26 – Die gehetzte Politik
Muss uns die Politik endlich wieder „richtige Zukunfts-Visionen” liefern?
Februar 2018
Jetzt geht es wieder richtig los mit dem großen politischen Katastrophen-Geschrei. KRISE! titelt der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe in 1.000-Punkt-Lettern, und schreibt über die Politik, die „auseinanderbricht“, weil „die Volksparteien das Volk nicht mehr erreichen“, weil das politische System „dysfunktional“ geworden ist, weil …
Meine Güte. Welches Titelbild würde der Spiegel eigentlich bringen, wenn WIRKLICH einmal eine Krise eintritt? Könnte es sein, dass die schwierigen Koalitionsverhandlungen eher ein Zeichen für die STABILITÄT unserer Demokratie sind? Ich frage ja nur. Und wäre es möglich, dass das derzeitige Gewurstel auch mit dem destruktiven Skandalismus vieler (nein, nicht aller) Medien zu tun hat? Man hat den Eindruck, dass die Politik wie eine Art Dschungelcamp inszeniert wird, eine Veranstaltung, die vor allem dazu dient, Klick- und Einschaltquoten zu steigern.
Die häufigste Journalistenfrage in den Talkshows: „Aber wollen Sie nicht doch Angela Merkel stürzen???”. Von STERN bis SPIEGEL, von ARD bis ZDF stimmen alle in den AFD-Chor von den „Altparteien” ein. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, nennt das die „gehetzte Politik”.
Bemängelt wird besonders das Fehlen von „Visionen”. So gut wie alle sind sich einig: „Die Politik” MUSS endlich wieder „die große Richtung vorgeben”. Es braucht, so tönt es überall, einen „Großen Wurf”.
Mir wird dabei, gerade weil ich mich ein bisschen mit Zukunftsvisionen auskenne, etwas übel. Der Ruf nach einer erlösenden Vision verrät ein grundlegendes Missverständnis gegenüber der Politik. Und vielleicht steckt hier sogar der eigentliche Grund für die Turbulenzen im politischen System.
Das Fatale des letzten Wahlkampfes – und der Fluch der SPD – war ja gerade, dass ENDLICH WIEDER der „große Wurf” versucht werden sollte. GERECHTIGKEIT! Als politische Parole ist das ein Teufels-Begriff. Er markiert ein moralisches Maximum, das niemals zu erreichen ist. Er suggeriert etwas, was die Politik in Wirklichkeit nie leisten kann. Gerechtigkeit ist nämlich kein objektiver Zustand, kein Ziel, das man strategisch oder taktisch erreichen kann. Sondern eine durch und durch emotionale Wahrnehmungsform.
Die Welt ist, seien wir ehrlich, IMMER ungerecht. Egal, wie sehr wir auch Chancen und Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die Unterschiede zwischen Menschen lassen sich einfach nicht abstellen (und wenn ja, dann nur durch den Preis der Despotie; das hatten wir schon in mehreren Varianten). In den Millionen Entscheidungen eines Lebens kann ungeheuer viel schiefgehen. Aber auch gelingen. Überall spielt der verdammte Zufall eine Rolle. Man kann, je komplexer die Gesellschaft wird, leicht straucheln. Aber auch überraschend Erfolg haben. Das ist DOPPELT ungerecht!
Weil die Welt „kontingent” ist, das heißt von unendlichen Möglichkeiten durchzogen, bedeutet das für die Gerechtigkeit: Sie kann immer nur IM NEGATIVEN VERGLEICHSMODUS erlebt werden. Als subjektive UN-Gerechtigkeit! Als Zorn-Attacke. Als Defizit. Gerechtigkeit hat sozusagen nur einen negativen Fußabdruck, keinen positiven. Wenn dem Einen etwas gegeben wird, ist das sofort ungerecht. Denn man SELBST, oder die eigene Gruppe bekommt womöglich gerade nichts.
Jede Gerechtigkeitsdebatte erzeugt dabei sofort Ansprüche, die ins Bizarre und Unbegrenzte steigen müssen; sie ist wie eine Hydra, der man, wenn man ihr einen Kopf abschlägt, immer neue nachwachsen. Wie bitte? Geld für neue Kindergärten? Und wir Rentner? Werden wieder über den Tisch gezogen. Mehr Mütter- Witwenrente, Zusatzrente? – das ist reine Gerontokratie! Krankenkassen-Ärzte sollen mehr Geld kriegen? Wird den Ärzten nicht schon genug Geld hinterhergeworfen? Elektroautos? Nur was fürs grüne Milieu, unsereins bliebt bei einem anständigen Verbrenner! Schnelles, teures Internet für alle? Wozu brauch ich Internet, das ist doch nur was für die Eliten! Undsoweiter…
Das heißt im Klartext: Die Menschen (Wähler) sind in Wahrheit gar nicht an Gerechtigkeit interessiert. Sondern nur an Ungerechtigkeit. Sie empören sich gerne, lassen aber einen Kandidaten, der etwas verspricht, was sie eigentlich nicht glauben und was nie passieren kann, sofort wieder fallen. In diese Falle ist die SPD hineingetappt wie ein großer, gutmütiger Bär.
