52 – Die Große Weltverschwörung

Wie wir mit dem Verschwörungswahn umgehen können

Von allen zivilisatorischen Übeln, die wir gerne durch die Corona-Krise überwunden hätten, ist eines am schnellsten zurückgekehrt: der Verschwörungswahn. Das war abzusehen. In der Corona-Zeit haben viele Menschen Erfahrungen innerer Öffnung gemacht. Ausgerechnet im Lockdown erlebten sie NEUES im Sinne einer Re-Gnose, einer Selbstschöpfung. Andere jedoch wurden in eine innere Krise gestürzt, an deren Rand sie sich schon lange befanden.

Inzwischen wissen wir eine Menge über die Psychologie der Verschwörungs-Theorien. Es sind im Grunde keine »Theorien«, sondern FÜHLmuster, bei denen es immer um eigene Daseinsberechtigung geht.

Menschen, die einem Verschwörungswahn anheimfallen, haben in ihrem Leben meistens starke Ohnmachtserfahrungen erlebt. Verletzungen, Entwürdigungen, Zurückweisungen oder existentielle Verluste. Dadurch sind sie zur Überzeugung gelangt, unwürdig zu sein. So haben sie den Kontakt zur Welt und zu sich selbst verloren. Wenn wir uns auf diese Weise verlustig gehen, versucht der MIND verzweifelt, Erklärungen zu finden, die diese Not auflösen. So werden aus Angst-Assoziationen KAUSALITÄTEN konstruiert, die das menschliche Gleichgewicht, die Homöostase, wiederherstellen können. Etwa durch die Konstruktion eines Bösewichtes, oder einer magischen Kraft, die den inneren Druck nach außen verlagert.

Ich kenne alle diese Effekte schon aus meiner Jugend in den 70er Jahren. Damals waren Verschwörungsphantasien viel verbreiteter als heute, allerdings nannte man sie nicht so. Es waren rebellische Weltbilder, »erhabene« Theorien, die dem Großen Ganzen, das uns verwirrte und ängstigte, eine Kontur gaben. Im studentischen Milieu Frankfurts, in dem ich als damals lebte, wimmelte es nur so von Menschen, die Schwierigkeiten hatten, sich selbst und ihr Leben zusammenzuhalten. Gleichzeitig war die Sehnsucht nach Erkenntnis und Selbsterweiterung gewaltig. Sektenangebote mit Verschwörungscharakter gab es an jeder Straßenecke: RAF, Baghwan, Marx in allen Varianten, Anarchie, Sri Chinmoy, Christliche Erweckung, psychedelische Drogen. Wöchentlich gingen Tausendschaften maoistischer oder trotzkistischer Sekten auf die Straße und die Anzahl individueller Paranoien war unfassbar hoch. Dahinter stand nicht zuletzt die innere Auseinandersetzung mit dem unfassbaren Zivilisationszusammenbruch, an dem unsere Eltern und Großeltern beteiligt waren. Weit verbreitet war die Vorstellung, dass uns ein »Schweinesystem« unterdrückte, eine internationale Weltverschwörung von »Imperialisten« und Kapitalisten. Viele dieser hermetischen Weltbilder haben sich bis heute gehalten; sie sitzen in jeder Talkshow.

  • Verschwörungsbilder schmeicheln dem angeschlagenen Ego durch Grandiosität. Wenn sich die ganze Welt gegen mich verschwört, dann werde ich großartig. Wenn derart raffiniert getarnte Kräfte mir nach Freiheit und Leben trachten, dann muss ich ungeheuer wichtig sein!
  • Verschwörungserzähler können ihre Angst nicht als Angst, ihre Scham nicht als Scham empfinden und artikulieren. Deshalb inszenieren sie ihre Gefühle als Wut und Größenwahn. Es sind oft selbstunsichere Männer, die um ihre virile Fassung ringen, die zu Wortführern von Wut-Ideologien werden. Attila Hildmann, der durchgedrehte Vegan-Koch, hat seine Fassung genau an jenem Punkt verloren, als er am höchsten Punkt seiner ungewöhnlichen Karriere angelangt war. Doch er konnte seinem eigenen Erfolg nicht vertrauen. Die Sidos, Naidoos, Gaulands und Trumps funktionieren nach dem gleichen Muster: Sie können im Grunde nicht an sich selbst glauben, und performen ihren Selbstzweifel zur ständigen Aggression.
  • Verschwörungs-Narrative sind auch attraktiv, weil sie eine besondere Variante des rebellischen Trotzes beinhalten: Elitäre Unverstandenheit. Je schriller der Aberglaube, desto fanatischer hält man daran fest. Das erklärt den seltsamen Sog-Effekt, den besonders skurrile Ideen ausüben. Im Trotz der Abweichung fühlen wir uns als etwas ganz Besonderes (www.vice.com). NUR WIR sehen ja, was die »Schlafschafe« der breiten Masse nicht sehen können, was die »Lügenpresse« leugnet! Das funktioniert für Djihadisten ebenso wie für 5-G-Coronagläubige, für Chemtrail-Fans wie für evangelistische Erwecker und völkische Fanatiker.

