144 – In die Zukunft reisen
Wo fahren wir hin,
wenn wir bei einer Reise
die wahre Zukunft erleben wollen?
Meine Zukunfts-Orte
– ein Reisebericht
Matthias Horx, Juli 2025
s ist Reisesaison. Auf einer großen Tourismus-Veranstaltung wurde ich neulich gefragt, wohin ich als Zukunftsforscher reisen würde in diesem Sommer. Sicher irgendwohin, wo die Zukunft wäre. Jemand mit meinem Beruf würde ja wahrscheinlich über eine Zeitmaschine verfügen.
Höfliches Gelächter im Saal.
Ein Zyniker rief dann: „Russische Front!“
Nicht wirklich witzig.
Im Ernst: Wo müsste man hinreisen, um die Zukunft zu sehen? Die ersten Vermutungen sind schnell auf dem Tisch: Wie wäre es mit Dubai, Abu Dhabi, VAR, den glitzernden Himmels-Türmen eines arabischen Hyper-Future-Lifestyle, voll mit Ferraris, goldenen Pools, und tänzelnden Bitcoin-InfluencerInnen? Ein Hub in die Zukunft.
Mag sein. Aber vielleicht ist das alles nur Fake Future. Oder Future Fake.
Die nächste Idee: Star City, das Hauptquartier von Elon Musks SpaceX im äußersten Süden von New Mexiko. Von hier soll das STARSHIP zum Mars starten, mit 100 Passagieren, irgendwann demnächst. Einstweilen werden jedoch in regelmäßigen Abständen Riesenraketen in die Luft gesprengt. Um „Daten zu gewinnen“. Die Anwohner sind in einem Umkreis von 50 Kilometer weggezogen, weil es unerträglich ist.
Lieber nicht.
Der Weihnachtsmann wohnt am Nordpol – aber wo wohnt die Zukunft?
In jeder zweiten Großstadt, die etwas auf sich hält, gibt es inzwischen ein „Zukunftsmuseum“. Aus professionellen Gründen besuche ich diese Orte öfters. Aber seit einiger Zeit befällt mich dort eine seltsame Müdigkeit. Eine Langeweile. Eine Art Zukunfts-Frustration.
Die Zukunft scheint sich seit Jahrzehnten nicht zu verändern. Sie besteht aus immer denselben Klischees: Roboter, weiblich und männlich, die einen irgendwie blödsinnig anquatschen und im Gestänge quietschen. Cyberbrillen, die man sich aufsetzen kann, um in irgendeine Drei-D-Simulation abzudriften. Dass man dabei blöd aussieht und einem schwindelig wird, ist nur ein Nebeneffekt. Irgendwo in der Ecke steht ein 3D-Drucker, aus dem irgendwelches Spielzeug herausquillt. Dann gibt es meistens noch superutopische Rennwagen-Zeichnungen und Bilder von Städten, in denen Hochhäuser aus Metall von Flugautos umschwirrt werden. Ach ja, und Drohnen. Die wirken aber heute ganz anders als zukünftig. Bedrohlich.
Irgendwie ist die Zukunft heute ein Museum geworden. Das Museum einer Zukunft von gestern.
Also: Wo fahren wir hin – Richtung Zukunft?
Ich möchte fünfeinhalb Vorschläge machen:
1. Salgados Dschungel
Am 25. Mai 2025 starb der weltberühmte Fotograf Sebastiao Salgado in Paris. Salgado fotografierte 40 Jahre lang das Schicksal der Menschheit, die Katastrophen und Krisen der Welt. In eindrücklichen Schwarz-Weiß-Bildern: verhungernde Menschen, schreckliche Kriege, Umweltverwüstungen, menschliche Grausamkeiten.
Nach einem Gesundheits-Zusammenbruch, der ihm fast das Leben kostete, kehrte er auf die Farm seiner Eltern zurück. Ein karstiges Gelände, viele Quadratkilometer groß, im hügeligen Norden Brasiliens. Salgados Vater hatte im Laufe der Jahre alle Bäume verkauft, um seinen sieben Kindern Universitäten zu ermöglichen. Zurück blieb tote, zerstörte Erde. Karst.
