149 – Das Wunder Europa
Über die Großartigkeit Europas und den eigentlichen Grund unserer mentalen Zukunftskrise
Matthias Horx, Oktober 2025
Erhältlich u.a. bei www.amazon.de (Affiliate Link – Offenlegung).
Es gibt Momente, in denen es einem wie Schuppen von den Augen fällt. Und man versteht, wie die Welt wirklich tickt. Was unser eigentliches „Problem“ ist.
Und was eine konstruktive Provokation ausmacht.
(Provo-care: Etwas hervorrufen, indem man sich um etwas kümmert und es dabei wirklich versteht.)
Heute morgen bekam ich ein Buch in die Hände, das es eigentlich gar nicht geben kann. Geschrieben wurde es von einem schweizerischen Professor, Arturo Bris. Er ist der Direktor des IMD World Competitiveness Centers in der Schweiz, ein klassischer Ökonom, der aber auch mit ganzheitlichen Augen auf die Welt und die Zukunft schauen kann. Es heißt – haltet euch fest! – Super Europe. The Unexpected Hero of the 21st Century.
Es vertritt die glaubwürdige These, dass Europa ein Held beziehungsweise eine Heldin ist. Ein gelingendes Experiment der Zukunft.
Wie bitte?
Seine Argumentation ist im Grunde einfach, wenn man mal NICHT dem allgemeinen Jammerstrom folgt. Sobald das Wort „Europa“ fällt, reagiert der „normale Mensch“ mit einer Kaskade von Abwinken, Schulterzucken, Augenrollen, Kopfschütteln, Abwertung. Die ständige Gewissheit lautet: Europa ist kaputt. Am Ende. Uneins, dekadent, kompliziert. Hoffnungslos hinterher bewegt es sich mit der Geschwindigkeit eines schmelzenden Gletschers in den Abgrund, während Amerika und China und „alle anderen“ mit Lichtgeschwindigkeit neue Technologien auf den Markt bringen und in die Super-Zukunft davonrasen …
Oder so ähnlich.
Haben wir jemals etwas Anderes auf eine Talkshow gehört? Oder in den Kommentaren zur „europäischen Misere“ gelesen, die seit Jahrzehnten alle Meinungsseiten überschwemmen?
Und ist es nicht seltsam, dass die radikalen Rechten, die Freiheits-Feinde, an diesem Punkt ziemlich exakt mit den progressiven, linken, liberalen Spektren übereinstimmen?
Europa ist, so Arturo Bris, die heimliche Erfolgsgeschichte des Planeten. Die interessanteste Komplexitäts-Story der Geschichte.
Europa hat sich in den Krisen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte als erstaunlich resilient erwiesen (ist Resilienz nicht das zentrale Thema unserer Zeit?). Es hat nach einer langen Kriegsperiode zu vielfältigen Verbindungen und Moderationen gefunden. Es hat einen Krieg auf dem eigenen Territorium, den Balkan-Krieg, beendet (allerdings mit Hilfe der Amerikaner). Trotz einer massiven Finanzkrise konnte es seine ökonomische Integrität bewahren (das „Griechenland-Drama“). Großbritannien stieg aus, aber das führte keineswegs zum Untergang. Corona war ein tiefer Einbruch, aber der Kontinent hat die Pandemie im Großen und Ganzen gut bewältigt, auch wenn die öffentliche Meinung bisweilen ins Dunkle abrutschte. In den heutigen kriegerischen Bedrohungen agiert Europa inzwischen entschlossener, in Umweltfragen ist es ziemlich weit voraus. Der erneuerbare Energiesektor floriert, und Europa weigert sich trotz aller fossiler Nostalgie den fossilen Backlash mitzumachen.
Wo lässt es sich auf dem Planeten wirklich gut leben? Wenn man durch Kopenhagen, Stockholm, Wien oder München ja sogar Frankfurt geht, sieht man nicht unbedingt eine Gesellschaft im Niedergang (wenn nicht gerade das Oktoberfest ist oder man den Kern des Bahnhofsviertels aufsucht). Alle weltweiten Tests sehen die europäischen Großstädte immer an der Spitze der Lebensqualität (Singapur, Sydney oder Seattle kommen noch dazu). Das Europäische Gesellschaftsmodell funktioniert alles in allem. Es gibt einen Sozialstaat, der angepasst werden muss, aber dennoch ziemlich leistungsfähig ist.
Europa ist, so heißt es, total innovationsunfähig geworden. Wirklich? Das dänische Unternehmen Novo Nordisk war die erste Pharma-Firma, die ein breites Mittel gegen Diabetes und Fettleibigkeit auf den Markt brachte. Unfassbar viele Mittelständler haben sich zu Weltmarktführern entwickelt, die in wichtigen Nischen ihre Produkte immer weiter verfeinern. Das deutsche Unternehmen BioNTech machte in rasender Zeit einen Impfstoff gegen eine globale Seuche marktfähig und ist heute auf dem Weg, den Terror von Krebs mit ganz neuen Technologien zu knacken. Nicht wenige der kompetitivsten Ökonomien liegen in Europa. Steht davon jemals etwas in der Zeitung (oder in dem, was von Zeitungen übrig geblieben ist, nachdem der digitale Sturm alles in eine einzige Klickomanie verwandelt hat)?