Gerechtigkeit-Kampagnen verwandeln den politischen Diskurs in eine Spalter-Arena, eine endlose Neid-Spirale. Auf diese Weise wird der Kern des sozialen Kontraktes zerstört. Georg Cremer, einer der wenigen erleuchteten Armutsforscher, hat das in einem ZEIT-Online-Interview auf den Punkt gebracht:
„Die Abstiegspanik in der Mitte macht unsere Gesellschaft unsolidarischer. Eine große Mehrheit der Menschen sagt, in Deutschland gehe es ungerecht zu. Wenn man die gleichen Menschen aber fragt, was man gegen diese Ungerechtigkeit tun kann, dann wird die Besserstellung von Hartz-IV-Empfängern oder Hilfen für Menschen mit Migrationshintergrund nur von einem Viertel genannt. Sie treiben eher Gerechtigkeitsfragen um, die in der Mitte der Gesellschaft eine Rolle spielen, dass der Lohnabstand zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen gewahrt bleibt oder gleiche Arbeit auch gleich bezahlt wird. Das sind auch wichtige Fragen. Aber wir brauchen eine Mitte, die mit den Menschen am Rand empathisch ist und nicht selbst in Angst erstarrt. Dann hat Politik für Randgruppen eine Chance.”
Das zweite Kernproblem der Gerechtigkeits-Parole ist ihre rein LINEARE Dimension. Sie bleibt so gut wie immer auf der alten primitiven Umverteilungs-Ebene stecken. Geld soll alles lösen. Aber Geld wozu?
Was passiert, wenn man, wie im Koalitionsvertrag verhandelt, 8.000 neue Pfleger finanziert? Ändert sich dann wirklich etwas in der Alterspflege? Wohl kaum, die Defizite werden nur sichtbarer, denn das Problem liegt viel tiefer. Ändert das schnelle Internet in Süd-Sachsen die miese Laune der Ansässigen und die Investitionsfreude von Außen? Wohl kaum. Können 1 Million schnell in den Markt gedrückte Wohnungen etwas an der Lebensqualität der Städte verbessern? Vielleicht ein bisschen. Vielleicht sind billige Wohnungen aber auch nur eine Täuschung, was die wahren Probleme des Wohnens betrifft. Die haben nämlich weniger mit Quadratmeter zu tun, sondern mit Nutzungen, mit QUALITÄTEN.
Der Grund, warum die alten Links-Rechts-Achsen nicht mehr funktionieren (und warum die Linke „am Ende” erscheint,) liegen darin, dass in einer entwickelten Wohlstands-Gesellschaft Umverteilungen einen ständig sinkenden Grenznutzen haben. Eine echte Zukunftspolitik entsteht erst dann, wenn wir verstehen, dass an einem bestimmten Punkt der sozialen Komplexität nur komplett neue Systeme in die Zukunft führen.
Unser „Gesundheitssystem” zum Beispiel: Es ist in Wirklichkeit ein Krankheits-System, in dem ALLE Spieler gewinnen, die an Krankheit Geld verdienen. Diese fundamentale Fehlsteuerung, die die Kosten dauernd in die Höhe treibt und den Patienten umso mehr zu einer Art Melkkuh macht, je kränker er ist, kann man nur durch ein System überwinden, das auf GESUNDHEIT und HEILUNG ausgerichtet ist (das geht sehr wohl, aber das würde hier zu weit führen).
Wenn man mehr Geld in Schulen gibt, dann ist das prinzipiell gut, aber wenn man damit nur mehr überforderte und schlechte Lehrer damit finanziert, verschärft man nur die Misere. Das Elend der Alterspflege besteht in Wirklichkeit in der Vereinsamung der Menschen, in der sozialen Isolation, die die institutionelle Pflege zu einer hoffnungslosen Verwahranstalt macht. Wie könnte man das ändern? Eben NICHT, indem man die alten Institutionen aufrüstet. Sondern in dem man die Beziehungen zwischen Alt und Jung, die gesellschaftlichen Konnektome, neu vernetzt. DANN macht mehr Geld auch Sinn: Zum Beispiel in intergenerativen Wohnformen, in denen Alt und Jung in neuen Siedlungsformen zusammenleben, die auch so etwas wie »Heimat« werden können. Eine Alternative zu einem Wohnungsbau, der nur eine Million Standardwohnungen hinknallt, die in zwanzig Jahren schon wieder leer stehen, wären Co-Living-Projekte. Davon gibt es inzwischen mehrere Tausend in Deutschland. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, Baukredite zu bekommen.