Mit seiner Frau Lélia und ihrer Organisation „Instituto Terra“ machte sich Salgado an ein Projekt, das heute, nach seinem Tod, spektakuläre Ergebnisse zeigt. Sie pflanzen in den letzten 20 Jahren Millionen von Bäumen und Sträuchern, lockerten die Erde – und überließen alles seinem natürlichen Lauf. Heute gibt es wieder Bäche, Quellen und eine ständig zunehmende Artenvielfalt von Fauna und Flora. Dieser Ort zeigt, dass sich die Erde erholen, regenerieren und gesunden kann. Mit unserer tätigen Hilfe.
2. Die nördlichste Großstadt Europas, Tromsø
Tromsø liegt in Norwegen, nördlich des Polarkreises. Es ist die nördlichste Großstadt Europas, mit 70.000 Einwohnern. Vier Monate im Jahr ist es stockfinster.
In den 70er und 80er Jahren brach die Fischfang-Industrie zusammen. Viele Menschen wurden arbeitslos. Tromsø durchlebte eine Zeit von Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Depression. Die Alkoholismusrate stieg, Selbstmorde waren häufig, die Menschen zogen weg.
By Svein-Magne Tunli – tunliweb.no (own work), via Wikimedia CommonsKari Leibowitz, eine junge Stanford-Psychologin, besuchte im Jahr 2015 die Stadt, um im Auftrag der EU den „Winterblues” zu untersuchen. Die anhaltende Dunkelheit galt als ein Grund für die Depressionen und die Unattraktivität der Stadt. Leibowitz machte eine erstaunliche Entdeckung: Erstaunlicherweise sahen viele Tromsø-Bewohner die Dunkelheit nicht als „Problem” an, sondern als etwas Besonderes im Jahr, auf das man sich freuen konnte. Weil in dieser Zeit das Licht viel sichtbarer wird. Der Himmel hängt voller Sterne. Das Nordlicht leuchtet. Und die Gesichter leuchten umso mehr.
Heute lohnt sich der Besuch deshalb vor allem im Winter. Es ist äußerst lebendige Zeit. Das Stadtgebiet wird von unglaublich vielen Leuchten, Lampen, Fackeln, Feuern erleuchtet. Überall gibt es Stände, Orte, an denen man zusammenkommt, Grog oder Kräutertee trinkt. Viele Menschen machen gemeinsam Sport, die Langlaufloipen sind beleuchtet, ebenso die Skipisten. Nicht selten hat es dabei minus 20 Grad. Es gibt unglaubliche viele Kunstaktionen und -events. Zwischen Weihnachten und Neujahr gibt es ein Open-Air-Filmfestival auf dem Hauptplatz. Eingemummelt sitzen die Zuschauer, die auch aus aller Welt kommen, zusammen. Sie üben „Hyyge“ (norwegisch Lykke) das seelische Zusammenrücken.
Tromsø hat sich völlig umgekrempelt. Von einer hoffnungslosen in eine optimistische, lebendige Stadt. Die Stadt erlebt Zuzug, auch von jungen Familien. Was man hier besichtigen kann, ist ein „Mindset change“: eine geistige Wende, die die Realität zum Besseren wendet. Ein großartiges Beispiel, wie innere Zukünfte die Wirklichkeit verändern und verbessern können.
„Our minds are not passive observers simply perceiving reality as it is. Our minds actually change reality. The reality we will experience tomorrow is in part a product of the mindsets we hold today.“
Alia Crum, Stanford University
3. Gelephu, Bhutan
Gelephu liegt an der Grenze des kleinen Königreiches Bhutan, das für sein „Bruttoglücksprodukt“ bekannt ist. Direkt an der Grenze zu Indien gelegen, hat der Ort mit einer Bewohnerzahl von knapp 10.000 meist flache asiatische Architektur. Gelephu ist der Ort eines sensationellen Experiments. Er soll die erste „Mindfulness City“ der Welt werden. Gut 1.000 Quadratkilometer soll das Wandlungs-Experiment umfassen, im Sinne von Lebensqualität, grüner Energie, guter Vernetzung, Forschung, Kultur, Bildung und buddhistischer Tradition. Eine Verbindung aus Spiritualität und moderner Welt. Das Hauptkriterium: das Projekt soll das in der Verfassung festgelegte Bruttonationalglück fördern.