Keine Gesellschaft ist problemlos. Schon gar nicht in einer sich wandelnden Welt. Womöglich ist die europäische Innovationsidee aber eine andere als die gloriose amerikanische. Es geht nicht so sehr um das RASENDE NEUE und die Weltherrschaft des Ökonomischen, die alle Konkurrenten disruptiv hinwegfegen und morgen schon auf den Mars flüchten will. Es geht um eine bessere Zivilisation. Um eine Wirtschaft, die mit der Gesellschaft verbunden ist. Die Wachstum nicht als „um jeden Preis“ dekliniert. Um eine Kultur des Ausgleichs, die immer tastend nach den Wegen ins Morgen suchen muss.
Eine Kultur des konstruktiven Zweifelns.
Des ganzheitlichen Fortschritts.
„Dieses Buch“, schreibt Arturo Bris, „ist eine Rehabilitation Europas. Es ist als Verteidigung eines Kontinents geschrieben, der oft missverstanden, karikiert, unterschätzt wurde, aber still zu einem der wohlständigsten, gerechtesten und nachhaltigsten Regionen der Erde wurde. Europas Story über die letzten Dekaden ist keine des Niedergangs, sondern eine der tiefen Transformation, gekennzeichnet durch Krisen, Resilienz und Erneuerung. Das Resultat ist ein Modell, das zwar alles andere als perfekt ist, aber in starkem Kontrast zur immer fraktalisierteren politischen und sozialen Landschaft anderswo in der Welt steht.“
Spätestens an diesem Punkt öffnet sich die große ABER-ABER-ABER-Kiste. Die Truhe der unbedingten Negativität, die jeder von uns mit sich trägt:
ABER das Wachstum fehlt!
ABER die neuen Rechten, Orban und Konsorten!
ABER die Bürokraten in Brüssel, die Korruption!
ABER die Ungerechtigkeit, die sozialen Konflikte!
ABER global haben „wir“ nichts zu sagen!
ABER die Deutsche Bahn! (Ist das ein europäisches Problem? – Wird jedenfalls gleich ins Europäische eingepreist).
ABER die fehlenden Super-Technologien!
ABER die Technikfeindlichkeit, die Regulationswut, der Bürokratismus!
Es kann gar nicht anders werden als schlecht!
Keine Hoffnungen.
Keine Veränderungen in Sicht.
Keine Zukunft.
Abgang Europas.
Die große Krise, die tiefe Krankheit unserer Zeit ist wohl, dass wir NICHTS mehr positiv sehen können. Dass unser Gehirn – unseren medial geformten Minds – sich immer nur an der Negativität festkrampfen. Wir uns in ständigen Abwärtsvergleichen verlieren, bei denen immer Minus-Summen herauskommen. Wir sind negative Opportunisten: Wie oft nicken wir einfach blöde mit dem Kopf, wenn wieder einmal „die Politik“ als Ganzes in ihrer Unfähigkeit denunziert wird. Wenn in den Talkshows jedes Problem zum Weltuntergang mit Schuldzuweisung hochgejazzt wird? Wenn im Anne-Will-Markus-Lanz-Maybrit-Illner-Verhörstil in den Fragen immer schon die negative Antwort enthalten ist: Vergeblichkeit.
„Aber ist es nicht so, dass Europa sich hier (wieder einmal) als völlig unfähig erweist, zu (Beliebiges bitte einfüllen).“
Wir wundern uns, warum die radikalen Rechten immer gewinnen. Die allerdings wissen warum. Sie sitzen feixend im Hintergrund und brauchen nur zu warten, bis wir uns selbst zerlegt haben.
Der Wesenskern dieser Art, mit der Welt umzugehen, ist die Undankbarkeit. Wir haben verlernt, das Gelungene zu verstehen. Wir erwarten unentwegt das Perfekte. Das Problemlose. Das Reibungslose. Das unentwegte IMMERMEHR. Wir betrachten Politik und Zukunft, aus der Sicht eines aufgebrezelten Konsumenten, der ständig Ansprüche und Anmaßungen formuliert: Es muss geliefert werden, und zwar sofort! Ohne dass sich etwas ändert! Aber Dalli!
Wenn wir in der Liebe, in der Beziehung oder in der Familie mit derselben negativen Anspruchshaltung – es darf keine Probleme geben, alles muss perfekt sein und hat MEINEN Ansprüchen zu genügen! – agieren, dann scheitern wir existentiell. Gibt es nicht in jeder Familie auch einen Orban, eine schrille Tante – etwas, was nicht ins Erwartungs-Portfolio passt? Ist nicht gerade auch das Unperfekte, das Nichtkonforme das Liebenswerte? Oder wenigstens: das Anzuerkennende?
Gesellschaften, Kulturen scheitern an ihren selbsterfüllenden Negativ-Prophezeiungen. Oder sie wachsen entlang von Hoffnungen, die sich niemals eins zu eins, also erwartungsgerecht realisieren. Aber doch Wege, Pfade aufzeigen, auf denen es weitergehen kann. Vorangehen, Schritt für Schritt, statt Fort-Schritt (mit Bindestrich). Echter Wandel ist graduell. Immer auch schwierig. Messy. Ohne Garantie. Es ist das Leben selbst.
PS: Wichtig ist auch, dass wir aufhören, über das Jammern zu jammern. Das verdoppelt die Misere. Also werde ich an dieser Stelle kein Wort mehr über negatives Denken oder Zukunftspessimismus verlieren. Entscheidend ist aber, dass man sich entscheidet, FÜR etwas zu sein. Etwas einfach mal GUT zu finden, weil und damit es besser werden kann. Ich bin FÜR Europa. Ich bin ein Fan. Ich will einen europäischen Pass. Einen Gesamt-Pass mit gelben Sternchen. Weil mich das Neue fanatisch-Nationale über alles gruselt. Und das Europäische rührt und motiviert.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com



