150 – Die Dritte Informationskrise

Wie die Krise des Verstehens und der Kommunikation eine neue Epoche vorbereitet

Matthias Horx, Oktober 2025

Höhle der Hände, ArgentinienDie allererste Informationsblase, ca. 35.000 Jahre vor unserer Zeit
Cueva de las Manos, © Wikimedia Commons

The machinery of fear has become more sophisticated,
the algorithms more addictive,
the rage more profitable.
Fix the News

We keep inventing new technology to solve everything except the people problems. Those are the ones that keep me up at night.
Business-Autorin Shalene Gupta

Die Zukunftsautorin Naomi Alderman formulierte in einem BBC-Podcast einen ikonischen Satz:
„The most important information you can have in your life is the name of the EPOCH you are living through.”
„Die wichtigste Information, die Du in Deinem Leben haben kannst, ist der Name der Epoche, die du durchlebst.”

Das klingt zunächst banal. Aber was uns heute fehlt, ist ein Bild, ein Bewusstsein von der Ära, in der wir leben. Wir spüren, dass etwas zu Ende geht. Eine Epoche, eine Ära – das Alte Normal eben. Aber wir verstehen nicht, was das bedeutet. Und wohin es geht. Warum ist alles so verworren? So schmerzlich unklar, unsicher, negativ geworden?
Wie heißt unser Zeitalter?
Postmoderne?
Spätkapitalismus?
Chaos Age?
Trump Age?
Thanatocene (Zeitalter des Massensterbens)?
Präapokalypse?
Labubu Age?
DE-Informations-Zeitalter?

In ihrem Podcast „The Third Information Crisis“ formuliert Naomi Alderman:
„Ich habe immer wieder das gleiche Muster beobachtet: Wenn die Menge der uns zur Verfügung stehenden Informationen enorm zunimmt, werden alle sehr ängstlich. Viele werden sehr wütend. Wir erleben, dass Menschen, die wir gut zu kennen glaubten, die wir als Teil unseres „Wir“ betrachteten, ein ganz anderes Gespür für Dinge haben, die uns unglaublich offensichtlich erscheinen.“

Graphik: InformationskrisenInformationskrisen, © Horx Future GmbH

Die Erste Informationskrise

Bis vor rund 6000 Jahren waren fast alle Informationen, die Menschen austauschten, auf einen engen sozialen Raum begrenzt. Sprachen, Idiome, Dialekte entwickelten sich in Clans, Stämmen, Ethnien, die manchmal nur durch einen Bergrücken getrennt waren. Sprache formte die Kooperationsfähigkeit der Menschen. Ihre Fähigkeit, Gemeinschaften zu bilden. Und Sprache verbesserte ihre Evolutionsmöglichkeiten.
Das Mündliche formte die menschliche Wirklichkeit.
Das Sprechen von Mensch zu Mensch.
Das Weitergeben von Generation zu Generation.

Mit der Erfindung der Schrift vor rund 6000 Jahren trennte sich die Information von der Person. Wissen konnte nun festgehalten und gespeichert werden. Das hatte tiefe Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Strukturen, etwa zwischen Alt und Jung. Naomi Alderman:
„In der Ersten Informationskrise nach der Erfindung der Schrift mussten wichtige Fakten, die früher mündlich wiederholt wurden, nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mitgeteilt werden. Dadurch wurde der menschliche Kontakt beseitigt und die Ältesten der Gemeinschaft, die zuvor über Weisheit verfügten, wurden entwertet.“

Mit der Schrift entwickelten sich pyramidale Kulturen. Schriftlichkeit formte die ersten Städte, in denen Priester und Schriftgelehrte Wissen speichern und monopolisieren konnten. Gleichzeitig entstanden Märkte, Handel, Austausch. Denn mit aufgezeichneten Informationen konnte man leichter Äquivalente berechnen, „abwägen“ und vorausplanen. Die Buchhaltung und schriftliche Manifeste, in Form von Prophezeiungen und Dekreten, eröffneten die nächste Stufe der kulturellen Evolution.

Die Zweite Informationskrise

Als Johannes Gensfleisch zu Gutenberg im Jahr 1450 in Mainz den Druckstuhl mit beweglichen Lettern erfand, grassierte die Pest in Europa. Das Leben war unsicher und prekär. Die Deutungsmacht der Welt lag primär in der Hand der Kirche. Durch den Buchdruck entwickelte sich eine ganz neue Informationswelt. Als Luther 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg nagelte, erfuhr innerhalb von 48 Stunden ganz Europa davon.

