55 – Die Wahrheit nach Corona

Zwischenbilanz einer Krise

Am 16. März veröffentlichte ich einen Text mit dem Titel „Die Zukunft nach Corona“ im Internet. Er ging viral um die ganze Welt. Was ist daraus geworden? Was können wir heute wissen, was wir damals nur ahnten?
Wohin geht die „Welt nach Corona“ wirklich?

Ich möchte noch einmal die Motive meines Textes rekapitulieren. Das erste Motiv stammte aus der Frage, wie wir mit der Angst umgehen können.

Angst ist ein Geschenk der Evolution, das uns in die Lage versetzt, in Gefahr kräftig zu reagieren. Das Adrenalin der Angst mobilisiert unsere Kräfte, leitet uns zum Flüchten oder zum Kämpfen an. In der Welt der direkten Bedrohungen, in der wir immer wieder um unser Leben kämpfen mussten – gegen Säbelzahntiger, feindliche Stämme oder Naturereignisse – ist das eine nützliche Adaption.

In einer medial-technischen Zivilisation jedoch, wo Millionen Bilder, Zeichen, Schrecklichkeiten, unser überfordertes Hirn tagtäglich überschwemmen, wo alles mit allem verquickt, vernetzt und doch seltsam abstrakt und fern erscheint, kann die Angst leicht aus dem Ruder geraten. Sie überwältigt uns, kriecht in uns hinein und führt dort ein Eigenleben. Sie wird zur großen Verängstigung.

Gegen die aufkommende Corona-Hysterie wollte ich mit meinem Text eine Ermutigung setzen. In Krisen sind erstaunliche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Solidarität möglich, von Wandel und Transformation. Wir alle wissen das im Grunde aus unserem privaten Leben, unserer Biographie, oder von unseren Vorfahren. Dieses Wissen bildet unsere innere Resilienz, unseren Zukunfts-Mut.

Aber es ging nicht um Beruhigung. Die Angst klein zu reden, wäre völlig falsch gewesen. Im Kampf gegen den Virus war die Angst ja nützlich, notwendig, um unser Verhalten zu ändern und das Schlimmste zu verhindern. Greta Thunbergs Aufforderung “I want that you panic!” machte hier plötzlich Sinn.

Es ging mir um die Erfahrung, dass man, wenn man Angst annimmt, sie ihren Schrecken verliert. Man kann auf der anderen Seite wieder herauskommen und STAUNEN, wenn sich nicht alle unsere Befürchtungen bewahrheiten. Wenn etwas Unerwartetes, Neues entsteht.

Durch die Idee der Re-Gnose wollte ich meinen Lesern ihre eigene Zukunft zurückgeben.

Indem ich die Leser aufforderte, sich auf den Stuhl des Zeitreisenden zu setzen und aus der Position der Zukunft zurückzuschauen, wollte ich die falsche Fixierung auf äußere Prognosen überwinden helfen.
Prognosen sind Teil des ungeheuren Aufmerksamkeits- und Erregungskomplexes, der uns umgibt. Nicht selten entstehen sie aus ideologischen Verkürzungen und linearen Weltbildern, die einen Trend immer geradeaus – oder exponentiell – in die Zukunft weiterzeichnen. Oft handelt es sich einfach um Übertreibungen, Zuspitzungen. Um Schreckensbilder. Oder um Verkaufsinteressen: Man prognostiziert einen Ausgang, der etwas geldwert macht.

Die Corona-Krise wurde von unzähligen Epidemiologen, Systemforschern und Visionären schon lange vorausgesehen. Es mangelt uns also nicht an Prognosen. Sondern an einer Beziehung zur Zukunft. So erschien zum Beispiel schon in der ersten SZENARIO-Sondernummer des Zukunfts-Magazin im Jahr 1995 ein Text mit dem Titel “The Age of Plagues”…

Prognosen verengen die Zukunft zu einem Tunnel. Das ist besonders der Fall, wenn unser MIND voller Ängste ist. Dann wirkt die Zukunft wie eine Lokomotive, die mit schrillem Pfeifen auf uns zurast. Wir können noch nicht einmal beiseite springen, ohne in den Abgrund zu stürzen.
Wie kann man diesen Hypnose-Effekt, in dem wir vor der Zukunft innerlich erstarren, überwinden?

