60 – Die Post-Corona Trendwelt
Wie eine Epidemie die Megatrends beeinflusst.
Wer die Zukunft verstehen will, muss das wahre Wesen der Trends erkennen – ihr dynamisches, turbulentes Wirken. Trends sind Prozesse, die auf die Systeme von Gesellschaft, Ökonomie, Politik und Kultur einwirken und dabei systemische UMFORMUNGEN erzeugen. Sie werden oft als eine »immer mehr« -Kategorie wahrgenommen – Immer mehr Globalisierung – Immer mehr Digitalisierung – Immer mehr von irgendwas… Aber das ist ein linearer Trugschluss. Trends sind dynamische Prozesse, die ein interaktives NETZWERK VON WIRKUNGEN bilden (dieses Netzwerk bilden wir in unserer Megatrend-Map ab). Sie erzeugen Strudel, Turbulenzen, REKURSIONEN, das heißt Rückbindungen. Man kann die Metapher eines Flusses benutzen, der Wirbel (Krisen) erzeugt und bisweilen sogar seine Strömungsrichtung ändern kann.
Jeder Trend kommt irgendwann an eine Sättigungsgrenze. Bei kleinen, eher zeitgeistigen Trends geschieht das ziemlich schnell. Vor allem die MEGAtrends bildet in ihrem Verlauf jedoch dynamische Gegentrends aus, Gegen-Strömungen, die mächtiger sein können als der Ursprungstrend. Diese Trend-Gegentrend-Logik ist der Schlüssel zur Zukunft.
- Wenn alles GLOBALISIERT ist, herrscht Einheitsbrei und Entfremdung – so entsteht die Sehnsucht nach der Lokalität, der Verankerung im Örtlichen – oder ein giftiger Nationalismus.
- Wenn die Kultur vollkommen INDIVIDUALISIERT ist, stellt sich die existentielle Frage nach den sozialen Bindungen. Was hält uns zusammen? Was macht uns »gemeinsam«? Im Negativen kann das zu Re-Tribalisierungen führen, wie wir sie heute überall erleben.
- Wenn durch das Internet alles konnektiviert, also in Echtzeit verbunden ist, entsteht Chaos, Überreizung und weißes Rauschen. Damit entsteht eine Gegenbewegung zur Wahrheit und Wirklichkeit.
- Ständige Beschleunigung erzeugt irgendwann rasenden Stillstand.
- Und so weiter.
In dieser Dialektik verbirgt sich das Geheimnis der Zukunft – und der »Sinn« von Krisen. Zukunft als Lösung im Sinne der Re-Gnose (Neuschöpfung) entsteht aus der INTEGRATION VON PARADOXIEN durch neue Synthesen. So – und nur so – entsteht Wandel und Fortschritt – in der AUFHEBUNG des Widerspruchs zu höherer Komplexität. Um dies deutlich zu machen, nutzen wir in der systemischen Zukunftsforschung RE-Kombinationsbegriffe, die man auch META-Trends nennen kann.
Hegel lässt grüßen.
GLOKALisierung
Wir leben in einer durchglobalisierten Welt. Die Produkte, die wir nutzen, die Dinge, die wir kaufen, sind in planetenweiten Wertschöpfungsketten entstanden. Unsere Kultur, ja unsere Denk- und Fühlweise, ist vom amerikanischen Modernismus der letzten 60 Jahre geprägt (dessen Wirkungsmacht nun zu Ende geht). Unsere Reisewege haben sich rund um den Planeten ausgedehnt. Und trotzdem, oder gerade deshalb, ist die Globalisierung in eine tiefe Krise geraten – schon VOR der Krise, aber besonders mit ihr.
Corona hat den Trend zur De-Globalisierung spontan verstärkt. Grenzen wurden geschlossen, Wertschöpfungsketten disruptiert. Darin kündigt sich ein Ende jener Turbo-Globalisierung, die die letzten 30 Jahren dominierte: Outsourcing in Billiglohnländer, »Just in Time«-Prinzip, Export von Umweltproblemen, ständig steigende Exportraten.
Glokalisierung heißt, das Verhältnis zwischen LOKAL und GLOBAL neu auszutarieren. Die Globalisierung wird nicht verschwinden, aber sie wird sich MODERIEREN.
- Zunahme von lokaler, nationaler und kontinentaler Autonomie. Rückholung vieler Wertschöpfungen (In-Sourcing).