Die Drucktechnik führte aber keineswegs sogleich zu kulturellem und sozialem Fortschritt. Im Gegenteil. Der erste Buch-Bestseller jenseits von Bibeltexten war der „Hexenhammer“, Malleus maleficarum. Ein Handbuch zum Aufspüren, Foltern und Töten von Frauen. Die neue Medientechnik erzeugte eine Flut von Flug- und Hetzblättern – reichlich bebilderte Schauergeschichten: Hexen, die mit dem Teufel kopulierten, Papstdarstellungen als Esel oder Schwein. Man schätzt, dass dieser medial verstärkten Menschenverfolgung mindestens 50.000 Frauen zum Opfer fielen. Auch der 30-jährige Krieg war eng mit der neuen Informationstechnik verknüpft, die die religiösen Konflikte anheizte.

Ein neues Medium entzündet die Gesellschaft.
Und führt in einen allgemeinen Kulturkrieg.
Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

Bis aus gedruckten Texten eine Bildungskultur entstand, sollte es noch lange dauern. Erst im 18. Jahrhunderts entwickelten sich die Elemente eines durchgängigen Wissens- und Informationssystems. Die „redaktionelle Kultur“ durch Recherche und Überprüfung. Die wissenschaftliche Methodik von Experiment und Empirie. Bibliotheken, Enzyklopädien, einflussreiche Universitäten. Das Urheberrecht als gesicherte Autorenschaft. Die allgemeine Bildungsexpansion im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts führte dazu, dass auch große Gesellschaften sich kognitiv konfigurieren konnten.

Wir sind alle Kinder dieses Großen Versprechens, dieser Kern-Utopie der Aufklärung: Bildung durch Lernen und Lesen. Wissensgewinn durch Forschung und kritische Wissenschaft. Demokratie durch mediale Vermittlung. Alle unsere Institutionen, unsere Denkweisen und „Mentalitäten“ sind auf diesem Wissenssystem aufgebaut.

Aber dann kam irgendetwas dazwischen.
Was wir bis heute nicht ganz verstehen.
Die Dritte Informationskrise begann.

Literatur:
Elisabeth Eisenstein, „The Printing Revolution in Early Modern Europe“, Cambridge University Press 2019
Roman Krznarik, „History for Tomorrow“, S. 81 ff., Penguin Random House 2024

Die Große Vernetzung

Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts lebte ich in einer Land-Wohngemeinschaft in einem deutschen Mittelgebirge. Es gab zwei Schafe, heldenhaft gegen jede Art von Schädlingen verteidigtes Gemüse und sehr viel Regen. Auch Rotwein. Die „Wilden Jahre“ der globalen Jugendrebellion waren abgeflaut. Wir jungen Boomer versuchten, in „alternativen“ Experimenten neue Ideen zur Gesellschafts-Veränderung zu finden.
Das Leben in Selbstorganisation.
Autarkie statt Protest und Rebellion.
Aber etwas fehlte nun: Der Kontext der Vielen. Die Weltveränderung. Der Sound des Wandels.

1984 kaufte ich einen Commodore 64, die „graue Brotbüchse“, den ersten erschwinglichen Homecomputer. Noch heute erinnere ich mich an den Geruch der heißen Platinen und des süßlichen Plastiks – ein eigenartiges Parfüm, das nach ZUKUNFT roch. Wir spielten in langen Winternächten pixelige Computerspiele, was sich zu einer angenehmen Sucht entwickelte. Aber bald auch ziemlich selbstähnlich wurde.

Ich lernte ein bisschen BASIC und FORTRAN, die ersten öffentlichen Computerprogrammiersprachen.
Und dann begann das Modem zu pfeifen, und das WORLD WIDE WEB öffnete seine Tore. Nach den Enttäuschungen des Großen Aufbruchs, der in den 60er und 70er Jahren die Gesellschaft durcheinanderwirbelte, entstand wieder so etwas wie eine neue soziale Utopie.
DIE GROSSE VERNETZUNG!