„Was, wenn dieses wilde Gedankengestrüpp namens Zukunft ein evolutionäres Tool ist? Ein Hilfsmittel, das Menschen sich im Verlauf ihrer Entwicklung zurechtgelegt haben, um ihre Umwelt, ihr JETZT, besser verändern zu können?”
So schreibt der Musiker und Publizist Mario Sixtus in seinem Buch „Warum an die Zukunft denken” (S. 20).

Diese Idee der Rekursion der Zukunft – der RÜCKWIRKUNG der Zukunft auf uns selbst – drückt sich im Begriff der Re-Gnose aus. In der Re-Gnose bewegen wir uns handelnd in Richtung Zukunft, anstatt sie lokomotivenhaft auf uns zurasen zu lassen. Wir überwinden unsere Starre und beginnen damit, uns selbst als Teil des Zukünftigen zu sehen.
Wir werden SELBST zur Zukunft, und auf diese Weise lassen wir die dunklen Prophezeiungen, die uns am lebendig sein hindern, hinter uns.

Reality Check

Was also hat die Corona-Zeit bislang »gebracht«?
Die Zehner Jahre waren eine Ära der inneren Hysterisierung. In der Prä-Corona-Zeit schien das, was man gemeinhin »Realität« nennt, in tausend Einzelteile zu zersplittern. In Fragmente von Meinungen, Wut, Rechthaberei, Ideologien, Konstrukten, deren schrillster Ausdruck die Verschwörungskonstruktion ist. Alle brüllten immerzu durcheinander. Alles war ein unentwegtes ICH WILL! Und gleichzeitig ein unentwegtes NEIN!

Durch diese kognitive Krise verschwand die Zukunft in einer ständig um sich selbst kreisenden Gegenwart. In einem Schwarzen Loch der Wahr-Nehmung, einer Zerstörung der Realität.
Diese Vertrumpung der Welt kam mit der Covid-Krise zu einem abrupten Halt. Plötzlich landeten wir in einer gemeinsamen Realität, die sich nicht mehr leugnen ließ. Jedenfalls nicht so leicht.

Wir hörten plötzlich Epidemiologen und Virologen zu. Wir verstanden, wie wissenschaftliche Prognosen durch Zweifel, Irrtum und Erfahrung entstehen. Es entstand plötzlich wieder eine Kultur der gesellschaftlichen Anerkennung. Wir erlebten Politik als handelnde Kraft im Sinne der Fürsorge und Vorsorge. Und sahen verwundert, wie die vorher so triumphalen Populisten plötzlich wie Rumpelstilzchen wirkten.

Wo Gesellschaften sich auf diese Weise verwahrheiten konnten, entstand eine neue Stärke, eine neue Resilienz – ein neues Selbst-Bewusstsein. Wo dies nicht gelang, wie in den USA, in Brasilien und anderswo, breitet sich immer tiefere Dunkelheit aus.

Fasziniert verfolgen wir jetzt, wie Trump über seine Lügen und Täuschungen stolpert und wankt. Ein globales Drama von Shakespear‘schen Ausmaßen, das uns die nächsten Monate faszinieren wird. Aber wie weit, wie tief, reicht diese innere Wende, diese neue Wahr-Nehmung der Wirklichkeit, in der es plötzlich wieder um etwas geht? Um die Ganzheit der Gesellschaft. Um den Zusammenhalt des Menschlichen. Um Zukunft als Realität, als wahre Perspektive?

Der Wahrheits-Charakter von Krisen besteht darin, dass sie uns von Illusionen befreien. Wenn wir in Illusionen verfangen sind, brauchen wir unglaublich viel Energie, um diese aufrechtzuerhalten. Confirmation Bias – das erschöpft uns völlig, und hält uns vom Leben ab. Wir verlieren uns dabei selbst in unseren Konstrukten, wie die Welt ist, oder zu sein hat, oder „irgendwie sein müsste…”.

