62 – Die Corona-Bilanz

Die Geschichte eines Wandels, der die Zukunft verändern wird.

Was passiert, wenn eine globale, überbeschleunigte, hypervernetzte Gesellschaft mitten im Lauf gestoppt wird?
Alles kann passieren. Massenarbeitslosigkeit. Verarmung. Sozialer Zerfall. Wirtschaftskrise. Wahn und Terror. Bürgerkrieg. Das Ende Europas. Der Zusammenbruch der Demokratie.
So befürchteten es viele, im Frühling des Jahres 2020, als alles begann. Was aber ist wirklich passiert?
Das hängt davon ab, was wir WAHR-nehmen…

Wenn eine Krise beginnt, entsteht in unserem MIND eine Kognitive Dissonanz. Zwischen den Ansprüchen an die Wirklichkeit und der erlebten Realität klafft plötzlich eine riesige Lücke. In diesem Spalt entsteht ein tiefer existentieller Schwindel. Der Ausruf lautet: Das kann doch nicht wahr sein!
Kennen Sie dieses Gefühl?

Die Welt ist nicht, wie sie sein soll.
Sie entspricht nicht unseren Vor-Stellungen.
Aber trotzdem geht das Leben weiter.
Ungewohnt. Anders. Fremd. Herausfordernd.

Wenn wir uns Krisen stellen, öffnet sich ein Möglichkeitsraum. Wir erleiden Verluste, von denen wir glaubten, sie unmöglich verkraften zu können. Es kann aber auch passieren, dass das, was wir entbehren, uns plötzlich gar nicht wirklich fehlt. Dass wir verblüfft sind, weil wir das, wovon wir uns furchtbar abhängig fühlten, gar nicht wirklich brauchten.
Wir erfahren, dass wir auch anders können.
So entsteht ein Moment von echter Freiheit – in uns selbst.
Von Neuwerden.

Oder aber wir verbittern. Verhärten uns in Hass und Wut und Abwehr. Drehen durch. Das Attila-Hildmann-Syndrom: Menschen, die sich in der Welt (und in sich selbst) nicht zuhause fühlen, fallen in eine infantile Trotzphase zurück. Sie weigern sich, die Realität der Krise anzuerkennen. Sie nutzen die Krise, um ihre Ängste zu inszenieren. Und dabei ganz groß herauszukommen.

Mit Krisen ist es ein bisschen so wie mit der Trauer. Sie hat verschiedene Phasen: Leugnung, Ignoranz, Wut und Zorn. Schließlich Akzeptanz, Verhandlung, Neubeginn. Das ist die personale REGNOSE – die Selbst-Neu-Erfindung in einer veränderten Realität. Die Selbst-Verwandlung Richtung Zukunft.
Wie weit sind wir damit?
Wie weit können wir kommen?

Hunde

Nie wurde so viel Hunde gekauft, aus Tierheimen befreit, gehätschelt, getätschelt, als in der Corona-Zeit.
In der Hinwendung zum Tier manifestierte sich die Sehnsucht nach sicherer Begleitung. Unser tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und Bejahung. Hunde sind »treu«, sie gehen nicht ihrer eigenen Wege, wenn es schwierig wird. Mit dem Hund trösten wir uns in unserer existentiellen Angst.

Hunde sind vielleicht unser direktester Bezug zur Natur. Aber sie sind, wie der Corona-Virus, »gemachte« Natur. Eine Art Zwischenglied zwischen Natur und Mensch. Botschafter.
In der Corona-Krise haben wir erfahren, dass die Natur nicht auf unser Kommando hört. Dennoch sind wir Teil von ihr, nach wie vor, trotz aller High-Tech-Illusionen und Künstliche-Intelligenz-Phantasien. Der Hund tröstet uns über diese Erkenntnis hinweg. Er streckt uns die Pfote entgegen über einen Abgrund, den wir jetzt ausloten.

Der Garten

Nicht nur die Nachfrage nach Sommerhäusern, Grün-Grundstücken und Schrebergärten stieg in der Corona-Krise kräftig an. Gartencenter verbuchten irre Umsatzzuwächse. Jeder, der konnte, baute sich eine Gemüsebox, ein Hochbeet, einen Nutzgarten. Einen Nutz-Garten anzulegen und zu pflegen ist ein ganz bestimmter, sehnsüchtiger Umgang mit der Zukunft. Man lernt das Warten. Man rechnet mit dem Verlust. Man kümmert sich, und bekommt etwas zurück. So gut wie immer.

