrien.
Endgültig kippte das Momentum der Farbenrevolution im Maidan-Aufstand von Kiew im Jahr 2014. Zunächst verlief alles nach dem gewohnten Muster: Die Revolte erzeugte enorme gesellschaftliche Energien, die Menschen solidarisierten sich bis weit in die Mittelschichten hinein, der Maidan war ein Flickenteppich bunter Vielfältigkeit (allerdings gab es auch Neonazis). Doch dann wurde geschossen – von Paramilitärs. Es gab über 100 Tote. Tote Helden sind immer der Anfang eines Krieges.
In Weißrussland wurde auf wunderbare Weise fröhliche, fantasievolle und weibliche Rebellion, innerhalb kürzester Zeit brachial niedergeschlagen. Für Putin und seine diktatorischen Freunde waren Farbenrevolutionen schon lange der Gottseibeiuns, der um jeden Preis im Keim zu ersticken ist. Lange bevor sie sich zu einem Kraftfeld, einem unwiderstehlichen Momentum zusammenfügen können.
Sie haben leider gelernt, wie man das macht.
Ende der Nuller Jahre definiert die Harvard-Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth die 3,5-Prozent-Regel. Chenoweth führte in ihrer Analyse „The Success of Nonviolent Civil Resistance” aus, dass sich ein Wandel immer dann vollzieht, wenn 3,5 Prozent einer Bevölkerung sich konsequent und friedlich dafür engagieren. Dahinter stand das Gesetz der rebellischen Ansteckung: 3,5 Prozent klingt wenig, aber das gesellschaftliche Resonanzsystem reagiert auf bestimmte Muster und Verdichtungen, wenn „die Zeit reif ist“.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass das Momentum des Wandels so offensichtlich in die andere Richtung umschlagen konnte?
4. Reaktionärer Rebellismus
Das Momentum des Rebellischen ist auf seltsame Weise nach rechts gewandert. Wobei auch der Begriff „rechts“ nicht mehr viel aussagt. Der ZEIT-Journalist Johannes Schneider formulierte es in einem Kommentar so:
„Heute verschwören sich Rechte gegen ein gemutmaßtes Establishment, heute schätzen und überschätzen sich rechte Nachplapperer als Quer- und Selberdenker, heute wittern Rechte überall Tod und Verderben, kurz: Heute klingen Rechte wie Achtzigerjahre-Kabarettisten in der ARD-Sendung Scheibenwischer oder wie Reinhard Mey in seinen schlechteren Liedern.”
Wer mit einem AfD-Fan in Sachsen oder Mannheim oder mit einem Trump-Anhänger in den Weiten von Kentucky spricht, hört erstaunliche viele Wörter, die früher zu einem ganz anderen Sprachkosmos gehörten. Gerne wird von Freiheit gesprochen, vom „Widerstand“ gegen „die da oben“. Fast immer wird beansprucht, gegen „die Eliten“ zu kämpfen. Betont wird der eigene Stolz, das „sich nicht verarschen lassen“.
Es geht um Kränkungen, die sich aber nicht mehr mit Stolz und Würde, sondern nur noch mit Aggressionen und Abwertungen beantworten lassen.
Entstanden ist ein monströser Typus rebellischer Reaktionarität. Eine Art Mutation des Rebellischen, eine Zombieform.
In ihrem Buch „Verkehrungen ins Gegenteil: Über Subversion als Machttechnik“ spricht die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse von der „Subversion von oben“ und „Invertiertem Totalitarismus“.
„Wenn Begriffe umcodiert werden, Symbole und Praktiken umgenutzt werden und die Wirklichkeit uminterpretiert wird, kann man seine eigene Passivität als Partizipation, ihre Folgsamkeit als Revolte, ihren Opportunismus/Unterwerfung als Dissidenz bewerten. Die neuen Totalitaristen BELOHNEN ihre Anhänger mit dem Prädikat des Widerstands, des Freiheitskampfes, um sie zu unterwerfen.“
Man spricht hier auch von „Retorsionen“: Die Umdrehung eines Deutungsmusters in sein Gegenteil. Auf eine paradoxe Weise scheint sich diese neue Tyrannis, die hasserfüllte Verweigerung der Zukunft, gerade aus dem Widerstand gegen sie zu speisen. Das ist etwas, was wir nicht verstehen können, was uns zutiefst irritiert. Vielleicht auch deshalb, weil wir uns für zu schlau halten.