„Von bösen Mächten wunderbar geborgen” lautete neulich der treffende Titel eines Essays von Anselm Neft.

All das ist also durchaus mit den Erkenntnissen der Humanpsychologie zu ergründen. Aber warum machen uns Verschwörungsfreaks so eine Heidenangst, obwohl die meisten ihrer Ideen ja tatsächlich nur absonderlich sind? Sie werden irgendwie immer stärker, je mehr man sie bekämpft. Sie verhalten sich wie der monströse Grießbrei im Märchen der Brüder Grimm, der immer weiter aufkocht, je mehr man ihn zu stoppen versucht.

Ein Teil dieses Selbstverstärkungs-Phänomens hat mit der medialen Erregungsökonomie zu tun. Wer irgendeinen Unsinn erzählt, bekommt mit Sicherheit ein Kamerateam geschickt und wird besorgt über seine Befindlichkeit befragt. Früher ging man zu den Freaks in der Zirkus-Manege, heute klickt man sich durch Verschwörungsseiten im Internet.

Ich vermute aber, dass unsere Furcht auch noch andere Gründe hat. Wir fühlen uns womöglich den Verschwörungsfreaks nicht ganz so unähnlich, wie wir uns das vormachen. Hat nicht jeder von uns in seinem Leben schon Abwertungen erfahren, Zurückweisungen, Kränkungen? Und bauen wir uns daraus nicht unentwegt irgendwelche selbstschützenden »Weltanschauungen«, die aber in Wirklichkeit nur geronnene Gefühlslagen sind, ideologisierte Konstrukte? Womöglich sind auch wir zerbrechliche Seelen, die um sich herum einen Kokon errichten, der aus Fiktionen und erstarrten Ängsten besteht…

Zweitens machen uns Verschwörungsfreaks Angst, weil wir durch ihre unheimliche Energie einen Zusammenbruch der Zivilisation fürchten. Hat eine epidemische Besessenheit nicht schon einmal die ganze Welt verdorben? Entsprang der Zivilisationszusammenbruch des 20sten Jahrhunderts, der Nationalsozialismus, der Faschismus, nicht aus einer gigantischen Verschwörungstheorie, einem kollektiven Wahn, der nicht mehr zu stoppen war außer durch Krieg und Zerstörung? Und kommt das nicht alles früher oder später zurück?

Um mit dieser Paranoia vor der Paranoia umzugehen, schlage einen Akt der ANERKENNUNG vor. Das menschliche Hirn wurde von der Evolution nicht zur Findung von Wahrheit oder »Realität« geschaffen. „Wahrnehmung ist immer kontrollierte Halluzination!” sagen uns die Kognitionsforscher.
(Andy Clark, Surfing Uncertainty, Prediction, Action and the embodied Mind. Oxford University Press 2016, P 14)

Wir tun uns leichter, wenn wir akzeptieren, dass Leben, Werden, Zukunft, immer auf Illusionen beruht. Als Menschen verbindet uns gerade diese Fähigkeit zur Illusion. In der Fachsprache nennt man das „symbolische Repräsentationen”. Wir Humanoiden haben diese merkwürdige Eigenschaft, dass wir durch gemeinsame Fiktionen eine Menge bewirken können.

Aber gerade WEIL das so ist, weil nichts hundertprozentig »wahr« oder »real« ist, sind unsere Konstruktionen von Wirklichkeit nicht beliebig. Sie sind kostbar, weil sie Schlüssel zur Zukunft sind. Sie können konstruktiv sein oder zerstörerisch. Aufbauend oder destruktiv. Sie können zu Verderben oder zu Kooperation führen. Zu Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit.

Und DARAUF kommt es an.

Was wir jedoch OHNE jedes Wenn und Aber zurückweisen sollten, ist die Bösartigkeit, die aus der Verschwörungslogik entspringt. Also jenen Teil des Verschwörungswahns, der politisch manipulativ oder persönlich verletzend wird. An diesem Punkt brauchen wir eine konsequente Quarantäne-Strategie. Ich selbst antworte zum Beispiel nie auf Mails oder irgendwelche Messages, die mich beschimpfen, abwerten oder denunzieren. Ich schicke allenfalls eine Botschaft zurück: Das Künstliche Intelligenzsystem meines Computers hat diese Botschaft als emotional unkontrollierte FakeNews erkannt, bitte melden Sie sich bei Mark Zuckerberg. Die konsequente Verweigerung der Bösartigkeit verlangt schon die Selbstwürde. Und diese Quarantäne ist durchaus wirksam, wie man an der Entwicklung der AFD sehen kann. Wir sind nicht ohnmächtig.