Liebe

In der Liebe markierte die Corona-Krise nicht selten die Stunde der Wahrheit. Krise heißt, nach dem altgriechischen Wort krisis, Zuspitzung, Beurteilung, Entscheidung. Liebende fanden zusammen oder auseinander. Beides ist “richtig”, denn es klärt die Dinge. Ähnliches galt auch für die Familien, die im Lockdown entweder zueinander fanden oder sich innerlich atomisierten.

Freundschaft

Ein ganz besonderer Beziehungstypus hat in der Krise große Bedeutung erlangt. Viele Menschen haben alte Freundschaften wiederbelebt, alte Kontakte aktiviert, die für ihr Leben wichtig waren. „Ich habe Menschen wiedergetroffen, die ich seit 30 Jahren aus den Augen verloren habe”, erzählte mir ein guter Freund. „Dabei wird man förmlich dazu gezwungen, sich noch einmal selbst zu befragen – was man geworden ist.”

Freundschaft ist die soziale Synthese zwischen Freiheit und Bindung. Eine Krise wie Corona klärt, wer wirklich wichtig ist in unserem Leben. Sie ordnet unser Beziehungsnetzwerk neu. Wir verlassen diejenigen, mit denen wir längst in einem seelischen Lockdown gefangen waren. Wir prüfen, was uns wirklich bindet.

Das kann auch für die Arbeitswelt gelten. Plötzlich sitzen wir dem Chef in T-Shirt oder offenem Hemd vor dem unordentlichen Bücherregal im Arbeitszimmer gegenüber. Das klärt vieles. Klärung ist das Wesen der Krise.

Das Verschwörungs-Paradox

Aber sind nicht die vielen Verschwörungs-Paranoiker, die sich in der Krise offenbart haben, die Wütenden, Schäumenden, Verirrten und Verwirrten, ein Zeichen für die Spaltung unserer Gesellschaft?

Verschwörungsfanatiker sind besonders empfindliche Menschen, die ihre Angst und Unsicherheit nicht aushalten können. Deshalb verschieben sie ihr Realitätsbild in eine Richtung, in der die Dinge wieder »Sinn machen«. Verschwörungs-Mystiker glauben vielleicht gar nicht wirklich an das, was sie glauben. Sie brauchen jedoch das Extreme, Absurde als Aufmerksamkeitstechnik, um ihr großes Bedürfnis, WAHRGENOMMEN zu werden, zu befriedigen.

Je schriller, desto besser. Je absurder, desto schockierender.
Der Verschwörungsfantast muss sich in seinem Zorn, seiner Verweigerung, offenbaren. Er macht seinen Narzissmus sichtbar. Die großen Demonstrationen in Berlin und Leipzig, wo Corona-Gegner ihre alternativen Wirklichkeiten präsentierten – darunter viele Rechtsradikale – hatte eine Art Immunisierungs-Effekt. So entstand das „Paradox der steigenden Vernunft”: Je lauter und aggressiver die Verschwörungsfreaks auf die Straßen gingen, desto mehr verloren sie ihre Anziehungskraft.

Sie begaben sich sozusagen in semantische Selbst-Isolation.
Noch nie war der Konsens zwischen Gesellschaft und Politik so hoch wie heute. Die Virologen haben gegen die Wirrologen gewonnen. Die Krise hat – zumindest in den meisten Ländern – die Gesellschaft nicht nachhaltig gespalten. Sondern das Gesellschaftliche dichter und sichtbarer gemacht.

Populismus im Rückwärtsgang

Ähnliches gilt für den Rechtspopulismus. Zwar nutzten die Rechten in einigen Ländern (Polen, Ungarn) die Krise zunächst als eine Art Disziplinierungsinstrument. Aber eine aggressive Ideologie, die nur durch die ERZEUGUNG von Krisen gedeihen kann, verstrickt sich in realen Krisen in unauflösbare Widersprüche. Die Zweite Welle verlief in den Populisten-Ländern besonders schlimm. Die Populisten forderten zunächst noch strengere, noch »nationalere« Restriktions-Maßnahmen. Um später dann »Freiheit« zu fordern. Damit verstrickten sie sich in ein unauflösbares Paradox. Es zeigte, dass das innere Wesen des Populismus opportunistische Zerstörungswut ist. Es kommt ihnen weder auf Freiheit noch auf Schutz an.