- Eine lokalere und vielschichtigere Sourcing-Politik für Rohstoffe und Produkte (in der Gesetzgebung zeichnet sich bereits ein »Lieferkettengesetz« ab, das die Materialflüsse neu ordnen und sortieren soll).
Auf der mental-kulturellen Ebene bedeutet Glokalisierung eine neue Balance zwischen »Horizont und Wurzel«. Heimatsuche widerspricht nicht der Weltoffenheit. Man spricht Dialekt und Englisch. Es entsteht eine große Gruppe von »geerdeten Kosmopoliten«, die den Konflikt zwischen »Nowheres« und »Anywheres«, zwischen »globalen Urbanisten« und »vergessenen Provinzialisten«, wie er sich in den aktuellen Kulturkämpfen manifestiert, befrieden kann.
Co-Individualisierung
Die Corona-Krise aktualisiert auf drastische Weise das Verhältnis zwischen Ich und Wir. Dabei entstehen Emotionsüberschüsse: Die einen betonen den Freiheitsaspekt, die anderen suchen nach einem neuen Solidargefühl, das die Seuche besser bewältigen kann. Die einen suchen nach neuer sozialer Vernunft, die anderen verlieren sich in Wahnsystemen. Dadurch werden massive Zentrifugalkräfte frei, die ganze Gesellschaften – siehe Amerika – zerspalten können.
Das Verhältnis von individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Integration neu auszutarieren ist das größte politische Projekt der kommenden Zeit. Hier entscheidet sich, ob der Populismus der Spaltung triumphieren wird, ein despotischer Nationalismus gewinnt, ob wir moderne Gesellschaftsmuster weiterentwickeln können. Letztendes geht es um eine »Komplexierung« der Demokratie.
RURbanisierung
(Rural= ländlich, Urban = großstädtisch). Der Begriff lässt sich als »Verdörflichung der Stadt / Verstädterung des Dörflichen« übersetzen. Die Corona-Krise führt zu einer Abschwächung des Zuzugs in die Metropolen. Hochverdichtete Siedlungskonglomerate werden zunehmend als suspekt und bedrohlich wahrgenommen. Eine Wanderungs-Tendenz hin zu ländlichen oder kleinstädtischen Regionen und Lebensformen entsteht.
Norman Foster, Architekt
- Im Zuge des »New Urbanism« beschleunigt sich die postindustrielle Transformation der Großstädte. Mehr und mehr durchmischte Wohn- und Lebensarchitekturen entstehen, verbunden mit einer Zurückdrängung des Automobils aus den Kernstädten. »Open Air Cities« und »15-Minute-Cities« (alle wichtigen Lebensfunktionen in 15 Minuten Fuß-Entfernung) entstehen. Trends wie Co-Working, Co-Living, Co-Mobilität, Co-Gardening und Urban Farming rücken von exotischen Rändern in die Mitte der urbanen Evolution.
- Mittelstädte und größere Kleinstädte ab einer gewissen Lebensqualitäts-Schwelle gewinnen an Dynamik. In ländlichen Regionen, die einen Zuzug von Städtern erleben, erfolgt eine kulturelle-soziale Modernisierung in Richtung auf Kulturformen des Städtischen (»Progressive Provinzen«).
- »Zoom Towns«. In der US-Wirtschaftszeitschrift „Fast Company” heißt es: „First, there were boomtowns. Now, there are Zoom towns. The coronavirus pandemic is leading to a new phenomenon: a migration to “gateway communities”, or small towns near major public lands and ski resorts as people’s jobs increasingly become remote-friendly. These are towns that had less than 25,000 people; were within 10 miles of a national park, monument, forest, lake, or river; and at least 15 miles from a dense urban area.“
REALDigital – HUMAN-Digital
25 Jahre nach seiner »Gründung« steht das Internet heute an einem Wendepunkt. Wird sich das kommunikative Netz endgültig als Reich des Bösen und des Hasses, der Verschwörungslogik, der FAKE NEWS und des Wahrheitszerfalls erweisen? Oder gelingt eine ZIVILISIERUNG der digitalen Kommunikation im Sinne menschlicher Bedürfnisse und humaner Kooperationen?
Corona hat die aktive Nutzung des Netzes massiv beschleunigt. Wir haben uns digitale Kommunikationstechniken erstaunlich schnell angeeignet – aus den unmittelbaren menschlichen Bedürfnissen heraus. Damit entsteht digitale Emanzipation, die eine neue Phase der Digitalisierung einläutet.