Die COVID – Krise hat unsere Illusion enttäuscht, dass alles immer so weitergeht. Dass wir nächstes Jahr NOCH billiger NOCH weiter fliegen werden, um uns NOCH besser und NOCH blindwütiger zu vergnügen. Sie hat uns die Wahrheit vor Augen geführt, dass unser beschleunigter Lebensstil nicht das erzeugt, was wir erwarten. Nämlich immer mehr Spaß, Reichtum, Vergnügen, Sicherheit…

Wenn Täuschungen von uns abfallen (»Ent-Täuschung« im positiven Sinn) entsteht Wahrheit. Wahrheit ermöglicht, wieder direkt mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten. Wirk-lichkeit ist jene Realität, in der wir wieder wirken können. In der wir nicht ständig abgelenkt sind. Die Welt wirkt wieder neu. Fremd zunächst, vielleicht sogar unheimlich. Die Vögel zwitschern anders. Die Stadt wirkt leer, aber geheimnisvoll. Etwas scheint neu zu beginnen. Wir wundern uns. Das ist Re-Gnose als Selbstschöpfung im Neuen.

Natürlich haben nicht ALLE Menschen diesen Freiheitsaspekt der Krise erleben können. Einige konnten es nicht, weil sie in schwere Not und Knappheit gerieten. Andere wandten sich lieber neuen Wut-Verschwörungskonstruktionen zu.

Ich halte es jedoch für falsch, diese Unterschiede, wie in der öffentlichen Debatte üblich, zu einer Privilegierten-Denunziation zu machen. Es ist auch einfach nicht wahr: Überall, nicht nur in Villenvierteln, gab es in der Corona-Krise ergreifende Beispiele der Solidarität, der Kreativität im Umgang mit der Not. Auch in den Krisenzonen Italiens erlebten Menschen jene transformatorische Energie, die die Finnen “Sisu” nennen – die geheimnisvolle Kraft, die Menschen dazu befähigt, in schwierigen Zeiten über sich hinauszuwachsen.

So, wie wir Vergangenheitsbewältigung brauchen, brauchen wir auch Zukunftsbewältigung im Sinn einer In-Beziehung-Setzung mit dem Kommenden.
Aleida Assmann

