44 – Willkommen im Greta-Zeitalter

Wie wir die 20er Jahre klüger begrüßen können als mit Nostalgieshows oder Zukunftsangst

Ein Jahrzehnteanfangstext

Es ist seltsam, wie hartnäckig sich unser Geschichts- und Zeitgefühl nach Jahrzehnten sortiert: Die 60er, die 70er, die 80er, die 90er Jahre – rund um die Uhr dudelt im Radio derart katalogisierte Musik, versetzen uns Serien und Dokumentationen in die jeweiligen »Zeitalter«: Tütenlampen / Plateausohlen / Schlaghosen / 99 Luftballons / Vokuhila / Mauerfall / Winds of Change / Lady Gaga.

Wir werden nicht müde, uns in ewigen Rückblenden jene Erfahrungen zu erzählen, die wir gewohnt sind. Dabei runde Zahlen zu benutzen, vermittelt das Gefühl von SINN und Ordnung. Auch wenn Jahrzehntwenden in Wahrheit rein fiktive Ereignisse sind, können sie uns doch Orientierungshilfen bieten. Sie ermöglichen ein Innehalten, ein Erkennen: Was ist in in einem Zeitraum von zehn Jahren wirklich geschehen? Wie hat sich die Welt verändert – und vor allem: wir uns in ihr?

Offenbar leben wir in einer Zeit dämonischer Furcht vor der Wiederkehr alter Schrecken. „Sind wir heute nicht wieder in einer Situation wie vor hundert Jahren?” – so lautet eine beliebte Frage in den meist düsteren Talkshows. Fängt nicht alles wieder von vorne an – Wirtschaftsschwäche, Schuldenkrise, Massenhysterie, Diktatur, Weltenbrand? Laurie Penny, eine amerikanische Publizistin, brachte das panische Zeit-Gefühl so auf den Punkt:

Wenn wir uns mit dem aktuellen Moment der modernen Geschichte beschäftigen, fühlt sich das an wie eine endlose Panikattacke. Fluten, Feuer, Wahlen. Impeachment-Anhörungen, eine Flut von grinsenden autoritären Shitclowns, die jeden verhöhnen, der sie davon abhalten möchte, die Welt in Einzelteile zu zerlegen. All das implodiert in einer Art hektischer Immanenz, einen Kollaps von Zeitlinien. Im Moment ist das, was viele von uns erfahren, eine Art Kultureller Depression, ein „Fieber im kollektiven Kopf”. Eines der Symptome von Menschen mit Depressionen ist die Unfähigkeit, sich die Zukunft vorstellen zu können. Das heißt nicht, dass sie sich nicht vorstellen können, dass jemals wieder etwas Gutes passiert – sie können nur keine »ganze« Zukunft mehr imaginieren.

Tatsächlich scheint uns im vergangenen Jahr die Zukunft im Sinne eines Besseren abhandengekommen zu sein. Obwohl, oder gerade, weil ZUKUNFT – groß geschrieben! – ein unendlich inflationierter Begriff geworden ist: Auf allen Business-Broschüren, Plakaten, Anzeigenkampagnen taumeln grinsende Roboter unter dem ZUKUNFTS-Logo durchs Bild, auf den Werbeplakaten fahren SUVs unaufhörlich in die ZUKUNFT (weite Landschaften, leuchtendes Grün), alle Parteiprogramme wimmeln von ZUKUNFTs-Phrasen. Aber je mehr der Zukunftsbegriff zum Allgegenwarts-Wort wird, desto hohler erscheint er in seinem Inneren.

„Wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines SIE, als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können. Es wird in Gestalt eines WIR kommen.”
Karl Ove Knausgård

Das liegt nicht an der Ökonomie, stupid. Auch nicht wirklich an der Politik. Es liegt an einer radikalen Veränderung der Wahrnehmungsformen – an einem Verlust dessen, was wir gemeinhin »Realität« nennen.

