41 – Das große Aufräumen

Oona Horx-Strathern

Nie war der Reduktions- und Simplifizierungs-Trend so groß wie heute. Genau darum geht es in den 20-er Jahren: Die Welt aufräumen. Gründlich, achtsam und hartnäckig. Die äußere und die innere Welt.

“Chaos is where we are when we don’t know where we are, and what we are doing when we don’t know what we are doing. It is, in short, all those things and situations we neither know nor understand.&rdquoK

„Chaos existiert, wenn wir nicht wissen, wo wir sind, und was wir machen, wenn wir nicht wissen was wir machen. Es handelt sich, kurz gesagt, um all die Dinge und Situationen die wir weder kennen noch verstehen.”

Jordan B. Peterson, 12 Rules for Life: An Antidote to Chaos

Was, um alles in der Welt, haben der Provokations-Psychologe Jordan B. Peterson, der durch seine Anweisungen für junge verunsicherte Männer (“12 Rules for Life”) bekannt wurde, und die Aufräum-Ikone Marie Kondo gemeinsam? Beide sind Autoren von Weltbestsellern. Und beide verbinden gemeinsame Interessen (oder Obsessionen) mit dem Konzept der ORDNUNG und des AUFRÄUMENS. Während sie aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen stammen (Japan und Kanada) und äußerst unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, kommen sie doch zu ähnlichen Schlüssen.

Petersons Buch trägt den Untertitel „Ein Gegenmittel für Chaos”. Er predigt, dass „den Raum aufräumen viel mehr bedeutet als den Raum aufzuräumen”. Kondos Buch mit dem Titel „Die Magie des Aufräumens” handelt davon, dass wir nur das behalten sollten, was unserem Leben wahrhaftig FREUDE bringt. Und dass Aufräumen unser ganzes Leben transformiert.

Warum hören wir heute so viel über das Ordentliche, das Aufgeräumte und das Entrümpelte – nicht unseres Kellers, sondern unseres ganzen Lebens? Dieser Trend ist viel mehr als nur das Socken-Sortieren oder das Ausmisten der Küchenschränke. Oder das Schreiben von To-Do-Listen. Es geht um die größeren Trends und Wandlungen der Gesellschaft.

Es geht um die Kunst der Klärung.

Zunächst ist da das Empfinden vieler Menschen, dass ihr Leben am Limit des realen UND virtuellen Verstehens verläuft. Wir wissen immer weniger, in welchem Film wir gerade sind. Wir müssen nicht nur den unendlichen Strom der DINGE bewältigen, sondern auch noch unsere Software-Angelegenheiten – Websites, Apps, Codes, Mitgliedschaften, Facebook-Verbindungen und Twitter-Verwicklungen, die sich im Laufe eines digitalen Lebens ansammeln. Unfähig, zwischen KOMPLEXEN und KOMPLIZIERTEN Systemen zu unterscheiden oder zu wählen, fühlen sich die meisten Menschen von technologischen Verlockungen überwältigt. Viele leiden unter AKZELERITIS – dem Gefühl, dass alles schneller und schneller wird, und man selbst wie ein Verrückter strampeln muss, um hinterherzukommen. Wie der Computerwissenschaftler Danny Willis argumentiert: Wir sind von der Aufklärung zur Verwicklung gelangt – “enlightenment to entanglement”. Wenn das Leben in unserer Wahrnehmung immer komplizierter und mehr und mehr außer Kontrolle gerät (einschließlich unseres Planeten), schauen wir eben, was wir kontrollieren können – durch unsere metapolitischen Sichtweisen, oder den strengen Blick in unsere Schränke und Sockenschubladen.