Ärztin mit Flügeln wiegt Italien, © imagoimages

Italien fand in der Krise eine neue innere Kraft – auch wenn in der zweiten Welle der typische italienische Wutanfall noch einmal ausbrach. In England werden die patriotischen Töne zunehmend als destruktiv sichtbar. Populisten wie Babis in Tschechien gerieten in eine Mühle von Legitimation und Selbstlegitimation. In Österreich fiel die FPÖ in ein tiefes Loch. Bolsonaro konnte sich in Brasilien nur durch ein gigantisches Armen-Subventions-Programm vor dem Machtverlust bewahren. Die AfD zerlegt sich genüsslich selbst; die Bösartigkeit dieser Partei wird immer sichtbarer.

Die politischen Gewinner der Krise waren vor allem Frauen. Allen voran Jacinda Ardern, die in Neuseeland zeigte, was Inklusion und Solidarität bedeutet. Kleinere Länder mit hoher sozialer Kohärenz, oft von Frauen regiert, erwiesen sich als Gewinner im Krisenverlauf. Oder die Frauen von Weißrussland, die inmitten der Pandemie eine wunderbare Revolte begannen.
Umgekehrt enthüllte sich die männliche Hybris, die Großkotzigkeit der virilen Sturheit, die alles immer »unter Kontrolle« zu haben scheint. Im beobachtbaren Unter- oder Niedergang des Donald Trump liegt eine weitere Corona-Wirkung. Zumindest eine indirekte.

Mindshift

Aus dem Reich der Meinungsforschung erreichen uns erstaunliche Zahlen:

  • Die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer Arbeit ist seit Beginn der Pandemie von 32 auf einen Langjahresrekord von 66 Prozent hochgeschnellt (Infratest dimap).
  • Die grundlegende Prävalenz für populistische Weltbilder ist seit 2018 von 32,9 auf 20,9 im September 2020 gesunken (You Gov).
    www.zeit.de
  • Zwischen 70 und 85 Prozent halten die Reaktionen der Regierung auf Corona für generell richtig (verschiedene Umfragen seit dem Sommer).
  • Der Anteil der Deutschen, die meinen, dass es im Land „eher ungerecht zugeht”, ist seit 2019 von 63 auf 49 Prozent gesunken. (Infratest Dimap)
  • Das Vertrauen in die seriösen Medien stieg stark an, das Vertrauen in soziale Medien und Boulevardpresse sank (Infratest Dimap, September).
  • Die Anzahl der Menschen, die sich besondere SORGEN um die Gesundheit machen, sind von knapp 20 Prozent auf knapp 10 Prozent gefallen – 2019 auf 2020 (SOEP Cov. Tranche 1-2).
  • Zwar stiegen in den Krisen-Spitzen depressive Verstimmungen besonders bei jungen Frauen. Die generelle ANGST der Deutschen ist aber im Verlauf der Krise auf den niedrigsten Stand seit 1992 gesunken – auf 37 Prozent im Durchschnitt (R&V-Versicherungen: „Erstaunliche Gelassenheit im COVID-Jahr”).

Wie kommen solche paradoxen Ergebnisse zustande? Hier zeigt sich der sogenannte »Diagnose-Effekt«. Krebspatienten zum Beispiel ziehen meistens eine schlimme Diagnose einem Leben in Unsicherheiten vor. Das erzeugt eine regelrechte Erleichterung. Die Kognitionspsychologie zeigt uns: Menschen kommen leichter mit »sicheren Gefahren« zurecht als mit unklaren Bedrohungen.

Corona war zwar zu Beginn noch eine unklare, geheimnisvolle Krankheit. Aber im Laufe der Zeit wussten wir immer mehr. Im ALTEN NORMAL waren die Zukunftsängste diffus, Bedrohungen schienen von allen Seiten gleichzeitig zu kommen – Umwelt, Politik, Medien, Globalisierung, Ernährung. In einer echten Krise hingegen wird die Gefahr konkretisiert. Wir werden herausgefordert. Das bedeutet: Wir können handeln und kämpfen. Wir können Selbstwirksamkeit erleben.

Krisen bieten immer zwei Möglichkeiten: Paranoia oder Metanoia. Hysterie oder (innerer) Wandel. Die derzeit verfügbaren Umfragen und Studien, die sich mit den soziopsychischen Auswirkungen der Pandemie beschäftigen, diagnostizieren jedenfalls eine erstaunliche Resilienz. Viele Menschen – natürlich nicht alle – haben in der Krise nicht nur ihre Ängste überwunden, sondern auch Glücksmomente erlebt, sich neu orientiert, neu WAHRgenommen. Im Zentrum stand dabei die Fähigkeit des positive appraisal style – die Fähigkeit, eine Situation neu zu bewerten und ihr etwas Gutes abzugewinnen.