Sylvia Sasse schreibt weiter:
/„Der neue Autoritarismus spricht die Sprache des Anti-Autoritären. Und das macht ihn so schwer zu bekämpfen. Weil man in einer rekursiven Paradoxie (einer Paradoxie, die sich sozusagen selbst dauernd widerlegt) das Monster durch Widerstand und Dagegensein immer nur weiter füttert.”
Es wäre unklug, den Anteil zu leugnen, den die Protest- und Rebellionskulturen selbst an dieser Entwicklung haben. In den letzten Jahren verloren die progressiven Bewegungen weitgehend ihre Leichtigkeit, ihre Grazilität. Eine Re-Dogmatisierung fand statt. Es entstand eine zum Narzisstischen tendierende Opfer-Moral, die sich immer nur um die eigenen Ansprüche kümmerte. Kümmern ist das richtige Wort. Die rebellische Energie verkümmerte in einem moralistischen Rigorismus, der die rechte Dreistigkeit umso attraktiver machte.
5. Die Ohnmacht der Massen
Es ist ja nicht so, dass alles still und stumm wäre. Es gibt sie ja wieder, die großen Demonstrationen, die mit Hoffnung und Energie gegen Autokraten und Tyrannen auftreten. In Istanbul waren es Millionen, die gegen Erdogan auf die Straße gingen. In Tiflis hielten die urbanen Schichten mit Schönheit und Würde dem Tränengasnebel der Polizei stand. Wir ahnen aber, dass das nicht reichen wird. Die Energien der Straße knacken nicht mehr das finstere Schloss.
Immerhin gibt es interessante neue Varianten des Protests. In Serbien steht die Studentenschaft auf und aktiviert starke Sympathien aus der Bevölkerung. Mit hoher Disziplin und Geschlossenheit wird gegen die Korruption demonstriert, nach einem tödlichen Schlamperei-Unglück in der nordserbischen Stadt Novi Sad. Der Schlachtruf der Demonstranten lautet „Pumpaj! Pumpaj!“ – „Druck, Druck!“. Es geht um den ständigen Aufbau rebellischer Energie. Besonders clever an dieser Ausdauer-Strategie ist, dass sie sich nicht an Ministerpräsident Vucic als frontales Feindbild richtet, sondern ihn in einer Art metamoderner Ironie „dekonstruiert“: „Wir demonstrieren eigentlich nicht gegen Vucic. Der Präsident ist völlig irrelevant!“

Hilflos erscheint hingegen die Rückkehr zu alten Minderheiten-Protestformen. Im autokratischen Ungarn gab es vor Kurzem tapfere Pride-Paraden. Dort zeigte man sich in guter alter Performance-Tradition in grauen Kleidern und trug einen grauen Regenbogen mit sich. Doch die Symbolik funktioniert nicht mehr mobilisierend. In der rasenden Aufmerksamkeits-Ökonomie unserer Tage war das nicht einmal eine Meldung wert. Kurz nach den Protesten verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz zum Verbot von Pride-Paraden.
Durch die rasende Virtualisierung von allem verirren wir uns in einem dunklen Wald, in dem wir nicht mehr unterscheiden können, was Wahrheit und Wirklichkeit ist.
HYPNOKRATIE lautete der Titel eines Essays des in Berlin lebenden chinesischen Medienphilosophen Jianwei Xun. Er beschreibt darin die Manipulationskraft des Reaktionären, wenn es sich mit den Mitteln der Virtualität, der Simulation bewaffnet. Ein brillantes Stück, das alles zu erklären schien …

Allerdings stellte sich Jinwai Xun selbst als eine Fiktion heraus. Als Erfindung eines italienischen Verlegers, der etwas ganz besonders Kritisches veröffentlichen wollte. Der Essay selbst war von der KI geschrieben.
6. Die neue Bedeutung von Boykott
Warum wird gerade in den USA so wenig demonstriert und protestiert? Vielleicht ist das auch das Ergebnis einer kollektiven Klugheit: Manchmal muss man innehalten, um sich neu zu sammeln. Manchmal muss man einen Schritt zurücktreten, um aus seinen Enttäuschungen klüger zu werden.
Allerdings lässt sich in den Aktionen gegen TESLA ein neuer Wind spüren. Akteure tragen lustige Schilder: „Honk if you think Elon is a dork!“ (Hupen Sie, wenn Sie denken, Elon sei ein Trottel!