Die Bjarke Ingels Group aus Dänemark, einer der weltweit führenden innovativen Architektur-Büros, hat den Auftrag vom König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck persönlich erhalten. Dabei geht es eben nicht um eine Retortenstadt, die aus dem Boden gestampft wird. Sondern um eine behutsame &ndquo;Kulturtechnik des Wandels”, bei der die Bevölkerung einbezogen wird. Gestaltet werden 11 verschiedene Quartiere, die sanft aus der vorhandenen Struktur „herausgeformt“ werden. Durch das Gelände fließen 15 Flüsse, an denen die Elefanten jährlich vom Himalaya in die Tiefebene ziehen und wieder zurück. Es wird eine Brückenstadt wie Venedig, mit Brücken als Universitäten, Forschungs- und Gesundheitseinrichtungen. Ein nahegelegener Staudamm, der ein spirituelles Zentrum enthält, und Solare Architektur sollen die ganze Stadt mit erneuerbarer Energie versorgen.
Gelephu heute zu besuchen, heißt Fragen zu stellen. Wie stehen die Bewohner zu dem Projekt? Wie lässt sich eine andere Utopie des Städtischen, Lokalen entwickeln, ohne in die alten Fehler aufgesetzter Stadtentwicklung zu verfallen? Kann eine Protopie wie diese funktionieren? Die Erreichung einer „wahrhaftigen Stadt der Zukunft“ ist vor allem eine soziale, mentale Frage. Aber hier könnte diese Zielvorstellung gelingen.
Video zu dem Projekt: youtube.com
4. ISS – International Space Station
Die ISS ist inzwischen fast ein guter Bekannter. Hundertmal gefilmt, in dystopischen Sci-Fi-Filmen eingesetzt, eine Ikone der Weltraumfahrt, die allerdings langsam in die Jahre kommt. Hunderte von Astronauten waren schon an Bord. Inzwischen haben auch einige superreiche Privat-Touristen die aneinandergekoppelten Module besucht, die 16-mal in 24 Stunden um die Erde kreisen. Was den Passagier, wie man hört, nachhaltig verändert.
Ich würde deshalb gerne noch einmal auf die ISS, bevor sie in der Atmosphäre verglüht oder für irgendwelche militärischen Zwecke umgebaut wird. Weil man dort etwas über den Mythos erfahren kann, der mit dem „Space Mind“ zusammenhängt. Die ISS ist offensichtlich der einzige Ort, an dem Russen, Amerikaner und andere Nationen noch friedlich in einer engen Wohngemeinschaft zusammenleben können. Ist das nicht ein Wunder? Warum ist das so? Irgendetwas am Weltraum scheint eine „vereinigende Wirkung“ zu haben. Eine magische Potenz des Friedens. Vor dem großen Dunkel des Alls und der leuchtenden Erde sind wir alle Mitglieder einer einzigen Spezies. Dieses Gefühl vermisse ich.
Die Passagiere berichten von einem Gefühl der Ehrfurcht. Ehrfurcht, das „Große Staunen“, es ist das, was die menschliche Seele zusammenhält. Was uns gemeinsam in die Zukunft weist. Wenn wir dieses Gefühl verlieren, wird die Erde öd und leer.
Die einzige Möglichkeit, den Weg aus einem Labyrinth zu finden, ist, es von oben zu betrachten.
Ivan Krastev
5. Campus Vivorum – Der Friedhof der Zukunft
In der kleinen Stadt Süßen unweit von Stuttgart findet sich ein Zukunftsort der ganz besonderen Art: Ein Friedhof, der in die Zukunft weist. Wie bitte? Ja. Zukunft.
Das Projekt, 2023 fertiggestellt und ständig weiterentwickelt, widmet sich der Frage, wie Trauer und Verlust kulturell neu verstanden und geformt werden kann. Das Projekt wurde von einem interdisziplinären Think Tank aus Philosophen, Psychologen, Soziologen, Architekten, Seelsorgern, Trauerbegleitern, Bestattern, Steinmetzen, Gärtnern, Lokalpolitikern und Zukunftsforschern vorangetrieben. Finanziert und kuratiert hat es die Firma Strassacker, eine mittelständische Bronze-Gießerei, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine neue Friedhofskultur zu entwickeln.
Friedhöfe sind eine der ältesten Institutionen der Menschheit. In der modernen westlichen Welt sind sie allerdings in großer Bedrängnis: Immer weniger Menschen lassen sich begraben, immer mehr neigen wir zum „Verschwindenlassen“ des Todes in einer schnelllebigen Zeit. Die Friedhöfe gehören zu den begehrtesten Grundstücken der Städte und Gemeinden und verlieren rasend schnell ihre soziale und mentale Funktion. Trauer-Rituale sterben aus, Familien werden auseinandergerissen, die Anonymisierung nimmt epidemische Ausmaße an. „Streuwiesen“ sind heute üblich, wo früher Orte der tätigen Trauer und menschlicher Begegnung waren.