Wir überwinden die Angst, wenn wir sie akzeptieren.
Wir wachsen über unsere Furcht hinaus.
Damit entsteht Dankbarkeit für das, was ist. Wir entdecken wieder, was wir bislang vielleicht vernachlässigten.
Wir sehen die Welt mit neuen Augen.
(siehe zum Beispiel Vermächtnisstudie der ZEIT, Covid Snapshot Monitoring (COSMO), Studien des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung, DIW Berlin u.a.).

Zusammendenken

„Diese Krise lehrt uns rein GAR nichts!”, blaffte mich neulich ein Ökonom in einer Talkshow an. Er wollte so gerne auf seinen alten makroökonomischen Theorien beharren: Wachstum, Geldmenge, Lohnsteigerung, Produktivitätsgesetze, Überschuldung der Staaten. So lässt sich die Welt verlässlich beschreiben. Die Welt tickt nach den immergleichen ökonomischen Gesetzen, Krisen sind dabei nur unbedeutende Störungen.

Im ökonomistischen Weltbild ist das NEUE NORMAL immer die Fortsetzung des ALTEN NORMAL. Jahrzehntelang haben die Ökonomen großen Erfolg damit gehabt, uns mit den objektiven Gesetzen der Märkte die Zwänge der Zukunft zu diktieren. Aber plötzlich funktioniert das nicht mehr. In Disruptionen wie der Corona-Krise können wir die Welt nicht mehr durch einzelne Denk-Silos interpretieren.

In Krisen werden alte Theoreme hinfällig – und neue Zusammenhänge tauchen auf. Wir werden zur Ganzheitlichkeit gezwungen. Werte und Wirklichkeiten kollidieren. Das Verhältnis zwischen Ich und Wir wird neu definiert. Die verschiedenen Akteure – Staat, Institutionen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Individuen – müssen sich auf neue Weise arrangieren. Das erzeugt Unruhe, aber auch Innovationen in ALLEN Bereichen, nicht nur in der Technologie.

„Zusammenhänge verstehen ist Entwicklungsarbeit. Eine langsame und gründliche Tätigkeit. Die Arbeitsteiligkeit und die seit Jahrhunderten immer weiter getriebene Spezialisierung und Automatisierung hat uns einen ungeheuren Wohlstand gebracht, aber uns auch der Übersicht über unser Leben beraubt – und damit unserer Handlungsfähigkeit.”
Aus dem Buch »Zusammendenken« des Publizisten Wolf Lotter.

Der Wissenschaftsanalytiker Thomas Kuhn beschreibt den Paradigmenwechsel der Weltbilder, die alte Denkweisen beenden und neue Epochen öffnen können.

„Paradigmenwandel lassen Wissenschaftler ihre Forschungs-Engagements anders betrachten. Insofern ihr einziger Rekurs zur Welt durch das geschieht, was sie sehen und tun, könnte man sagen, dass Wissenschaftler nach einer Revolution auf eine andere Welt reagieren.”
Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1979), S. 111

„In der COVID-Krise ahnen wir, dass das VIRALE nicht nur unsere biologische Welt betrifft. Dass sich womöglich auch Gedanken, Theoreme, Ideologien, Ängste, Hysterien, Verbrechen, Meinungen, EPIDEMISCH verbreiten. Unser ganzes Mediensystem funktioniert womöglich wie eine gigantische Infektionsschleuder.”
(Adam Kucharski, The Rules of Contagion – Why Things Spread – and Why They Stop. Profile Books, London 2020).

Soziale Emergenz

Es bleiben die großen Befürchtungen, die uns seit Beginn die Krise begleiten:

  • Die Epidemie bringt die alten Gender-Machtverhältnisse zurück. Frauen werden an den Herd zurückgedrängt. Sie unterliegen »mehr denn je« männlicher Gewalt.
  • Die Epidemie bringt eine Verschärfung der sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich hervor.
  • Die Epidemie steigert die Einsamkeit.

Manche dieser Befürchtungen haben sich bestätigt. Die meisten eher nicht.
In der Tat hat sich durch COVID eine Versorgungskrise in einigen Armutsländern entwickelt. Gleichzeitig verläuft die Pandemie in den armen Ländern anders als erwartet. Viele Entwicklungsländer werden früher aus dem Krisengeschehen herauskommen – eine junge Bevölkerung ohne viele alte Multimorbide erleidet wenig Todesopfer.