Die drei bleibenden Wahrheiten der Corona-Krise

  1. Wir sind und bleiben Teil der Natur

    Im Wald oberhalb meines Hauses am Wiener Stadtrand finden sich seit vielen Wochen seltsame Holzkonstruktionen an den Bäumen. Zeltähnliche Pyramiden aus Ästen und Zweigen. Zuerst dachte ich, dass das Kinder waren, die im Wald »Indianer« spielten (darf man das noch?). Aber dann sah ich in der frühsommerlichen Abenddämmerung immer wieder Paare, Gruppen oder auch einzelne Menschen mit und ohne Hund in diesen Asthäusern sitzen. Sie schwiegen, oder sprachen sehr leise miteinander.Die Covid-Krise hat tatsächlich eine innere Botschaft, die man verwerfen oder annehmen kann. Negativ formuliert lautet diese Botschaft: Wir können der Natur nicht entkommen.
    Positiv: Wir sind immerzu mit der Natur verbunden. Wir sind und bleiben ein lebendiger Teil von ihr. Obwohl die technische-industrielle Zivilisation mit aller Macht versucht, eine Barriere zwischen der menschlichen Existenz und dem Natürlichen zu errichten (derzeit besonders sichtbar durch Masken und monströse Plastikhüllen), zeigt uns das Virus, dass eben dies eine Illusion ist. 50 Prozent unserer Human-DNA besteht aus integrierter Viren-DNA. Wir sind Teil der mikrobiologischen Welt, der ewigen Evolution des Lebendigen. Und würden wir uns end-gültig von ihr trennen, wäre die Humanevolution zu Ende.Durch die COVID-Krise hindurch wird sichtbar, wie wir wirklich Schutz und Stabilität finden können: Indem wir uns wieder auf das Lebendige, das Vielfältige, das Wachsende und Vergehende einlassen. Indem wir wieder in Verbindung mit der Natur treten. Nicht, indem wir uns ihr unterwerfen. Sondern indem wir in einen neuen Dialog mit ihr treten.
    Es ist kein Zufall, dass alle Sektoren, die etwas mit Natur zu tun haben, jetzt dauerhaft boomen: Garten. Fahrradfahren. Wandern. Schrebergärten. Natural Cooking. Achtsamkeitstechniken. Atmen…
  2. Das Digitale ist nicht real
    Warum hatten Kirchen und Religionen in dieser Krise so wenig zu Lösung und Hoffnung beizutragen? Ich habe eine Vermutung: In den letzten Jahrzehnten hat sich eine neue Religion ausgebildet, die die transzendenten Energien des Religiösen in sich aufgesogen hat. Der Digitalismus.Der Digitalismus (nicht zu verwechseln mit der digitalen Technik als Instrument, als sinnvolles Tool) will uns glauben machen, dass alle menschlichen Probleme durch die Macht der Computer ERLÖST werden können. Vom Stau über die Produktivität bis zur Sterblichkeit. Von der Gesundheit über das Lernen bis zur Arbeitsproduktivität.Erlösungs-Kulte erkennt man an ihrem unverrückbaren Dogma. Das Hosianna des Digitalismus lautet Quantencomputer, Blockchain, Internet of Things, Smart Living, Automatisches Fahren…
    Künstliche Intelligenz ist der neue Gott, eine übermenschliche Instanz, die uns von allen Übeln und Sünden befreit. Sie soll sogar jene fatalen Phänomene lösen, die das Digitale bisher in der menschlichen Kommunikation hinterlassen hat, etwa die Hass- und Gewaltstürme im Internet. Facebook arbeitet daran jetzt mit Künstlicher Intelligenz…Doch das Virus deutet uns auch hier eine neue Wahrheit aus. Nicht die Künstliche Intelligenz hat uns in der Abwehr der Infektion geholfen. Sondern menschlicher Verhaltenswandel. Solidarität. Gesunder Menschenverstand. Kooperation. SOZIO-Techniken, nicht digitale Wunder. Die Corona-App kann helfen, mehr aber auch nicht.Derzeit hört man überall die triumphale Vorstellung, dass die Covid-Krise „endgültig die Digitalisierung durchsetzt”. Tatsächlich wurde nie so viel videokonferenzt, geskyped und gehomeschooled wie heute. Gleichzeitig aber erfahren wir gerade dadurch, was wir existentiell vermissen. Und was an der bisherigen Digitalisierung grottenfalsch war. Gerade WEIL sich digitale Nutzungen jetzt beschleunigen, wird deutlich, dass Menschen immer auch analoge Wesen bleiben. Wie wichtig der Körper im Kommunizieren ist, der Augenkontakt, die Nähe, die Gestik, die PRÄSENZ. Die alten Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Singen, bidirektionales emotionales TELEFONIEREN – kehren in der Krise als verlorene Sehnsucht oder Retro-Realität zurück.Genau das könnte neue Bewegung in die techno-soziale Evolution bringen und den dunklen Kult des Digitalismus beenden. Ich nenne diese neue Phase der digitalen Säkularisierung das REALdigital. Oder HUMANdigital. Die Anzeichen für diesen Paradigma-Wandel sind deutlich. Es gerät etwas in Bewegung. Aufmerksamkeits-Symbionten wie Buzzfeed verlieren ihr Geschäftsmodell. Influencer geraten unter Legitimationsdruck. Immer mehr Menschen überprüfen ihre medialdigitalen Suchtmechanismen. Und Facebook reagiert zum ersten Mal ernsthaft auf die Kampagne #StopHateForProfit: Wo mächtige Anzeigenkunden wie Coca Cola, Starbucks, SAP und hunderte andere Weltkonzerne ihre Werbeetats zurückziehen, weil sie in Hass- und Fake-News-Orgien nicht mehr werben wollen, beginnt ein neues Spiel.

    Je größer die Welt im Vergleich zum einzelnen Menschen wird, desto kleiner wird der Mensch. Unsere Vorfahren, die nur einen kleinen Teil der Welt kannten, waren sehr groß. Wir, da wir nun die ganze Welt kennen und mit der ganzen Welt in Verbindung stehen, sind sehr klein.
    Giacomo Leopardi