Jemand in einem Gorillakostüm hält ein Plakat hoch, auf dem steht „Er tötet auch Affen!“. Diese Demonstrationsmethode basiert auf dem „Cardboards-Stil“ – durch witzige Provokations-Meme entsteht eine Leichtigkeit, die sich dem schlichten „Dagegen“ entzieht, und an die heutige Medienstruktur angepasst ist.
Overthrow the oligarchs
Don’t buy a Swasticar
De-Musk America
Make Amerika THINK again!
Trump has a tiny Penis!
If that was really about getting rid of criminals why did you elect one as a president?
You wanted Cheap Eggs, but got measels instead …

Humor ist existentiell im Kampf gegen die Macht – er lässt die Macht sozusagen aus der Herrschaft auslaufen ins Überflüssige.
Es gibt es eine Schlüsselgeschichte dazu: Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Es handelt von einem eitlen Herrscher, der auf der Hauptstraße seines Reiches promeniert, dabei aber vollkommen nackt ist, weil seine Berater ihm unsichtbare Kleider als höchstes Statussymbol angedreht haben.
„Er hat ja gar nichts an!“
Man stelle sich vor, in den USA zeigten sich auf allen Mauern, Plakaten, Autobahnen, Klowänden plötzlich millionenfach Sätze wie „LETS GET RID OF THESE IDIOTS!“. Oder „TIME IS OVER!“ Riesengroß, winzig klein, mit Kugelschreibern gekritzelt oder auf Billboards angebracht. Re-Coding reality. Die analoge Wirklichkeit als Storyboard einer memetischen Rebellion.
Nicht weiterverraten!
Boykott war viele Jahre lang ein probates Mittel wirksamen Protests. In der überbordenden Konsumgesellschaft wurde dieses Mittel jedoch irgendwann stumpf; teilweise wurde es sogar von der Werbung „umgepolt“ im Sinne negativer Verkaufsförderung („Kaufen Sie unser Produkt, weil Greenpeace es Scheiße findet!“). Jetzt aber formieren sich Boykott-Strategien überall neu. In der Türkei läuft eine Riesenkampagne gegen die „Erdogan-Industrien“ – Firmen, die dem Autokraten oder seiner Partei gehören, werden massenhaft boykottiert. In Kanada ist „Buy Canadian“ inzwischen eine regelrechte Volkskampagne geworden: Kaffee heißt nicht mehr Americano, sondern Canadiano. Ähnliches passiert in Mexiko, wo die lokale Wirtschaft mit gestärktem Selbstbewusstsein auftritt, statt alle amerikanischen Produkte nachzuahmen. Hier entsteht ein Gegen-Effekt des trotzigen Patriotismus, eines rebellischen Stolzes.
Selbstbewusstsein: Darum geht es zunächst einmal beim Aufbau eines tragbaren Widerstandes. Vom Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen stammt diese Überlegung:
„Wir brauchen unterschiedliche kommunikative Register. Die offene Gesellschaft muss lernen, im richtigen Moment der Intoleranz mit Intoleranz zu begegnen – nicht mit Beliebigkeit, sondern mit Klarheit, nicht mit dem Sich-Wegducken, sondern mit Konfrontationsbereitschaft. Was mir vorschwebt, ist eine Zukunftstugend, die ich „respektvolle Konfrontation“ nennen möchte. Die Position womöglich scharf kritisieren, aber die Person stets mit dem nötigen Minimum an Achtung behandeln – auf dem Weg zu etwas, was der britische Historiker Timothy Garton Ash als „robuste Zivilität“ bezeichnet.”
David Brooks, der liberale Prophet aus The Atlantic, dem Sprachrohr des westlichen Liberalismus, macht uns mit einem universalistischen Widerstandsbegriff Mut. Die konkrete Praxis im Kleinen ist der Widerstand der sich in Zukunft zum Momentum aufbauen wird:
Langfristig ist der Trumpismus zum Scheitern verurteilt. Macht ohne Besonnenheit und Demut scheitert unweigerlich. Nationen wie Menschen verändern sich nicht in guten Zeiten, sondern als Reaktion auf Leid. In einem Moment, in dem der Trumpismus alles zu verschlingen scheint, ist die Versuchung groß zu glauben, dieses Mal sei alles verloren. Doch die Geschichte bleibt nicht stehen. Selbst jetzt, wenn ich durch das Land reise, sehe ich, wie sich in Nachbarschaften und Gemeinden die Kräfte der Erneuerung sammeln. Wer Teil einer Organisation ist, die klassenübergreifendes Vertrauen aufbaut, bekämpft den Trumpismus. Wer als Demokrat seinen abgeschotteten Progressivismus über Bord wirft, bekämpft den Trumpismus. Wer für einen Moralkodex der Toleranz und des Pluralismus eintritt, der Amerika zusammenhalten kann, bekämpft den Trumpismus. Im Laufe der Zeit führen veränderte Werte zu veränderten Beziehungen, die zu Veränderungen im bürgerlichen Leben führen und diese schließlich zu Veränderungen in der Politik und Gesellschaft. Es beginnt langsam, aber wie es im Buch Hiob heißt, die Funken werden nach oben fliegen.