Das Jahrzehnt der Negativität

Aus dem großen Trend zur Individualisierung hat sich, befeuert durch das Digitale, ein neues Massenphänomen entwickelt: Die subjektiven Total-Entäußerung. Wir leben seit rund zehn Jahren in einer Epoche, in der alles Private, Subjektive, Gefühlte und Gemeinte nicht nur unentwegt ausgestellt, sondern auch benutzt, gesteigert und »gestylt« wird. Wie Hans Magnus Enzensberger es in seinem jüngsten Altersbuch mit melancholischer Milde ausdrückte: „Anthropologische Veränderung: Nicht nur, dass es früher klinisch kranken Leuten vorbehalten war, im öffentlichen Raum ihre intimsten Probleme und Obsessionen lauthals preiszugeben. Auch eine neue Gestik ist zu beobachten. Fast überall führen Menschen Geräte mit sich, zu denen sie ein erotisches Verhältnis pflegen. Sie wischen, fummeln, wedeln und stöpseln, kitzeln, streicheln, knuddeln und massieren, was bei Unbeteiligten, sofern es sie gibt, ein Gefühl der Fremdscham hervorruft.&rfquo; (Nur ein Notizbuch).
Die Prophezeiung der Always-Online-Kultur hat sich voll und ganz bewahrheitet. Damit sind wir ins Zeitalter der HYPERMEDIALITÄT eingetreten. Hypermedialität bedeutet, dass Medien nicht mehr Wirklichkeiten und Öffentlichkeiten reflektieren und vermitteln. Sondern dass sie Realitäten auf direktem Wege herstellen.

Übertreibung ist die Wahrheit, die ihre Laune verloren hat.
Khalil Gibran

Über den Skandal in der Talkshow schreiben die Zeitungen am nächsten Morgen, worauf ein shitstorm entsteht, über den in den Zeitungen berichtet wird, worauf eine Welle von Talkshows das Thema aufgreift. Dieter Nuhr erregt sich über die Empörung, die seine Empörung über Empörungen erzeugt. Mikroaggressionen werden zu Kampagnen, Hass reagiert auf Hass, Vermutung auf Vermutung. Die harte Währung dieser Schreckensökonomie ist die Angst, ihre Gestalt ist die »Meineritis«, eine Art Entzündung der Diskurskanäle der Gesellschaft. Felix Stephan brachte es in der Süddeutschen so auf den Punkt: „Wir leben in einer öffentlichen Arena, die darauf angelegt ist, dass die Debatte ständig eskaliert aber auf keinen Fall vom Fleck kommen darf.”

„Die Digitalmoderne liefert keine verbindlichen kollektiven Bilder, keine »Erzählungen der Zukunft«, zumeist nur Trennendes, nur Hass und Zwietracht und Fake News.” so formulierte es die Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tocarczuk bei ihrer Dankesrede in Stockholm.

Nennen wir es eine KOGNITIVE KRISE. Wir wissen nicht mehr, was wahr ist, und zunehmend auch nicht mehr, was Wahrheit eigentlich bedeutet (eine Wirklichkeit, auf die wir uns einigen können). »Realität« – als jener Zusammenhang, zu dem wir uns als Menschen, als Gesellschaft in Beziehung setzen können, scheint zu verschwinden. Aber wie jede Entwicklung der menschlichen Kultur erzeugt auch diese eine Gegenkraft. Im Schrecken des aktuellen Problems verbergen sich immer schon die Lösungen von Morgen.

Das Neue Innen

Hinter dem Lärm der Erregungs- und Gefühlsorgien waren die Zehner Jahre auch ein Jahrzehnt der neuen Innerlichkeit. Psychologie war der heimliche Gewinner; auch die Philosophen erlebten ein Comeback. Einer der großen Bestseller der Dekade war Daniel Kahnemanns „Schnelles Denken, Langsames Denken“, ein Buch über die Art und Weise, wie wir kognitiv Wirklichkeit konstruieren.
Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken

Selbst Yuval Noah Hararis Zukunfts-Epos „Homo Deus”, das den Posthumanismus in verdaubarer Dosis präsentiert, wendet sich am Ende der Internalität zu: im letzten Kapitel empfiehlt der Autor Meditation als allein wirksame Weltordnungstechnik. Die eigentliche, die latent mächtige Frage der Dekade lautete: Wer SIND wir eigentlich?
Yuval Noah Harari: Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen

Die Menschheit kann nie sehr viel Wirklichkeit vertragen.
T.S. Eliot

Meditation und Yoga sind heute anerkannte Kulturtechniken, die selbst in Behörden betrieben werden. Buchtitel wie „Gelassenheit“ und „Würde” erreichen Millionenauflagen (überhaupt wird wieder mehr analog gelesen – wurde uns nicht noch vor kurzem prophezeit, dass Bücher »demnächst« nur tote Bäume sind?). Der Begriff der Achtsamkeit hat sich zu vielleicht größten Sehnsuchtsbegriff unserer Tage entwickelt. Großunternehmen ernennen Achtsamkeits-Manager, und Millionen Menschen sind gerade dabei, der medialen Erregungs-Hydra den Rücken zu kehren.