Die Vision einer Art Computersozialismus.
Wenn das Modem pfiff, entstand ein magisches Weltgefühl.
Wenn alle Menschen auf der Erde einen vernetzten Computer besitzen würden, würde sich die Welt schlagartig verbessern.
Der direkte Zugang zu Information würde Bildung und Wissen bis in die letzten Winkel der Welt verbreiten.
Jede Unterdrückung könnte direkt öffentlich gemacht werden. Ohne die Zensur der „herrschenden Medien“.
Proteste, Aufstände gegen die Macht würden sich ungleich effektiver organisieren lassen.
Und so weiter. Die Vision der Großen Vernetzung hatte etwas Heiliges, Romantisches, geradezu Magisches: Waren es nicht „Netzwerke“, die die gesamte Welt durchdrangen – in der Natur, in der Gesellschaft, im Kosmos? Und würde deshalb das GROSSE NETZ nicht alle Schranken abbauen, die Menschen von ihren wahren Bedürfnissen und Gemeinsamkeiten trennten?
Eines der magischen Stichworte der Jahrtausendwende war die Schwarmintelligenz. Die Intelligenz der Vielen.
Wenn sich alle mit allen verbinden, wird alles gut.
Wenn alle Information frei ist, entsteht die Zukunft.
Es dauerte ziemlich lange, bis sich herausstellte, dass das alles Illusionen waren.

Die Digitale Enttäuschung

Zunächst entwickelte sich alles in die erwartete Richtung. Aus dem Singen des Modems entstand eine weltweite Subkultur – die digitalen Nerds, die sich im Souterrain ihrer Mütter verbarrikadierten und von dort aus in ihren Hoodies die Welt eroberten. Als Elite traten die „Hacker“ auf den Plan, eine geheimnisvolle Truppe, die in der neuen Datenwelt Gutes tat; man wusste allerdings nie so genau was und warum.

Die ersten sozialen Netzwerk-Plattformen entstanden. ARPA, MySpace, Friendster. Die ersten Websites mit pixeligen und flackernden Buchstaben wurden gebastelt.
Große Euphorie!

Das @-Zeichen, der „Klammeraffe“, wurde der Code für eine neue Ära. Die digitale Befreiungs-Bewegung fand mächtige Verbündete im Reich der Wirtschaft. In den 90er Jahren wuchs im Silicon Valley ein kosmopolitischer Digitalismus heran, der seine Wurzeln in den Subkulturen der 60er und 70er hatte. Zwischen IBM mit seinen grauen Business-Kästen und den coolen Apple-Geräten kam es zu einem friedlichen Kulturkampf. In jeder Hotellobby konnte man bald die digitalen „Tribes“ an ihren Laptops unterscheiden. So wie man ein paar Jahrzehnte früher Beatles- von Rolling-Stones-Fan schon an Haartracht und Kleidung unterscheiden konnte.

Kreativität versus Büroeffizienz.
Digitale Popkultur gegen graue Datenkisten.
Kreativität gewann nach Punkten. Am Höhepunkt der digitalen Revolution trat Steve Jobs, der Guru der digitalen Erleuchtung, im schwarzen Pullunder auf die Bühne und verkündete die frohe Botschaft der Zukunft:
ONE MORE THING!

Bis heute hat das digitale Versprechen etwas Religiöses. Das leuchtende Bild des Apfels, die große Versuchung, an der schwarzen Wand der Coolness. Die andächtig lauschende Gemeinde, wenn das nächste Release (Botschaft) verkündet wird. Wer einen Apple-Shop betritt, kann sie immer noch spüren, diese kirchliche Kraft, das sektenhafte Leuchten in den Augen.

Apple CEO Tim CookApples CEO Tim Cook, Kleine Zeitung

Nur hat es inzwischen auch etwas Dämonisches.

Als das Netz kippte

Als die ersten Hassparolen und Shitstorms im Internet auftauchten – harmlos im Vergleich zu heute –, waren dies nur vorübergehende Irritationen. Es gab im Netz eben einige Missmutige, die ihre Wut irgendwie loswerden mussten. Die „Schwarmintelligenz“ würde das schon regeln.

Als im Arabischen Frühling die Proteste und Befreiungsbewegungen im Nahen Osten niedergeschlagen wurden, ahnten wir langsam, dass politische Digitalisierung nicht funktionierte. Man konnte mit Facebook keine Tyrannen besiegen. Eher im Gegenteil: Netzwerk-Medien machten die Aufständigen empfindlich für Überwachung. Und dienten plötzlich zur Manipulation und Propaganda.

Es dauerte lange, bis wir verstanden, an welchen Faktoren die GROSSE VERNETZUNG tatsächlich scheiterte:

Der Netzwerk-Effekt (Metcalfesche Gesetz): Soziale Plattformen werden unweigerlich zu Monopolen, weil sich ihr ökonomischer Nutzwert proportional zum Quadrat der Anzahl der „User“ (ein Begriff aus der Drogenwelt) entwickelt. Am Ende gewinnt immer die Plattform, die am meisten Kapital mobilisiert. The Winner takes them all.