Wir leben in einem Befürchtungs-Universum, in dem wir immerzu das Negative anstarren. Was wir nicht sehen, sind die Gegen-Kräfte. Das, was man »Soziale Emergenz« nennt: Individuen, Organisationen, Gesellschaften können in Krisen spontan über sich hinauswachsen. Das ist das posttraumatische Wachstum, das im Grunde die ganze Menschheitsgeschichte ausmacht. Besonders Epidemien haben immer wieder Modernisierungsschübe hervorgebracht, neue Kooperationsformen, neue Techniken UND Soziotechniken.

Zivilisation ist sozusagen das Ergebnis anhaltenden Scheiterns, auf das Menschen spontan reagieren.
Die Welt ist resilienter als wir befürchten.
Und immer entstehen echte neue Helden:

  • Auf den Philippinen fuhren Mitglieder der Gesundheitsbehörden in Star-Wars-Kostümen auf Booten durch Slums, um auf Hygienemaßnahmen hinzuweisen.
  • In Bolivien gab ein Schullehrer Virtuelle Klassen als Superheld verkleidet. Er wurde so beliebt, dass Kinder um ihre Laptops kämpften, um zuzuschauen.
  • Der Hundertjährige Captain Tom Moore wurde ein Superheld in Großbritannien. Er erzielte 33 Millionen Pfund Spendengeld für das NHS mit einem 100-Runden-Gang durch seinen Garten. Seine Version von “You never walk alone” kam in die Spitze der UK-Charts. ABC
  • In Brasilien entwickelte ein Pflegeheim einen »Umarmungstunnel«, in dem Insassen ihre Angehörigen umarmen konnten. Independent
  • In Los Angeles malte ein Künstler 1800 individuelle Blumen, eine für jeden Angestellten des Krankenhauses, das am härtesten in der Pandemie zu kämpfen hatte. Washington Post
  • In Vilnius, der Hauptstadt von Litauen, wurde eine große Statue zu Ehren der weltweiten COVID-Ehrenhelfer enthüllt. Independent
  • Die kanadische Regierung kündigte ein Programm über 3 Milliarden Dollar an, mit dem die Gehälter der schlechter verdienenden Gesundheitsberufe angehoben werden. CBC
  • In England stiegen die Gehälter von 800.000 Lehrern, Polizisten und Pflegern deutlich. Independent
  • In Indien fielen Rosenblüten vom Himmel, als das Militär mit Helikoptern die Gesundheits-Kämpfer an der Coronafront würdigte. Gulf Today
  • Der geheimnisvolle Aktionskünstler Banksy schuf ein ikonographisches Kunstwerk, das um die Welt ging. Es zeigt einen Jungen, wie er eine Krankenschwester einer Batman-Figur beim Spielen bevorzugt. Das Werk wurde einem Krankenhaus in Southampton gespendet, mit dem Hinweis: „Danke für alles. Ich hoffe, das hellt alles etwas auf, auch wenn es nur schwarz und weiß ist.”
  • Über 7000 Obdachlose und Australien wurden in der Krise in Hotels und Gasthäusern untergebracht – das Programm soll nach COVID weitergeführt werden.
  • »Reisautomaten« wurden in Vietnam in ärmeren Stadtgegenden aufgestellt, um arme Familien zu unterstützen. CNN
  • Die Pandemie erzeugte einen substantiellen Rückgang von Insassen in amerikanischen Gefängnissen – über 100.000 wurden in der ersten Phase der Epidemie entlassen. AP
  • In der Türkei hinterließen Bürgerinitiativen Nahrungspakete auf der Straße für Arme, die während des Lockdowns in Not gerieten. In Pakistan wurde am Rand der Märkte zakat eingehoben, die traditionelle muslimische Armensteuer.
  • Hunderte von Freiwilligen eröffneten in Irland eine Aktion für die besonders von Covid betroffenen indigenen Stämme in den USA. Sie sammelten 8 Millionen Dollar, um eine Schuld zurückzuzahlen, die aus dem Jahr 1847 stammte, als Choctaw und Navahos den Iren bei der großen irischen Hungerkatastrophe halfen. GoFundMe
  • In Bangalore gab ein Restaurant 10.000 Menschen eine warme Mahlzeit am Tag. Eine Gruppe von 1.500 Aktivisten in Ägypten startete eine große Kochoffensive für Haushalte mit Covid-Fällen. Auf den Paketen steht: „Lass es Dir besser gehen” und „Zusammen werden wir das durchstehen!”AP
  • „Wir können nicht ein Volk sein, wenn einige hungrig sind!” lautete der Slogan einer großen Food-Initiative in Südafrika. One People
  • Das päpstliche Hilfswerk schickte Geld an eine Gruppe von Transgender-Sexarbeitern in Rom. NY Daily News
  • Obwohl (oder gerade?) weil Trump Amerika aus der WHO ausschloss, reagierten andere Länder mit Gegenaktionen. Eine Gruppe von Ländern gab 8,8 Milliarden Dollar an GAVI, die weltweite Impf-Allianz. Dieses Geld ist dafür da, den Corona-Impfstoff für die armen Länder zu garantieren. Deutschland erhöhte seinen WHO-Beitrag um 500 Millionen Euro. Andere Länder zogen nach. WHO
  • Und die Einsamkeit? Ja, es gab Menschen, die in der Krise Einsamkeit erlebten. COVID leuchtet hinein in die dunklen Ecken der Gesellschaft, verdeutlicht, zerrt ans Licht, macht sichtbar. Aber es gab auch viel Achtsamkeit. Viel Leuchten. Alte Menschen in den Altersheimen fühlten sich nicht selten sogar BESCHÜTZT. Und gingen erstaunlich konstruktiv mit der Krise um.
    psycnet.apa.org
  • Die ZEIT 44/2020: Alt und glücklich – Für Pflegekräfte war die Pandemie hart – den Senioren ging es besser als erwartet.
    https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/40816-je-aelter-desto-gelassener-in-der-pandemie.html