Wenn Richard David Precht uns auffordert, „Achtsam zu sein und das eigene Gehirn in Sicherheit zu bringen”, formuliert er einen Kernwunsch unserer Zeit: die Sehnsucht nach mehr Freiheit zwischen Reiz und Reaktion (der berühmte Psychiater Victor Frankl). In gewissem Sinne kehren wir damit zurück zu Bewusstseinsfragen der 60er und 70er Jahre: Wie können wir uns als Individuen so verändern, dass auch ein gesellschaftliches WEITER ermöglicht wird? Wie werden wir unabhängiger, freier von den Konditionierungen der Konsum- und Mediengesellschaft? Der Begriff, der damals wichtig war und demnächst eine Renaissance erlebt, lautet: Emanzipation – im Sinne des Ausstiegs aus der erlernten Unmündigkeit.

Die Demenz des Digitalen

Die große Story, der revolutionäre Mythos dieses vergehenden Jahrzehnts war ohne Zweifel der Digitalismus. Diese Ideologie hatte magische Geschichten zu bieten, Narrative von höchster Faszination: Künstliche Intelligenz, Smart Living, Bitcoin- und Blockchain-Mirakel, Virtuelle Wunder, Internet der Dinge und erweiterte Realitäten. Im Rausch des »Dataismus« nahmen die Errungenschaften der Computertechnik bisweilen halluzinative Formen an, bis zum Status einer semireligiösen Erlösungsphantasie. Bis er erst vor Kurzem dem wich, was man »digitale Ernüchterung« nennen kann, oder auch den digitalen Katzenjammer.

In den USA begann dieser Ernüchterungs-Prozess schon Jahre früher. WIRED, das Leitmagazin des digitalen Pop, prägte im Trump-Wahljahr 2016 den Begriff »Techlash«, eine Mischung aus »Backlash« und Technik. Pünktlich zur Jahrzehntwende veröffentlichte WIRED jetzt eine melancholische Rückwärts-Bilanz der digitalen Revolution:

„Wenn man durch die ersten 25 Jahre WIRED blättert, fällt auf, dass die Zukunft niemals gleich verteilt wird. Die Zukunft hört einfach nicht auf, anzukommen, zu mutieren… Zurückblickend auf WIREDs frühe Visionen der digitalen Zukunft erscheint als größte Fehler die Annahme, dass die Ökonomie des Überflusses die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten beenden würde. 1997 argumentierte John Katz, dass wir „Zeugen einer neuen Gestalt von Nation sind, der DIGITAL NATION – und die Formung einer postpolitischen Philosophie. Die Digitale Nation zeigt den Weg zu einer rationaleren, weniger dogmatischen Politik. Die Informationen der Welt sind befreit, und in Folge werden auch WIR befreit sein!“ …Wir würden alle Millionäre, alle Kreative, alle würden wir vernetzte Kollaborateure. Doch was als tiefe Einsicht in das Wesen von Bits und Atomen begann verwandelte sich kurzerhand in eine Goldgrube für Investitionskapitalisten, um große, lukrative Märkte durch die Unterwanderung von Regulationen zu erobern. Aus der Sharing -Ökonomie von gestern wurde die Gig-Ökonomie von heute.”
www.wired.com

Am Anfand der Zehner Jahre waren die Banker die verhassteste gesellschaftliche Gruppe. An ihrem Ende waren es die Tech-Tycoons aus dem Silicon Valley. Heute wird das digitale Wunder-Lied nur noch in einer bayerischen Partei, auf FDP-Parteitagen und auf den ewigen IT-Konferenzen mit 90 Prozent Männeranteil gesungen. Besonders die Autoindustrie gaukelt uns weiterhin vor, Mobilität könne durch »Digitalisierung« gewonnen, beziehungsweise ZURÜCKgewonnen werden. Inzwischen ahnen wir: In Zukunft stehen wir dann eben digital im Stau.

Der Abschied vom digitalen Utopismus heißt natürlich nicht, dass digitale Technologien wieder verschwinden. Aber wir treten in eine neue Phase ein, in der das Digitale Universum einerseits selbstverständlich wird, andererseits qualitativ NEU konstruiert werden muss. Die Zähmung und Zivilisierung des Internets steht bevor. Auch das ist im Grunde ganz normal: Neue Techniken erzwingen UND erzeugen immer auch neue Soziotechniken – erst durch die damit verbundenen Krisen evolutionieren nach und nach intelligentere Systeme, die man in der heutigen Sprache »nachhaltig« nennt.