Das Clickbaiting-Gesetz: Wenn man Algorithmen so gestaltet, dass immer die meistgeklicktesten Links nach oben sortiert werden, kommt es in zu einem exponentiellen Selbstverstärkungs-Prozess. Dabei wird unentwegt das Schrillste, das Aggressivste, das Affektivste oder das Blödsinnigste verstärkt.

„Die Empörung ist das Feuer und die Sozialen Netzwerke sind das Benzin.“ – so Molly Crockett, Neurobiologin.

Negativitäts-Bias: Menschliche Wahrnehmungen sind um den Faktor 5 bis 10 stärker dem Negativen zugewandt als dem Positiven. Das stammt aus unserem evolutionären Erbe. Wir wollen wissen, was gefährlich ist. Alles Düstere, Dunkle, Bedrohliche oder sensationell Übertriebene wird dadurch aufgebläht, über-dimensioniert. Das Gelungene und Balancierte verschwindet aus der Wahrnehmungssphäre.

Das Blasenphänomen: Die „Confirmation Bias“, die Bestätigungsverzerrung, verführt dazu, dass wir nur jene Information wahrnehmen, die zu unseren inneren Konstruktionen passt. Dadurch zerfällt das Große Netz in lauter Wahrnehmungsblasen, die sich schnell „aufheizen“ können. Das kritische Denken, die Basis unseres Wissenssystems, zerfällt. es kommt zu einer „Vermeinung“ der Gesellschaft.

Die „Rankomanie“: Im sozialen Internet wird jede Äußerung, jede Handlung, jede Pose unentwegt bewertet, gerankt, in Hitparaden geformt: Schlafen, Arbeit, Aussehen, Ernährung, Muskel-Brustumfang – alles unterliegt einer ständigen Steigerungserwartung. Wie viele Follower habe ich? Sehe ich gut vor der Kamera aus? Was sind die neusten Tipps zum Schlankwerden? Diese Informationsstruktur führt zu einer Dominanz von „Egomotionen“: Emotionen, die sich nur ums Ego drehen.

Context Creep und Context Collapse: Durch die ständige Eskalation informeller Intensität „kriechen“ Bedeutungen aus ihren ursprünglichen Kontexten heraus. Bedeutungszusammenhänge „bluten“ in Abgründigkeiten und Übertreibungen hinein. Das kognitive Framing, die Rahmung, die jede menschliche Erkenntnis braucht, wird gesprengt. Die Zusammenhänge verschwinden zugunsten des unmittelbaren Reizes.
www.psychologytoday.com

„Immediacy“: So nennt die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Anna Kornbluh jenen Jetztzeit-Effekt, der zu ständiger Überreizung und Überforderung führt. Menschliche Kognition ist auf bestimmte Zeitformen angewiesen, Zyklen von Aufmerksamkeit und Verarbeitung, von Reflexion und Information. Im rasenden Echtzeitnetz folgt jedoch Impuls auf Impuls, Affekt auf Affekt; alles wird sofort wieder gelöscht, bleibt aber trotzdem ewig gespeichert. Nichts bildet mehr einen ganzheitlichen zeitlichen Zusammenhang. Auf diese Weise verschwindet die Zukunft – und mit ihr die Wirklichkeit.
Von William Gibson, dem literarische Guru des Cyberspace stammt der Satz:
„The pixels of reality seem to glitch and flicker.“

Die kognitive Apokalypse

Der französische Soziologe Gérald Bronner taufte die Folgen der Dritten Informationskrise in unserer Kultur die KOGNITIVE APOKALYPSE.

„Die beispiellose Lage, die wir heute beobachten, ist geprägt vom Zusammentreffen unseres uralten Gehirns mit dem allgegenwärtigen Wettbewerb der Objekte geistiger Betrachtung, verbunden mit einer bislang noch nie dagewesenen Freisetzung verfügbarer Gehirnzeit.“, S. 16

Mit „Gehirnzeit“ meint Bronner jene Zeitkontingente, die wir heute an den flackernden Bildschirmen der Digitalität verbringen – zwei, drei vier, acht Stunden am Tag, rund um die Uhr, milliardenfach. Die digitale Informationsstruktur zersprengt unser „Salienz-System“ – die Art und Weise, wie unser Mind Aufmerksamkeit organisiert. Salienz kommt vom lateinischen salire = hüpfen, springen. Unser kognitives System verliert die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Um später Informationen zu gewichten und in Zusammenhänge zu setzen. Salienz beginnt bei bestimmten Signalen, etwa wenn ein rotes Alarm-Licht blinkt. Und ÜBERALL im Netz blinkt es ununterbrochen.