  3. Zukunft ist eine Entscheidung
    Stellen wir uns das Post-Corona-Zeitalter (PC im Gegensatz zu BC) einmal so vor:

    • Donald Trump wird krachend abgewählt (oder fällt in ein unbekanntes dunkles Loch). Aus dem Dopaminausbruch der Erleichterung entsteht eine weltweite Euphorie des Aufbruchs, eine Welle der rebellischen Veränderung. Eine neue globale Jugendrebellion nimmt Fahrt auf, in der es um neue Antworten auf soziale, rassistische, ökologische Spaltungen geht – um das, was Menschen über alle Schranken und Grenzen verbindet. Im Zuge dieses Aufstands erfindet sich Amerika neu.
    • Eine neue Ära der multipolaren globalen Kooperation beginnt, in der Länder Kulturen, Städte neue »glokale« Bündnisse entwickeln. Das ist mühsam, aber es passiert, weil durch Corona Empfindlichkeiten, Verletzbarkeiten der menschlichen Existenz, überdeutlich und dringlich wurden. Die lokalen Strukturen der Bürgergesellschaft werden gestärkt. Das vielgescholtene Europa entwickelt neues Selbstbewusstsein. Gleichzeitig erleben internationale Organisationen wie UNO, WHO, Greenpeace eine Renaissance.
    • Die überbeschleunigten Märkte, die im Zentrum der Disruption durch Corona standen – Schlachthöfe, Kreuzfahrtschiffe, After-Ski-Ballermann, Billigflieger, Billigfleisch, Overtourism, Overmarketing – schrumpfen dauerhaft, oder werden zumindest verlangsamt. Die neue Weltwirtschaft wächst langsamer, aber auch qualitativer. Es geht im Business der 20er Jahre deutlich mehr um Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit, Purpose.
    • Innovative Ideen über menschliche Gemeinschaft, das Leben in der Stadt, die Frage, wie wir sozial UND individuell zusammenleben wollen, wie wir das Ökologische und das Technische verbinden, gewinnen deutlich an Bedeutung. Der »New Green Deal« führt dazu, dass der Zeitvorteil, den uns die Corona-Krise in Sachen Erderhitzung verschaffte – die CO2-Emissionen fielen auf den Stand von 2010 zurück – tatsächlich genutzt wird. Die postfossile Energiewende rückt endlich in den Bereich des Möglichen, ja Wahrscheinlichen.

    Unmöglich? Viel zu optimistisch? „Kann gar nicht sein?”

    Was macht diese Variante der Zukunft unwahrscheinlicher als die Alternativen der ewigen Verschlechterung?
    Was nehmen wir wahr?

    Wir kommen an dieser Stelle nicht ohne den Begriff der Verantwortung aus. Genauer: Der Selbst-Verantwortung.
    Verantwortung entsteht aus Entscheidung. Wir entscheiden uns für etwas Bestimmtes, und verzichten auf Anderes. Wir entscheiden uns für einen Weg, den wir bei vollem Bewusstsein gehen.
    Wir entscheiden uns zum Beispiel, uns gegenseitig im Internet gegenseitig anzubrüllen. Oder damit aufzuhören. Wir entscheiden uns, uns durch die Populisten Angst machen zu lassen. Oder zu erkennen, wie lächerlich diese Gestalten in Wahrheit sind.

    Oder wir entscheiden uns, nicht mehr das, was uns die Medien als »Realität« verkaufen, mit der Wirklichkeit mit ihren Vielfältigkeiten, dynamischen Widersprüchen und Wundern zu verwechseln.

    Wir entscheiden uns, kein Schweinefleisch mehr zu essen, anstatt darüber zu klagen, dass „die Fleischindustrie sich nie ändern wird“. Obwohl das womöglich nicht sofort die ganze Welt rettet, bringt es uns wieder ins innere Gleichgewicht. Und im Kleinen liegt, wie die Corona-Zeit uns gezeigt hat, auch das Große.
    Wir entscheiden uns, konstruktiv zu werden. Statt ständig über die Welt zu klagen, er-wachsen wir.

    Die eigentliche Seuche, die Mega-Infektion unserer Zeit ist das, was ich den Narzisstischen Negativismus nennen möchte. Er besteht darin, dass wir mit dem Negativen unser instabiles Ego stabilisieren. Damit entsteht eine juissance – ein Begriff des Psychoanalytikers Jaques Lacan. Ein Genuss, der – zum Beispiel – durch die Bestätigung negativer Erwartungen entsteht. Schadenfreude trifft es nicht ganz. Eher: Schlechterwisserei. Wenn wir immer schon vorher wissen, dass es schiefgeht, glauben wir, nicht enttäuscht werden zu können.
    Aber das ist ein Irrtum.