Greta Thunberg oder das Gefühl der Eindeutigkeit

Womit wir bei Greta Thunberg wären.
Immer in turbulenten Übergangszeiten tritt scheinbar aus dem Nichts eine charismatische Symbolfigur – ein Zukunfts-Avatar – auf die Bühne der Weltgeschichte. Jeanne D’Arc, Gandhi, John F. Kennedy…

Dabei kommt es weniger darauf an, ob diese Personen tatsächlich »Erfolg« haben. Je umstrittener, ja verhasster sie sind (Kennedy wurde sogar erschossen), desto wirksamer weisen sie die Richtung auf den neuen zivilisatorischen Code.

By Anders Hellberg – Own work, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org

Als Aspergerin verfügt Greta über die seltene Gabe, die vielen »Abers« und »Wenns« zu ignorieren, die mit der Klima-Herausforderung zusammenhängen. HOW DARE YOU DESTROYING OUR FUTURE! Eine solche Haltung macht die Welt wieder frisch, weil sie sich nichts mehr einreden lässt.

Bei Menschen, die noch nicht völlig verbittert sind, entsteht dabei eine heilsame Wirkung, eine Katharsis, die ins Neue führt. Wir erkennen plötzlich schamvoll, dass sich mit dem ungeheuren (und unbestreitbaren) Erfolg des Industrialismus eine fatale Verstrickung verbindet. Die exzessive Nutzung fossiler Energien ist nicht nur ein Nebenaspekt unserer Lebensweise, sie ist der Kern eines Welt- und Naturverständnisses, das in die Sackgasse führt. Unsere Gesellschaft selbst ist auf gewisse Weise FOSSIL geworden. Der brutale Ökonomismus, der sich in der Verteidigung des »Extrahismus« zeigt, hält uns den Spiegel vor. Wir sind alle Junkies eine Lebensweise, die weder uns noch der Natur guttut.

Gegen alle Widerstände (ja gerade MIT ihnen) wird sich das ökologische Mem in diesem Jahrzehnt zum Schlüssel der zivilisatorischen Weltwahrnehmung entwickeln. Allerdings wird es sich dabei auch selbst verändern müssen. Verzicht und Vermeidung mögen vorübergehend notwendige Antworten sein. Aber der wahre GREEN DEAL tritt erst in Kraft, wenn das Ökologische zu einer Befreiungs- und GESTALTUNGS-Idee wird. Ökologie berührt nicht nur die Frage der stofflichen Kreisläufe, der Gestaltung der Mensch-Natur-Zusammenhänge. Sie betrifft auch Eigentums- und Demokratiefragen. Kommunikationsstile und Selbstbilder, Wertedimensionen und Lebensweisen, nicht zuletzt auch das Verhältnis der Geschlechter.

Die besondere Attraktivität des Ökologischen besteht darin, dass sie uns als Menschen, als Erdbewohner, auf neue Weise IN BEZIEHUNG setzt – was der ZEIT-Autor Bernd Ulrich in seinem Buch „Alles wird anders” mit dem Begriff »menschheitsneu« bezeichnet. „Mit der Klimakrise werden die Menschen in einer existentiellen und ganz praktischen Weise zueinander in Beziehung gesetzt und so auf neuer Stufe vermenschheitlicht.”

Kein Wunder, dass der populistische Nationalismus diese Idee mit jeder Faser bekämpft!
Probleme, die die Vergangenheit erzeugt hat, lassen sich jedoch nie mit den Mitteln der Vergangenheit lösen. Sondern immer nur auf einer neuen Stufe des Zusammenhangs. Der chinesische Autor Liu Cixin ist zu einem Superstar des Science-Fiction-Genres geworden. In seinem Opus „Die Wandernde Erde” (in einer wunderbar kitschigen Verfilmung bei Netflix zu sehen), macht sich »die Menschheit« gemeinsam auf, die vom Untergang bedrohte Erde zu retten. Das ist pathetisch, kindlich, und manchmal richtig rührend. Der chinesische Nationalismus erweist sich dabei als dienend und emphatisch. Die entfremdeten Generationen finden wieder zusammen. In der Wiedereroberung ihrer Zukunft läuft »die Menschheit« zu ganz neuen Formen der Kooperation auf. Sie konstituiert sich selbst.

Die Zwanziger Jahre des Einundzwanzigsten Jahrhunderts werden die Tür zu einem einzigen blauen Planeten dazu weiter aufstoßen, aller Hysterie, allem besserwisserischen Zynismus und aller Untergangsangst zum Trotz. Wir sind mittendrin in einem Wandel, den unser furchtverliebtes Hirn immer noch als Katastrophe missversteht.