Soziodemographische Trends wie die Verlängerung steigende Lebenserwartung führen zu mehr Lebensphasen, höherer Mobilität und Flexibilität, und das heißt dass mehr Menschen für kürzere Zeit an einem Ort wohnen. Das urbane Wohnen tendiert zu kleineren Räumen mit mehr »shared spaces«. Dafür brauchen wir Lösungen – psychologische und physische, nicht nur für Lagerung, sondern auch für das Management, den Transport und die Repräsentation unserer Dinge. Kein Wunder, dass Henry David Thoreaus Werke ein Comeback erleben, der an Einfachheit glaubte und in seinem Buch „Walden” schrieb:

„Ich habe drei Stühle in meinem Haus. Einen für Alleinsein, zwei für Freundschaft, drei für Gesellschaft…“

Heute besitzt ein durchschnittlicher Bewohner eines Wohlstandslandes zwischen 10.000 und 30.00 Gegenstände, und wir brauchen für diese Dinge nicht nur physischen, sondern auch mentalen Raum. Nicht nur helfen uns die Dinge zur Identitätskonstruktion, sondern auch, wie Susanne Walker in ihrem Buch „Das Leben der Dinge” formuliert:

„Wir glauben, dass Dinge die Essenz der menschlichen Personalität beinhalten und die Zeit einfrieren können… unsere Dinge können uns helfen, uns sicher zu fühlen oder dienen als Behältnisse für Gefühle, mit denen wir nicht in anderer Weise klarkommen.”
(Life of Stuff, Seite 7).

Reorganisierungs-Hilfen kommen seit Jahren in vielfältigen Verkleidungen und Formen auf den Markt der Lebenshilfen. Jordan Peterson wird nicht müde, in Interviews zu wiederholen: „Organisiere Deine lokale Landschaft – und fange klein an. Heute vielleicht diesen Raum, denn dieser Raum bist Du!”. Auf einer weniger elaborierten Ebene druckte das Cosmopolitan-Magazin kürzlich den „großen Cosmo-Guide für 27 Tricks, mit denen Wohnung, Kopf und Leben ganz easy aufgeräumt werden können!”. Unter dem Titel TOTAL IN ORDNUNG wurden die Leserinnen zuerst gebeten, sich vorzustellen, dass ihr Küchenboden so blitzblank ist, dass Sie darauf sofort Sex haben wollten. Der Artikel behauptete weiter, dass sich das nicht „wegen dem Sex so gut anfühlt, sondern deshalb, weil die äußere und innere Ordnung eng miteinander verbunden sind”. Nun ja. Es folgte das Zitat eines typisch deutschen Aufräum-Gurus, Lothar Seiwert: „Wenn wir Dinge reduzieren und notieren, befreit das ungemein, sowohl im Kopf als auch im Alltag. Ausmisten ist wie Seelenhygiene.”

Wir leben auf PEAK STUFF, dem Gipfel des Lebens-Ramsches und der Bedeutungsflut.

Ähnlich argumentiert die »Clutter-Therapeutin« Julieanne Steel: „Das Wichtigste ist unser INTERNER Kram, die INNERE Vermüllung – die engen Prozesse, die das Chaos erst erzeugt und ermöglicht haben”. So hängen wir uns an eine endlose Kette von Dingen, um an einer angeblich glücklicheren Zeit FESTZUKLAMMERN – statt uns auf eine bessere Zukunft zu fokussieren. Eine ähnliche Denkweise vertritt Gretchen Rubin in „Äußere Ordnung, innere Ruhe” (Outer Order, inner Calm – Declutter and Organize to make Room for Happiness). Professionelle Aufräumer sind inzwischen so verbreitet, dass sie sogar Thema eines Thrillers wurden. BE CAREFUL WHAT YOU WISH von Hallie Ephron erforscht die meuchlerische Welt dieser neuen Sorte von Life-Coaches.

Jamie Lee Curtis, selbst eine bekennende »Neatnik«, eine hippe Ordnungsfanatikerin, besprach diesen Krimi im TIME MAGAZINE (Aug.5/19) und beschrieb den Aufräum-Wahn als „unfruchtbare Marotte” (fruitless fad). Eine hilflose, ja hysterische Reaktion auf die Konversion aller unserer Technologien zu einer einzigen Konnektivität, dinglich und digital, verbunden mit dem nagenden Gefühl, dass wir außer Kontrolle sind – überwältigt von Drogen und Übergewicht und einem nur einen Tweet entfernten Atomkrieg. Wenn wir uns auf die Ordnung innerhalb unserer Häuser fixieren, verpassen wir den Punkt: Leben ist unordentlich. Und Menschen auch. Über beides die Kontrolle ausüben zu wollen ist nur ein Symptom unserer Verzweiflung.