Der Gegenspieler des gebildeten Menschen ist nicht der Barbar. Es ist der Spießer, der alles auf sich bezieht, alles schon zu wissen meint und selbstzufrieden in seinem Denken und Dasein ruht.

Jan Ross

Wird die Welt nach Corona „eine andere“ sein? Eine bessere? Das können wir nicht endgültig wissen, denn die Zukunft hängt davon ab, ob wir uns für sie entscheiden.
In der Re-Gnose entscheiden wir, was wir der Zukunft GEBEN wollen. Wir hören auf, nur zu ERWARTEN. Damit wachsen wir über den inneren Troll heraus, der seine eigene Dunkelheit, seine innere Verworfenheit, seine Selbst-Abwertung mit der Welt verwechselt. So wie wir, wenn wir uns wirklich für die Liebe entscheiden, aufhören, vom Partner nur zu erwarten, dass er unsere Ansprüche erfüllt. Wir wachsen über unsere Erwartungen hinaus in neue Wahrheiten hinein. Wir öffnen uns nach vorne, ins Leben, in die Zukunft. Mit allem, was da kommt.
Jetzt ist die Zeit dafür. Wann, wenn nicht jetzt.

Die schönsten Corona- Zitate

Poesie ist Teil jener Resonanz, die uns in die Zukunft führt. Hier eine kleine Sammlung der “Corona-Poesie” aus verschiedenen Quellen:

Ein Vakuum entsteht, ein Moment der Sprachlosigkeit, wenn auch nicht der Stille. Viele Stimmen versuchen, durch Lautstärke oder Emotion davon abzulenken, dass sie längst Sprachlos geworden sind. Alle Verbindlichkeiten bröckeln, Regierungen missachten ihre eignen Gesetze und Gerichte. Jede Überzeugung ist suspekt, alle Fakten gelten als Konstrukte, hinter jeder Wahrheit verbergen sich Manipulation und Hegemonie. Panik setzt ein. Im 16. Jahrhundert waren es Selbstgeisselungen, Kirchenlieder und Hexenprozesse, die verdecken sollten, dass die Geschichten der Vergangenheit die Herausforderungen der Gegenwart nicht die Stirn bieten konnten.
Der Philosoph Phillip Blom, in “Das große Welttheater” S. 40

Wir dürfen Social Distancing nicht als Isolation begreifen. Deshalb nenne ich es lieber Physical Distancing, physische Distanz. Kommunikation ist heute noch wichtiger als früher. Ich hatte tolle Zoom-Partys, Zoom-Dinner. Manchen fühle ich mich näher als je zuvor. Jeden Abend um sieben Uhr gehen überall auf der Welt Menschen auf die Balkone, applaudieren, trommeln auf Töpfen. Wir können das Schreckliche nicht ignorieren, müssen mit dem Trauma umgehen. Aber wir sollten diese tollen Dinge füttern. Indem wir aufeinander aufpassen.
Lisa Fithian, amerikanische Umwelt und Sozial-Aktivistin

Draußen ist die Welt vakuumkrank, die Plätze entvölkert, das Verschwinden der Wimmelbilder legt eine neue Architektur der Leere frei. Die Menschen sind in den Häusern und müssen sich daran gewöhnen, dass das Richtige zu tun auf den ersten Blick so unspektakulär aussieht und das Heldentum dieser Tage für die meisten nicht aus großen Taten, aber kleinen Unterlassungen besteht.
Valerie Fritsch, Schriftstellin und Künstlerin

It’s the end of the world as we know it, and everything does feel fine—not fine like chill, but fine like china, like glass, like thread. Everything feels so fine, and so fragile, and so shockingly worth saving. In the end, (the crisis) it will not be butchery. Instead it will be bakery as everyone has apparently decided that the best thing to do when the world lurches sideways is learn to make bread.
Laurie Penny in WIRED

Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen.
Goethe, 1869

Die Menschheit kann nie sehr viel Wirklichkeit vertragen.
T.S. Eliot