Die Anthropause

Und dann sahen wir plötzlich diese blauen Himmel mit nur EINEM einzigen Kondensstreifen. Die klaren Wasser in den Kanälen von Venedig. Die Rückkehr mancher Tiere in Gebiete, die vorher von Lärm und Siedlungsdruck geprägt waren. Wissenschaftler sprechen von der »Anthropause«, einer Unterbrechung oder zumindest Dämmung des negativen menschlichen Einflusses auf die Atmosphäre.

Die Natur regeneriert sich erstaunlich schnell. Das kann uns von der düsteren Haltung abbringen, dass sowieso schon alles verloren ist. Es lohnt sich, für eine Zukunft zu kämpfen, in der unser Naturverhältnis besser wird. Durch CORONA haben wir dafür geübt.

  • Bei der Auswertung von 300 Lärm-Stationen stellen Forscher fest, dass die Lärm- und Geräuschpegel weltweit um 50 Prozent gefallen sind. Vice
  • Durch die Geräuschverringerung wurde es möglich, eine globale Karte des Vogelzwitscherns zu erstellen. Der Bioakustiker Bernie Krause und Michael John Gorman, Gründer des Biotopia-Museums in München, stellten diese Töne der Öffentlichkeit zur Verfügung. Guardian
  • Eine große Studie in 34 Ländern stellte fest, dass durch Corona die Nitrogen- und Dioxid-Verschmutzung um 60 und die Feinstaubbelastungen um 31 Prozent gesunken sind. PNAS
  • Chinas Reiseverbote verhinderten, dass über 12.000 Menschen nicht vorzeitig an Umweltverschmutzungen starben – dreimal so viel wie es in China COVID-Opfer gab. Phys
  • Zwei Monate Lockdown taten, was Regierungen in Indien über 25 Jahre nicht schafften: Der Yamuna, einer der größten Flüsse Indiens, wurde so sauber, dass Ibis, Störche und Große Reiher in großen Schwärmen zurückkehrten. NDTV
  • In Mexiko City brachten Indigene Farmer »Schwimmende Gärten« aus der Zeit der Azteken zurück, um die Nachfrage nach frischem lokalen Gemüse in der Pandemie zu befriedigen. Atlas Obscura
    Schwimmende Gärten in Mexico, Screenshot Atlas Obscura, www.atlasobscura.com
  • Schildkröten erleben weltweit eine Schonzeit. Loggerhead -Schildkröten in Griechenlang vermehrten sich kräftig wegen des ausgedünnten Tourismus. Eine Kolonie auf Zakynthos hatte ihre beste Geburtssaison seit Bestehen. Telegraph
  • Tierschützer in Thailand and Florida sahen unerwartet hohe Zahlen von Leatherback-Schildkröten an verlassene Strände zum Brüten zurückkehren. The Independent
  • Der Lockdown in Hong Kong gab einem Panda-Paar im Ocean Park genügend Ruhezeit, um sich näherzukommen. Die Pandas Ying Ying und Le Le schafften es, erfolgreich zu kopulieren – ein ganzes Jahrzehnt hatten sie sexlos gelebt. BBC
  • China verbot nicht nur in Wuhan, sondern auch in anderen Großstädten jeden Verkauf oder Verzehr von Wildfleisch.
  • Es sieht ganz so aus, als ob die Pandemie zum endgültigen Ende des Stierkampfes in Spanien führen wird. Euro News
  • COVID-19 brachte den größten Rückgang von Fleischverzehr in Jahrzehnten. Der globale Verbrauch fiel weltweit rund neun Jahre zurück. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dadurch der generelle PEAK BEEF-Punkt erreicht wurde. Bloomberg