Ein anderes Motiv für die Obsession mit dem Aufräumen ist, dass »Dingräume«, wie die Anthropologin Petra Beck die Ablagerungsflächen in Wohnungen nennt, langsam verschwinden. Aus vielen Dachgiebeln wurden Studio-Apartments, und Keller sind meistens kein Guter Platz für das Kostbare, das uns umgibt. Neuere Appartements haben keinen Stauraum mehr, schon aus Kostengründen. Zu diesen Schrumpfungen aufgrund von »Micro-Living« und »Smart Living« verhält sich der »Abstellraum« wie ein unnützer Luxus.

Ausdruck dieser architekturellen Änderungen sind die unzähligen »Self-Storage«-Häuser, die überall in den Städten entstanden sind – Warenhäuser für das intim Abgelegte. Diese »Häuser für Dinge« wurden zuerst im 19. Jahrhundert errichtet, für Upper-Class-Familien, die lange Zeit auf Reisen gingen. Heute sind zwei Drittel der Mieter Kunden mit biographischen Lebens-Wechseln – freiwillige oder unfreiwillige.

Nach Petra Becks „Wo Dinge Wohnen – Das Phänomen Self-Storage” sind die Gründe für das Ausparken der Dinge die VIER D:
Divorce (Scheidung),
Displacement (Umzug),
Death und
Downsizing, die Verkleinerung der Wohnfläche.

Während die Storage-Anbieter argumentieren, die Ablagerung verhelfe zu einem einfacheren und organisierteren Leben, vermuten andere, dass das Problem des Chaos einfach in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum ausgelagert wird.

Wir denken über den »Tidyismus« primär als ein Problem mit der physikalischen Welt. Aber unser virtuelles Leben ist mindesten gleichermaßen betroffen. Der »Digitale Hoarder« ist das Äquivalent des Messies im Realraum. Es gibt viele Menschen, die keine einzige E-Mail oder ein Foto löschen können. Nach Susanne Walker, der Autorin von “Life of Stuff”, lässt sich das auf ähnliche Blockaden und Pathologien wie in der Welt der Dinge zurückführen – schon wächst die Anzahl der Digitalen Ordnungs-Helfer, aus der Serie: „Wir ordnen ihr digitales Leben!”

TIDYISMUS betrifft alle Aspekte des modernen Lebens, und mehr und mehr betrifft es auch das Aufräumen von IDENTITÄTEN und AVATAREN. Wir brauchen Räume, in denen wir unsere wahren offline-Charaktere ausdrücken und genießen können. Das wahre Smart-Home der Zukunft wird jener Ort sein, an dem wir unser Glück durch das Würdigen, Inszenieren und Aufbewahren der wirklich wichtigen biographischen Dinge unseres Lebens finden. Wie Henry David Thoreau in WALDEN sagte: „Ein Mensch ist reich in Bezug auf die Anzahl der Dinge, bei denen er sich leisten kann, sie nicht zu besitzen.”

“A man is rich in proportion to the number of things which he can afford to let alone.”


Park Books: Wo Dinge Wohnen – Das Phänomen Selfstorage, 2019
Erhältlich bei Amazon: Wo Dinge wohnen

Susannah Walker: The Life of Stuff – Possessions, obsessions and the mess we leave, 2019
Erhältlich bei Amazon: The Life of Stuff

Gretchen Rubin: Outer Order, Inner Calm – Declutter and Organize to make room for Happiness, 2019
Erhältlich bei: Outer Order, Inner Calm

Julieanne Steel: Unclutter your life, http://unclutteryourlife.co.uk

Im Home Report 2020 wirft Wohn-Expertin Oona Horx-Strathern einen kritischen Blick auf die Veränderungen unserer Lebensräume und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Dabei benennt sie die wichtigsten Wohn- und Designtrends, zeigt die größten Herausforderungen und zukunftsfähige Strategien im Wohn­bau­sektor auf, legt den wahren Kern von Smart-Home-Systemen frei und stellt inspirierende Architekten, Planer und Designer vor, deren innovative Ideen und zukunftsorientiertes Denken zu einem besseren Zuhause der Zukunft führen werden.
Mehr Info: Home Report 2020