Gérald Bronner, „Kognitive Apokalypse: Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft“, C.H.Beck 2022

Vier Faktoren „steuern“ (oder selektieren) die Salienz: Intensität, Neuigkeit, Bedürfnisrelevanz und ökologische Validität (ein Reiz, der Informationen über die Umwelt liefert, von der wir biologisch abhängig sind).

Wenn wir diesen Kompass verlieren, verlieren wir unsere innere Konstruktion. Unsere „Stellung zur Welt“. Wir lösen uns in lauter Reiz-Einheiten auf. Wir verlieren unsere Präsenz in der Wirklichkeit und fallen in eine Art hyperinformelle Trance.

Wir verlieren auch die Bindungen, die uns in der Welt halten.
„Aufmerksamkeit ist die seltenste und reinste Form der Großzügigkeit“, formulierte die Welt-Mystikerin Simone Weil.

Aufmerksamkeit ist eine Grundform der Liebe. Der Aufmerksamkeitsforscher Ian McGilchrist formulierte:
„Aufmerksamkeit verändert die Welt. Wie wir ihr unsere Aufmerksamkeit schenken, bestimmt, was wir dort vorfinden. Und das, was wir vorfinden, prägt wiederum die Art der Aufmerksamkeit, die wir in Zukunft für angemessen halten. So ist es, dass die Welt, die wir erkennen – und die niemals GENAU dieselbe sein wird wie die Welt eines anderen – Gestalt annimmt und ins Sein tritt. Doch wir erfinden die Welt nicht – ganz und gar nicht. Wir sind nicht ihre Schöpfer, sondern ihre MIT-Schöpfer. Gefordert ist eine wache Antwort auf etwas Reales, etwas das außerhalb von uns selbst liegt. Wir bringen es ins Sein, indem wir es nähren – oder wir tun es nicht. In diesem Vorgang liegt etwas von der Struktur der Liebe.“

Das Weltgefühl unserer Zeit ist eine zerfallende Wirklichkeit.
Wirklichkeit ist die vom Mind selektierte Realität, in der wir wirken können. In der wir also existieren.
Aber wo existieren wir heute, in dieser rasenden Jetztzeit?

Das Pandora-Syndrom

Manche Phänomene des „sozialen“ Netzes haben inzwischen wahrhaft apokalyptische Dimensionen angenommen. Nur ein Beispiel unter vielen: Der Franzose Raphaël Graven, 46, Online-Name Jean Pormanove, starb Ende August 2025 in einem Folter-Lifestream, der wochenlang andauerte, dabei 50.000 Zuschauer anzog und eine Menge Geld generierte. Graven war Opfer eines „Folterstreams“, der in einer Art Folter-WG in Szene gesetzt wurde. Er wurde von seinen Co-Streamern gewürgt, mit Farbe überschüttet, angeschrien, geohrfeigt, mit Zigaretten verletzt, mit Stromschlägen traktiert, sexuell beleidigt. Die Zuschauer konnten per Spende neue „Challenges“ auslösen – etwa musste Graven mit einer „Biete-Fellatio“-Papptafel auf die Straße gehen. Die Plattform, über die die Übertragung lief, heißt Kick. Der Kick des Grauens.

Digitalisierung hebt die Distanz zwischen Nachbarn und fernen Fremden auf, indem sie die Präsenz des Anderen in der massiven Last des Realen aufhebt: Nachbarn und Fremde sind in ihrer geisterhaften Bildschirmpräsenz alle gleich.
Slavoj Žižek

Warum ist jeder Horror, der aus dem Netz strömt, immer noch schlimmer als der letzte? Anonyme Netzwerke setzten eine wichtige Funktion menschlicher Kommunikation außer Kraft: soziales Feedback. Sie entfesseln die sozialen Rückkoppelungen, die – wie man früher gesagt hätte – „sittlichen Bindungen“, in denen wir uns sozusagen selbst zivilisieren.
Freya India, eine Netzwerk-Philosophin, formulierte diese Tatsache auf der neuen Plattform Substack so aus:

„Paradoxerweise, glaube ich, dass all das ein wesentlicher Teil der psychischen Gesundheitskrise ist. Dieses Gefühl, dass es uns allen immer schlechter geht. Unser Verlust an Empathie, unsere Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen, unsere neurotische Besessenheit mit unserem eigenen Bild – das fordert seinen Tribut.
Die „Sozialen Medien“ machen uns zickig. Und egozentrisch. Mit der Zeit komme ich zu der Überzeugung, dass unsere dringendste Sorge nicht darin besteht, dass soziale Medien unser Selbstwertgefühl verschlechtern. Es ist einfach so, dass soziale Medien uns zu schlechteren Menschen machen.”