Trauer ist ein genuines menschliches Phänomen, und sie ist gleichzeitig ein gesellschaftliches Problem. Trauern hat etwas mit Zukunft zu tun, weil wir uns im Prozess des Verlustes mit Vergangenheit und Zukunft verbinden. Die Hinwendung zum Tod ist ein produktiver Teil seelischen Wandels, und die Formen, in denen eine Kultur mit der Überzeitlichkeit umgeht, sind ein Schlüssel zu ihrer Zukunft.
Man kann den Campus Vivorum besichtigen. Dort findet sich eine ungewöhnliche Architektur des Trauerns und ein „Spirit“ der Begegnung im wahrhaftigen Menschsein.
Kontakt: vivorum-kommunal.de/kontakt
Noch ein Zusatzvorschlag:
5½ : Das „Mastaba of Abu Dhabi”-Monument von Christo
Das letzte Großprojekt des Gesamtkünstlers Christo ist noch nicht realisiert, aber 5 Jahre nach seinem Tod werden die Planungen wieder aufgenommen. Es ist ein Monument für den Sieg der erneuerbaren Energien und des Zukunfts-Bewusstseins über das fossile Zeitalter. Eine gigantische Pyramide, so hoch wie die Gizeh-Pyramide, die aus einer halben Million leeren Ölfässern bestehen soll.
Das schon in Christos Zeichnungen imposant aussehende Monument wird aus vielen Kilometern Entfernung und aus der Umlaufbahn zu sehen sein. Es soll in der Wüste von Abu Dhabi errichtet werden, momentan laufen ernsthafte Gespräche mit den Verwaltern des Christo-Erbes. Man kann den Ort selbst also noch nicht besuchen. Aber man kann den enormen „Future Spirit“ des Projektes erahnen.
Haben Sie einen weiteren Vorschlag?
Ich würde mich freuen, wenn Sie mir einen weiteren ORT DER ZUKUNFT schicken würden. Egal ob klein oder groß, fern oder nah. Wir sammeln „Protopien“, Zukunftsorte, in denen die Zukunft „work in progress“ ist. Vorposten des Zukünftigen. Stützpunkte des Morgens im Heute.
Bitte direkt an horx@horx.com
Hier noch eine Erklärung für die Wortbildung „Protopie“:
„Protopia” is another recent term, coined by futurist Kevin Kelly and it is defined as the opposite of a „Dystopia”. In Dystopia, people are stuck in some kind of recurring pattern of suffering (like George Orwell’s „foot trampling a human face — for ever”, as in 1984). Utopias are oft places, where the longing für perfection becomes a terroristic approach. Kill the traitor! Lock the deviant! A Protopian society, then, is one where people are free from such gridlocks and can thus work actively to improve life. It’s a more carefully stated form of a dream of societal transformation: It doesn’t say that „everything will be good for everyone”; it focuses not on the state-of-things-at-a-given-moment, but on the possibility — the shared capacity — to move in mutually desirable directions. Simply stated, one could say that a Protopian society is one that has the capacity to become incrementally better as a result of the freedom of its members.
„Protopia“ ist ein neuer Begriff, geprägt vom Futuristen Kevin Kelly, definiert als das Gegenteil einer „Dystopie“. In der Dystopie stecken die Menschen in einem wiederkehrenden Leidensmuster fest (wie George Orwells „Fuß zertrampelt ein menschliches Gesicht – für immer“ in 1984). Utopien sind oft Orte, an denen der Wunsch nach Perfektion zu einem terroristischen Ansatz wird. Tötet den Verräter! Sperrt den Abweichler ein! Eine protopische Gesellschaft ist hingegen eine Gesellschaft, in der die Menschen frei von solchen Blockaden sind und aktiv an der Verbesserung ihres Lebens arbeiten können. Es handelt sich um eine präzisere Form eines Traums von gesellschaftlicher Transformation: Es heißt nicht, dass „alles für alle gut sein wird „; es konzentriert sich nicht auf den aktuellen Zustand, sondern auf die Möglichkeit – die gemeinsame Fähigkeit –, sich in für beide Seiten wünschenswerte Richtungen zu bewegen. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, dass eine protopische Gesellschaft die Fähigkeit besitzt, sich durch die Freiheit ihrer Mitglieder schrittweise zu verbessern.
metamoderna.org
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com

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