  • Als Resultat der Coronakrise haben kommerzielle Fischfangflotten rund um den Planeten den Betrieb eingestellt. Das Frühjahr 2020 hat Fischbestände weltweit massiv geschont. Island hat angekündigt, keine Wale mehr zu jagen. Japan Times
  • Die Wilderei bei Nashörnern in Südafrika hat sich halbiert – aufgrund von Lockdowns und der Unterbrechung internationaler Flüge. Guardian
  • In Kenia hat die Solarenergie das Land vor einer größeren Katastrophe während der Pandemie gerettet. Während schlechtes Wetter Teile der städtischen Versorgung lahmlegten, profitierten ländliche Regionen von einer Solarinitiative des Landes. Reuters
  • Die Pandemie hat die größte Krise der Ölindustrie in ihrer 150jährigen Geschichte erzeugt, Tatsächlich sieht es so aus, als ob kaum ein Land der Erde (außer einigen Autokraten-Staaten) ihre Fossilenergie-Branche wieder aus der Krise heraussubventioniert. Medium
  • Wenn die Nachfrage nach Öl im Jahr 2021 die Hälfte des Nachfrage-Umsatzes einholt, die sie im Jahr 2020 erlitt, und von da an wieder um 1 Prozent pro Jahr wachsen würde, würde es 8 Jahre dauern, um auf das Niveau des »Alten Normal« zu kommen. In der Zwischenzeit wird der Siegeszug der Erneuerbaren Energien aber richtig an Fahrt aufnehmen.
  • Der CEO von BP sagte in einem Interview, dass ihn die Krise „mehr als je überzeugt hat”, die Ziele des Ölgiganten in Richtung eines CO2-Ausstosses von Null voranzutreiben. iNews
  • Konzerne mit großem Gewicht bekennen sich gerade in der Krise laut und deutlich zu Null-Karbon Zielen, die deutlich FRÜHER als 2050 liegen. Einige Beispiele: Apple, Starbucks, Walmart, Ikea, Procter&Gamble, Boston Consulting, und viele, viele andere…
    www.forbes.com
  • 40 Großstadt-Bürgermeister, die 700 Millionen Großstadt-Bewohner repräsentieren, haben ihre Absicht bekräftigt, eine Transition zu einer nachhaltigeren, low-carbon, inklusiven und gesunden Stadt-Ökonomie zu forcieren. Common Dreams
  • Pakistan hat 60.000 Jobs geschaffen, um ein riesiges Aufforstungsprogramm und 15 neue Nationalparks zu erzeugen.
  • Österreich und Schweden schlossen ihre letzten Kohlekraftwerke, damit traten sie einer Allianz von Albanien, Belgien, Estland, Lettland, Litauen und Norwegen als Null-Kohle-Strommix-Länder bei. Bloomberg
  • Spanien hat mitten in der Pandemie eine neue Initiative für sein ehrgeiziges 100-Prozent Erneuerbare Energie-Ziel gestartet. Das staatliche Programm verbietet alle neuen Fossil-Energie-Projekte und stützt gleichzeitig den Wiederaufbau. Renew Economy

Natürlich ist das alles nicht genug. Es ist NIE genug. Aber es könnte auch eine Richtung weisen. Wir könnten in eine neue Ausgangposition geraten: Hin zu einer Transformation, die uns in eine postfossile Welt führen wird. Es sieht ganz so aus, als ob ein kleiner, gemeiner Virus uns dabei geholfen hat, uns wieder an die Zukunft zu erinnern.