Längst haben diese Phänomene auch auf die traditionellen Sinn-Medien übergegriffen. In der rasenden Aufmerksamkeits-Ökonomie sind sie dazu gezwungen, die Reizgrade ständig zu erhöhen. Alles muss gefährlich, bedrohlich, abgründig, sensationshaft, irgendwie klickig sein. Auf diese Weise werden die klassischen Medien zum Teil des „hyperreaktiven Systems“, wie die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout es nennt. Einer Art Hysterie-Maschine, die ständig Konflikte zuspitzt, verstärkt, konstruiert. Mediale Systeme verbinden uns heute nicht mehr – wie das Wort „Medium“ es eigentlich besagt. Sie werden zunehmend zu Polarisierungsagenten. Das zerstört auf Dauer die Politik, die auf einer Semantik von Ausgleich, Moderation und Verständigung aufbaut. Und auf eine funktionierende Öffentlichkeit angewiesen ist.

Der narzisstische Politik-Brüllstil von Trump und Konsorten ist durch die sozialen Medien und das Verclickbaiting der konventionellen Medien erst möglich geworden. Im weiteren Verlauf der Kognitiven Krise greift die Erosion auch auf die traditionellen Wissens-Institutionen über. Wie wir es heute live in den Vereinigten Staaten erleben können.

Ganz zu schweigen von den mit schlechter KI gestalteten monströsen Anzeigen, die uns ständig durch alle Texte und Kontexte (selbst im SPIEGEL) geschoben werden und sich kaum noch von redaktionellem Content unterscheiden lassen. Und zuallermeist nichts anderes sind als unfassbar geschmackloser Verkaufsbetrug.

The collapse of the knowledge systemThe collapse of the knowledge system, © Ted Gioia / The Honest Broker

Der dunkle Wald des Internets

In einer etwas ironischen Darstellung könnte „Das Netz“ heute so aussehen wie eine Zeichnung meines Künstler-Sohns Julian, inspiriert von der Grafikerin Maggie Appleton:

  • Ganz unten im Morast des Netzes herrscht die digitale Finsternis. Dort hausen die Mächte der digitalen Gewalt, des Missbrauchs, der Wahnhaftigkeit. Es begann vor zehn, fünfzehn Jahren mit den Exzessen von 4chan und 8chan, heute durchziehen Dark-Web-Strukturen das Internet bis hinein in militärische Operationen und Cyber-Verbrechen.
  • Darüber hat sich eine Schicht geschützter Informationsräume gebildet. „Digitale Gärten“ (digital gardens), neue, kleinere Plattformen, in denen ein eher freundlicher Ton vorherrscht, wie Bluesky oder Substack, respektierte Blogs und Foren, die sich vor dem Wahnsinn schützen können.
  • Darüber die digitalen Ruinen, alte Plattformen auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit, kräftig durchgewühlt von den „Immerschneller“-Würmern à la TikTok.
  • Der Dunkle Wald ist die Hauptrealität des Netzes. Dort kann man sich leicht verirren und stolpert ständig. Im Gehölz lauern gefährliche Tiere und giftige Pilze. Immer verliert man seine Passwörter, und dann bleibt man im Unterholz stecken. Ein Dickicht, ein Dschungel, in dem man nie genau weiß, wo die Räuber hausen.
  • Darüber hängt die KI, die alles registriert und aussaugt …
Die Ebenen des InternetDie Ebenen des Internet, © Julian Horx

Was dürfen wir (trotzdem) hoffen?

Auf den ersten Blick ähnelt unsere heutige mental-mediale Situation dem Zug „Snowpiercer“, der um die Welt rast und nie mehr anhalten kann, während draußen Schnee fällt, viel Schnee, und immer mehr Schnee. In den Waggons, die nach sozialen Schichten gereiht sind – vorne die Reichen, hinten die Prekären -, kämpfen die Passagiere um das Notdürftige, den Status, das Luxuriöse, den Komfort, vor allem aber um echte Informationen. Wohin fährt eigentlich der Zug? Das weiß selbst der Zugführer nicht, der andauernd weggeputscht, ermordet und durch jemand anderen ersetzt wird …

Die Lage erscheint aussichtslos. Total absurd.
Sie ist trotz allem nicht hoffnungslos.