- REALdigital heißt auch ein Abschied vom digitalen Über-Hype. Die mystische Zeit des Silicon Valley ist vorbei. Weder hat die Künstliche Intelligenz einen Impfstoff »errechnet«, noch hat die Corona-App die Pandemie gestoppt. Es war zunächst vor allem der Wandel von SOZIOtechnik, also menschlichem Verhalten, der Wirkungen erzeugte.
- HUMANdigital heißt eine neue Ausbalancierung des Digitalen und des Analogen im Sinne menschlicher Kriterien und Grenzen. Es geht vor allem um die sinnvolle ALLOKATION von digitaler Technik in den Kontexten menschlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten.
- REALdigital heißt, dass die heutigen Monopolisten des Internet zu massiven (Selbst-)Veränderungen gezwungen werden. Die brutalen Ausbeutungen der menschlichen Aufmerksamkeit im Sinne des Werbeaufkommens wie Facebook, Twitter, Instagram, oder die Billigarbeits-Strategien von Uber, Amazon und anderen »Plattformen« , haben keine Zukunft (siehe der Film „The Social Dilemma” auf Netflix).
Matthias Horx
Neo-Work
Die Corona-Krise beendet die Stagnation in alten Arbeitsformen der Industriegesellschaft. Die Präsenzkultur ist zum ersten Mal massiv in Frage gestellt; nicht zuletzt, weil die großen Unternehmen die Gunst der Stunde zum Umbau der Arbeitsorganisation nutzen (auch aus Kostengründen).
- Neo-Work bedeutet nicht die Re-Lokalisierung von Arbeit an den Heim-Arbeitsplatz, sondern Entwicklung hybrider Formen zwischen Büro, HOFFICE (Home+Office) und Mobilität.
- Neo- Work bedeutet die individuelle Anpassung der Arbeit an die jeweils spezifische Produktionsform und den Komplexitätsgrad eines Unternehmens. Wissensanalytische Arbeit kann tatsächlich weitgehend ortlos stattfinden, für andere Formen, wie etwa Pflege oder direkte Produktion gilt das nicht.
- Hybride Arbeitsformen erzeugen einen Zwang zu höherer Arbeits-Selbstverantwortung und bidirektionaler Führung – eine konsequente Wende des Managements. Dies wird auch die verdrängte Gender-Frage wieder aktualisieren: In der Krise agierten die Männer als Helden, aber es waren eher die Frauen, die die Welt zusammen hielten.
FASTgreening und Blaue Ökologie
Würde die Corona-Krise die Ökologie als große Herausforderung unserer Zeit an den Rand drängen? So sah es am Anfang aus. Wer Angst vor Krankheit hat und Lebensunsicherheit erlebt, hat keinen Sinn für das »Luxusthema« der Ökologie. Doch nun zeichnet sich ab: Die Corona-Krise beschleunigt den postmateriellen Werte-Shift. Durch die Erfahrung der Verletzlichkeit zivilisatorischer Prozesse, die viele Menschen tief empfunden haben, wird die eigentliche Krise unserer Epoche sichtbarer. So erlebt das Klima-Thema einen Durchbruch als Zukunftsthema unserer Zeit.
- Bremsung und Disruption: Erhitzte wirtschaftliche Systeme werden durch die Pandemie nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft gebremst. Das führt in vielen Branchen zu systemischen Innovationszwängen. Überbeschleunigte und überkonkurrierende Branchen müssen sich neu erfinden (Kreuzschifffahrt, Fleischproduktion, Automobil, etc.)
- Commitment: In der Krise haben sich viele große Unternehmen, darunter auch Riesen wie Apple, IKEA, Procter&Gamble, zu konsequenten Null-Co&sub2;-Politik verpflichtet.
- Der ökologische Sektor erfuhr in der Krise starke Wachstumsprozesse. So wuchs der Anteil der Bioprodukte massiv an, der Fleischkonsum verringerte sich. Der Absatz von Elektroautos erfuhr in der Krise einen deutlichen Schub. Viele Regierungen legten Programme für die kommende Dekade im Sinne der Klimaziele auf, der »New Green Deal« Europas ist weitgehend beschlossen.
- Die Corona-Krise hat einen Semantic Shift erzeugt, der den gesellschaftlichen Code in Richtung des postfossilen Umbaus verschoben hat.
- Unter »Blauer Ökologie« bezeichnen wir eine Ökologie, die nicht auf Verzicht, Askese und Schuldargumente setzt, sondern Technologie, Natur und menschliche Bedürfnisse INNOVATIV ZU INTELLIGENTEN SYSTEMEN VERKNÜPFT.