Der Verschwörungs-Hass ist ein Reiz-Reaktions-Schema, das unterbrechbar ist wie eine Corona-Infektionskette.

Wie sinnvoll eine solche Differenzierung in Empathie und Abweisung ist, zeigt sich auch in den Zweier-Diskussionen, die die Zeitung DIE ZEIT seit Jahren zwischen Menschen veranstaltet, die sich als weltanschauliche Gegner empfinden. In der Begegnung ist die einzige Regel, dass man sich nicht beschimpft. Jeder darf glauben und formulieren, was er denkt. Wie sehnsüchtig Menschen, die sich mit Verschwörungen plagen, auf dieses Angebot eingehen, wie zart und konstruktiv diese Gespräche dann werden, zeigt worum es wirklich geht. Um gehört werden. Um als Person wahr-genommen zu werden.

Nein, die Verschwörungsfanatiker werden unsere Demokratie nicht zerstören, sie helfen uns vielmehr, die Immunsysteme zu stärken, die das Gesellschaftliche braucht, um zukunftsfähig zu bleiben. Der Rest ist eine Aufgabe für die Polizei und die Gerichte, denen ich im Großen und Ganzen vertraue.

Es gibt drei große Lebensirrtümer: Dass man so planen kann, dass das Leben endgültig sicher wird. Dass man lieben kann, ohne dass einem das Herz gebrochen wird. Und dass man sich selbst bleiben kann, ohne sich dauernd zu verändern.
David Whyte, Poet und Business-Coach

Vom Segen des Humors

Ist es nicht erstaunlich, wie viel in den Lockdown-Zeiten der Corona-Krise gelacht wurde? Dabei offenbarte sich auch, dass das, was in der Prä-Corona-Zeit als Humor galt, überwiegend Zynismus war.

Zynismus ist eine Verschwörung der Negativität zur eigenen Belustigung. Wahrer Humor hingegen ist die Fähigkeit, sich in unauflösbaren Paradoxien gemeinsam zu entspannen. Paradoxialität ist das Wesen des Lebens – Schatten und Licht, Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Beschleunigung und Entschleunigung, Innen und Außen, Sicherheit und Risiko. Niemals werden wir all das vollständig zusammenbekommen, niemals können wir es wirklich auflösen. Denn dieses Spiel heißt LEBEN.

In der Corona-Krise sind wir alle mit interessanten Paradoxien konfrontiert worden: Distanzierte Nähe. Beschleunigte Verlangsamung. Sichere Unsicherheit. Autoritäre Demokratie. Im Lachen darüber erkennen wir unsere Fähigkeit, in verschiedenen Dimensionen und »Wahrheiten« gleichzeitig lebendig sein zu können.

Für Verschwörungsfanatiker kann Humor nicht funktionieren, weil es dort immer nur um Festlegungen und Eindeutigkeiten geht. Deshalb konnten sie wohl kaum über die Durchsage in einem ICE Mitte Mai lachen:

Und zum Schluss noch ein Hinweis für alle Verschwörungstheoretiker bei uns an Bord: Denken Sie daran, dass die Bundesregierung Speichelproben sammelt um Klone von ihnen zu produzieren, die sie dann ersetzen sollen. Behalten Sie also bitte ihre Gesichtsmaske auf!

Lachen löst den inneren Krampf, der uns am Leben, am inneren Wachstum hindert. Echter Humor verzeiht immer. Er ist nimmt nicht weg, sondern fügt etwas hinzu. Wie heißt das so schön? Wir lachen, weil dies unsere uralte Primaten-Methode ist, auf das Nachlassen animalischer Angst zu antworten.

Wie wäre es mit einem Witz zum Schluss?
Ein Mann, Risikopatient, Rotweintrinker, hat sich mit Corona infiziert. Er entschließt sich, lieber zu Hause in seiner geräumigen Altbauwohnung mit den vielen Büchern zu sterben, anstatt intubiert am Beatmungsgerät. In seiner letzten Agonie dringt plötzlich ein köstlicher, überirdischer Duft durch die Wohnung. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte kriecht der Mann in die Küche und zieht sich am Küchenblock hoch. ZIMTSCHNECKEN! Seine schwedische Frau hat Zimtschnecken gebacken, die er immer so gern mochte! Zitternd streckt er die Hände aus…
„SCHATZ!“, kommt es aus dem Nebenzimmer. „Die sind für die BEERDIGUNG!“.
(Die Urform dieses Witzes stammt von Arthur Mc Carten aus einem wunderbaren TED-Video: On laughter | Anthony McCarten | TEDxMünchen)

Ist das lustig? Ist es unmoralisch? Das überlasse ich Ihnen. Ohne Humor, ohne die Kraft des Lachens, können wir der großen Weltverschwörung nichts entgegensetzen. Diese Weltverschwörung sitzt in uns drin. Es ist eine Verschwörung gegen uns selbst. Und gegen die Zukunft.