Jonathan Rauch, Mitarbeiter des Washingtoner Thinktanks Brookings Institution, beschreibt in seinem Buch The Constitution of Knowledge. A Defense of Truth die menschlichen Wissens-Konstruktion im Laufe der Zeit:

„Jede Gesellschaft, vom kleinen Stamm bis zum großen Land, hat ein Problem mit der Realität. Menschen nehmen die Realität unterschiedlich wahr und geraten darüber in Streit. Was ist wahr, was nicht? In einem kleinen Stamm erhält man bei Fragen, die praktisch unmittelbares Feedback hervorrufen, wie etwa „Wo ist die nächste Wasserstelle?“, „Wo befindet sich der feindliche Stamm?“ oder „Ist das ein Tiger im Busch?“, schnell Feedback. Aber bei den größeren Fragen, wie etwa „Welchen Gott verehren wir, damit es regnet?“, wird man sich nicht einig sein. Im Laufe der Jahrhunderte haben Gesellschaften diese Fragen meist durch Gewalt, Krieg und Unterdrückung gelöst. Sie verlassen sich auf autoritäre Führer, Priester, ein Orakel – schreckliche Methoden, um den Bezug zur Realität zu wahren.

Vor rund 300 Jahren haben wir im liberalen Westen eine Alternative entwickelt. Ich nenne sie die „Verfassung (Constitution) des Wissens“. Ein Regelwerk, das unsere Meinungsverschiedenheiten moderiert. Wir nennen es Wissenschaft; es umfasst aber auch Journalismus, Recht, Behörden, Museen und Bibliotheken. Die Grundregel: Bei der Wahrheitsfindung darf kein Zwang angewendet wenden. Man darf Diskussionen nicht beenden. Man ist gezwungen, sich zu erklären. Die Regierung muss an die Realität gebunden sein, sonst kann sie jemanden einfach für ein erfundenes Verbrechen ins Gefängnis werfen, was einigen Leuten tatsächlich passiert.”
www.theatlantic.com

Es liegt auf der Hand, dass wir diese Verfassung des Wissens neu schreiben müssen. Aber wie kann das geschehen? Es gibt keinen Kanon, keine Bedienungsanleitung. Aber gerade darauf können wir hoffen: Informationskrisen sind auf eine paradoxe Weise Treiber unserer kognitiven Evolution. Jedes Auftauchen einer disruptiven Medientechnik hat die menschliche Kultur zunächst in große Verwirrung gestürzt. Aber am Ende stand immer eine Transformation unseres Weltverhältnisses.

Die Antike schuf die Idee der Zeitlichkeit von kairos und chronos, auf der unsere heutige Vorstellung von Wandel und Veränderung basiert. Die Renaissance re-kombinierte die Denkweisen der Antike zu einer neuen Wirklichkeit des rationalen Humanismus. Auch diesmal werden wir aus der Verwirrung neue Wirklichkeiten schaffen.

Neue Informations- und Kognitionssysteme entwickeln sich oft in Schleifenformen. Alte Kulturtechniken kehren in erneuerter Form zurück. Der Medienwissenschaftler Walter J. Ong beschrieb in Oralität und Literalität (1982), wie moderne Massen-Kommunikationsmedien wie Radio und Fernsehen die Mündlichkeit wieder aufwerteten, die in der Zeit der Schriftlichkeit an den Rand gedrängt worden waren.

Inmitten des digitalen Sturms kommt das Analoge sanft zurück. Die Vinyl-Schallplatte erlebt eine Wiederkehr (man kann sie jetzt auch digital abspielen). Physische Bücher verschwinden nicht, wie die Digitalisten es prophezeiten. Sie evolvieren sich in immer neue Formen und Formate. Eine der erfolgreichsten Medienarten sind heute Podcasts, ein langsames, lineares Medium, das auf Zuhören und dialogischer Kompetenz aufgebaut ist.

Es wirkt die Trend-Gegentrend-Logik: Je mehr alles in Pixel zerfällt, desto wichtiger wird die wahrhafte menschliche Begegnung.

Selbst die Handschrift erlebt eine Renaissance. Ich kenne Menschen, die chinesische Kalligraphie erlernen. Das mag elitär sein, hat aber Äquivalente in der breiten Gesellschaft: Heute entwickeln sich wieder verbreitet Handwerks-Leidenschaften, bei denen man sorgfältig mit Material, Form und dem Wesen der Dinge umgeht.

Endlich entstehen neue Plattformen in der Welt des Digitalen, in denen die parasitären Regeln nicht gelten. Zum Beispiel Substack: Ein offenes Netz der Gedanken und Diskurse, in dem es erstaunlich würdevoll und im besten Sinne intellektuell zugeht.