www.theatlantic.com/magazine/archive
7. Rebellion und Weisheit
Vor einem halben Jahrhundert waren Rebellionen das Privileg der Jugend. Erfolgreich wurden sie, als die Jüngeren sich mit anderen Gruppen der Gesellschaft zusammentaten und sich daraus breite Wandlungs-Bewegungen entwickelten. Etwa die Ökologiebewegung, oder die verschiedenen Emanzipationsbewegungen, mit denen Minderheiten immer mehr zum Teil der Mehrheitskultur wurden. Und tatsächliche eine tolerante Gesellschaft entstand.
Heute ist es Zeit für neue historische Allianzen. Und die könnten ganz anders aussehen als in den „wilden Zeiten“. Demonstrierte man früher gegen den Staat oder den „Kapitalismus“, geht es heute darum, den Staat gegen seine Demonteure zu verteidigen. Mit der Wirtschaft könnte es ganz neue mächtige Allianzen geben, denn die rechten Populisten und Autokraten sind ja auch Gegner einer weltoffenen Wirtschaft. Wirtschaft kann auf einem vernetzten Planeten aber nur weltoffen sein, wenn sie Erfolg haben will. Ähnlich könnten sich die Konservativen und Progressiven gegen die rechtsradikale Regression zusammentun (wie es sich im Politischen schon andeutet).
Oder wie wäre es mit einem neuen Generations-“Deal“?
Wie mein Sohn Tristan es so schön formulierte:
„In erster Linie ist es wichtig zu verstehen, dass der Generations-konflikt gut und wichtig ist. Das rebellische, hinterfragende Potenzial der jüngeren Generationen ist wichtig für die Gesundheit von Unternehmen, vor allem in unserem Zeitalter des Übergangs. Ebenso wichtig ist aber auch die Erfahrung der Älteren. Strukturwissen, wie man die Ruhe bewahrt und eine Organisation führt, sind eben genau so wichtig wie der Innovationsdrang. Gerade die Kombination dieser beiden Fähigkeiten macht Deutschland so fantastisch: viel Erfahrung KOMBINIERT mit endlosem Innovationspotenzial, vor allem im produzierenden Bereich. Alle Unternehmerfamilien kennen diesen Konflikt vermutlich schon vom Abendbrot-Tisch. Diese Stärke können sie nutzen, wenn sie einen produktiven Generationskonflikt zulassen. Das Beste ist, wenn sich Weisheit und Rebellion zusammentun.“
Weisheit ist eine durch Erfahrung erworbene Gelassenheit, kombiniert mit Empathie und Weitsicht. Weisheit ist aber auch das Wissen um die Balance zwischen dem Bleibendem und Veränderbaren. Dem was ist, und dem was wird.
Weisheit drückt sich in der Erfahrung aus, dass die Welt ein dynamisches Gleichgewicht von Kräften ist, die sich immer irgendwie ausgleichen. Zu jedem Trend erscheint ein Gegentrend. Aus dem scheinbaren Paradox entsteht die Zukunft.
Gandhi hat den Satz „Be the change you want to see in the world“ – „Sei der Wandel, den Du in der Welt sehen willst” – nie so gesagt. Das richtige Zitat lautet: „Während der Mensch seine eigene Natur ändert, neigt sich auch die Haltung der Welt zu ihm.“ (As a man changes his own nature, so does the attitude of the world change towards him.).
Für Veränderung müssen wir nicht auf eine bessere Welt warten. Der Wandel beginnt immer mitten in der Krise. In unserer inneren Wandlung, der höheren Selbstwerdung. Wenn es eine Weisheit der Rebellion gibt, dann die, dass man nie stehenbleiben darf. Auch nicht im Dagegensein. Sonst wird man infantil.
Also: Weitertanzen!
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Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com