Das alles erscheint nur utopisch. Elitär irgendwie. Aber genau das ist das wahre Wesen des Fortschrittes. Früher hatten allenfalls die Fürsten ein Wasserklo und eine Kutsche. Fortschritt besteht nicht darin, den befürchteten Mangel umzuverteilen, sondern das Bessere, Komplexere, für immer mehr Menschen zugänglich zu machen. Das bedingt allerdings auch, dass Menschen sich ändern wollen – in Richtung einer besseren Zukunft.
Ist eine ehrliche, qualitative und »radikale« gesellschaftliche Zukunftsdebatte überhaupt möglich? Vielleicht schon. In Island hat man nach der Finanzkrise, die das Land völlig in die Pleite riss, einen breiten Zukunfts-Bürgerprozess organisiert, in dem sich die Gesellschaft neue, QUALITATIVE Ziele gesetzt hat (und ein Punk wurde Bürgermeister der Hauptstadt).
Neue Demokratieformen mit mehr Partizipation gibt es durchaus – man muss nur hinschauen (etwa ins Ministerium für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, wo meine Freundin Gisela Erler neue Formen der Beteiligungs-Demokratie entwickelt). Die Zukunft wird mehr und mehr auf der kommunalen Ebene entschieden. Neben dem viel beklagten Großstadt-Trend gibt es längst eine »Progressive Provinz«, mit charismatischen Bürgermeistern und aktiven Gemeinden, die ihre Identität nicht im Hass gegen Flüchtlinge suchen.
Eine solche Zukunfts-Politik agiert IMMER jenseits von Rechts und Links, von Populismus und Angst. Es ist nicht mehr eine lineare, sondern eine DREIDIMENSIONALE Politik. Sie umfasst nicht nur die Verteilungsachse, sondern auch die Beziehungsebene, den konkreten Menschen, sie setzt auf Innovationen der Systeme und Institutionen. Sie spricht nicht nur die Brieftasche und den Bauch an, sondern das Herz und die Fantasie.
Visionen funktionieren immer dann, wenn sie Menschen zu einem Prozess der Selbstveränderung, der inneren Emanzipation, des NEU-Denkens und NEU-Fühlens animieren. Das ist genau der Weg von Macron, der mit seiner politischen Vitalität auf den Willen Vieler zur Umgestaltung zielt. Seine Kunst ist es, die Verbitterung in Energie umzuformen.
Das heißt auch: Zukunfts-Politik muss provozieren. Sie muss unbequem sein. Sie muss uns in den Komfortzonen der Rechts-Links-Blödheit stören. Sie kann nicht einfach den Frustrierten nach dem Mund reden („die kleinen Leute mitnehmen”), sie muss sie auch zur Aktivität herausfordern.
Letztendes geht es nicht darum, Ängste zu BEDIENEN, wie Linke und Rechte das verzweifelt versuchen, sondern sie in Richtung auf neue gesellschaftliche Kooperationen zu ÜBERWINDEN. Politik kann dabei nur wirken, wenn die Gesellschaft, die »vielen Einzelnen«, selbst bereit für einen Wandlungsprozess sind. Das ist die Erfahrung meiner Generation. Als in der Willi-Brandt-Ära die Parole „Mehr Demokratie wagen” aufkam, wollte eine große Mehrheit genau das.
Alle wichtigen Reformen, man denke an die Schwulenrechte, oder auch die Energiewende, entstanden IN der Gesellschaft – und wurden dann von der Politik aufgegriffen. Auch heute gibt es, allen Unkenrufen zum Trotz, den Willen zum Fortschritts-Wandel aus dem Inneren der Gesellschaft heraus. Neo-Politik besteht in der Kunst, diese Sehnsucht der Herzen zu spüren, ihr Worte und Richtung zu verleihen, jenseits der alten Kisten und Schachteln, in denen der Schnee von gestern moralisch verpackt wird.
Es mag ja sein: Noch sind wir nicht soweit. Noch spürt man wenig von einer Aufbruchsstimmung, dafür umso mehr von Angst und Hysterie. Aber man kann das Politische nicht hetzen. Bis zu neuen Modernisierungs-Mehrheiten ist die vielgeschmähte GROKO einfach des Beste, was wir haben. Wir sollten ihr dankbar sein. Habe ich schon gesagt, dass Dankbarkeit eine wichtige Zukunfts-Eigenschaft ist, vielleicht die wichtigste überhaupt?
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