In Sachen Bildung sind wir spät dran. Vielleicht zu spät. Es ist ein Skandal, dass erst heute damit angefangen wird, Kinder und Jugendliche vor der digitalen Welt zu schützen. Obwohl das Bildungssystem als Ganzes immer noch im 20. Jahrhundert verharrt, gibt es doch überall Aus- und Aufbrüche in eine neue Bildungs-Politik, die das kognitive Element berücksichtigt. In immer mehr Schulen werden die Smartphones aus dem Unterricht verdrängt – und gleichzeitig informelle Kompetenzen gestärkt. Länder führen heute Social-Media-Verbote für unter 16-Jährige ein. Und siehe da: Sogar Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Mehrheit DAFÜR!
time.com

„Die entscheidende Frage,“ so formuliert es Gérald Bronner in seinem Kapitel „Eine Pathologie der Digitalen Gesellschaft“, „lautet, ob wir uns diesem Spiegelbild (der digitalen Medien) stellen werden. Eine weitere, ob wir unser Handeln so auszurichten vermögen, dass uns die vielfältigen narrativen Wege, die auf dem kognitiven Markt angeboten werden, nicht vom vernünftigen Gebrauch des kostbarsten Schatzes der Menschheit abbringen … … Deshalb erscheint mir die kognitive Apokalypse als eine grundlegende Propädeutik (Vorbedingung) für jedes Projekt, das sich auf unsere Zukunft bezieht … Wer das Paradies sehen will, muss erst einmal durch die Hölle gehen.“

Kognitive Selbstbestimmung oder wie heißt das „Next Age“?

Nennen wir es provisorisch das Zeitalter der Metakognition.
Metakognition bedeutet, dass wir uns selbst als erkennende Wesen verstehen lernen. Es geht um Selbstkompetenz im Sinne eines neuen Umgangs mit Informationen UND Gefühlen. Es geht darum, dass wir uns selbst endlich kennenlernen. Es geht um:
Semantische Intelligenz
Kognitive Intelligenz
Emotionale Intelligenz
Angst-Resilienz

Millionen und Abermillionen Menschen verbinden sich derzeit zu einem neuen Verständigungsprozess über die innere und äußere Wirklichkeit. Zunächst geht es um Selbst-Techniken und Entschleunigungspraktiken: Meditation auch in säkular-kognitiven Varianten, Mental-Health-Prozesse, Therapievarianten in großer Zahl, systemische und kosmologische Spiritualität.
Es geht um einen emanzipatorischen Umgang mit Technologie. Vor allem mit Informationstechnologie.
Eine Rebellion gegen die digitale Verdummung.
Eine Hinwendung des Menschen zu sich selbst.

Als Beispiel für die anwachsende Bewegung des Human Upgrade sei hier die Initiative INNER DEVELOPMENT GOALS genannt, die sich den human-transformativen Zielen verschrieben hat und vom 15. – 17. Oktober in Stockholm einen globalen Summit abhält.

innerdevelopmentgoals.org – mehr dazu im neuen Beyond.

IDG Summit 2025

David Brooks, der Guru der mentalen Selbstveränderung in den verwirrten Vereinigten Staaten, drückt den Kern des Human Upgrade so aus:

„Metakognition ist eine Achtsamkeit, bei dem die kognitiven Funktionen des Gehirns genutzt werden, um ein unvoreingenommenes Urteil über Gedanken und Gefühle zu fällen. Metakognition erfordert zwar Übung und Disziplin, aber wenn man sie beherrscht, kann man sich selbst Ratschläge geben, wie sie ein rationaler Beobachter in der jeweiligen Situation geben würde, anstatt sich von hysterischen Impulsen leiten zu lassen. Statt also zu versuchen, die Trolle zu übertrumpfen, könnte man sich einfach sagen: „Lösch die App und mach weiter mit deinem Leben.“

HypermedialitaetHypermedialität, © Horx Future GmbH

Bevor eine neue Blüte des Bewusstseins entsteht müssen wir allerdings noch durch die finale Phase der Dritten Informationskrise hindurch: Künstliche Intelligenz.
Die Sprache trennt sich vom Menschen.
Die Bedeutung trennt sich vom Kontext.
Das Wissen wandert in die Maschinen.
Sogar die Erkenntnis wird kapitalisiert.
Und wir werden das Denken verlernen.
Wirklich?

Davon mehr in der nächsten Kolumne …

PS: Im November erscheint das Buch von Naomi Alderman zum Thema der Dritten Informationskrise: „Don’t Burn Anyone on the Stake Today“ (Verbrenne heute niemanden auf dem Scheiterhaufen).


Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.

Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com