Rätsel und Wunder

Im Mai 2020 bemerkten Krankenhäuser in Irland, dann in den USA, später auch in Hamburg und in den skandinavischen Ländern, ein seltsames Phänomen. Es gab plötzlich VIEL weniger Frühgeburten auf den Entbindungsstationen. Bis zu 75 Prozent weniger. Besonders die sehr frühen «Frühchen« – vor der 30. Woche – blieben aus. Manche Abteilungen, in denen ein besonders hoher High-Tech-Aufwand betrieben wurde, verwaisten regelrecht.
Wie konnte das sein?

Eine Zeitlang machte eine negative Erklärung die Runde: Es gab durch Angst mehr sehr frühe Fehlgeburten. Aber die Daten waren dünn, sie passten nicht zusammen. War es die veränderte Ernährung? Die Entschleunigung des Lebens? Mehr Intimität zwischen den Partnern? Wir wissen, dass viele Menschen in der COVID-Hochphase länger und sogar besser schliefen. Dass Paare und Familien zusammenrückten. Dass sich Arbeits- und Alltags-Stressfaktoren verringerten.

Dieser Effekt könnte sich in einer höheren Stabilität von Schwangerschaften ausgewiesen haben. Könnte. Wir wissen es nicht genau. Aber jede Krise bringt auch Rätsel mit sich. Geheimnisse. Wendungen. Wunder vielleicht.
www.nytimes.com
www.sueddeutsche.de

Der israelische Philosoph Gerhom Sholem beschrieb einst jene Momente in der Geschichte, in denen sich vieles plötzlich ändern kann, während vorher alles statisch und starr verlief. Er nannte sie »Die plastischen Zeiten«. Diese Zeiten verändern den Lauf der Welt, ob wir es wollen oder nicht. „If you move then, something happens. But nothing happens unless you move.”

Stille

Im Juni dieses seltsamen Jahres 2020 besuchte uns der Komet NEOWISE. Ein, zwei Monate stand er stand still am Himmel. Dann verschwand er wieder in den Tiefen des Alls. Nein, das Virus wird nicht verschwinden. Es wird bleiben. Aber es wird uns verwandelt haben. Von der Zukunft aus.

Komet Neowise, Maxime Storn – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org

Die schönsten Corona-Zitate

  • „It is a dangerous moment. But it is also in times like these that we can shape and alter such trends. To complete the story of our future, we must add in human agency. People can choose which direction they want to push themselves, their societies and their world. The novel coronavirus has upended society. People are disoriented. Things are already changing and, in that atmosphere, further change becomes easier than ever.”
    Fareed Zakaria
  • „In the end, it will not be butchery. Instead it will be bakery, as everyone has apparently decided that the best thing to do when the world lurches sideways is learn to make bread.”
    Laura Penny, Wired
  • „Die Geschehnisse der Pandemie haben uns klargemacht: Gestern ist keine Antwort.”
  • „In der Essenz ist die Corona-Krise eine andauernde Befragung unserer gesellschaftlichen Konsistenz, unseres Willens zur menschlichen Kooperation und zum konstruktiven (Zukunfts-)Denken.”
  • „Ich finde, dass der Welt durch Corona eine Pause geschenkt wurde: Wir sollten uns fragen, was uns wichtig ist und worauf wir uns konzentrieren sollen, sowohl beim Thema Klimawandel als auch beim Gesundheitssystem. Wenn wir bei Covid so schnell handeln konnten, dann können wir das auch, um den ganzen Planeten zu retten. Ich hoffe, dass in Amerika die nötigen Veränderungen dafür stattfinden werden.”
    Sigourney Weaver, Schauspielerin
  • „In einer Krise muss man sich entscheiden. Vor dem Entscheiden kommt das Erkennen. So sortieren wir die Welt.”
    Wolf Lotter
  • „Draußen ist die Welt vakuumkrank, die Plätze entvölkert, das Verschwinden der Wimmelbilder legt eine neue Architektur der Leere frei. Die Menschen sind in den Häusern und müssen sich daran gewöhnen, dass das Richtige zu tun auf den ersten Blick so unspektakulär aussieht und das Heldentum dieser Tage für die meisten nicht aus großen Taten, aber kleinen Unterlassungen besteht.”
    Valerie Fritsch
  • „Die Mikroebene des Sozialen wandelt sich während der Pandemie, man geht anders miteinander um, nimmt einander schärfer wahr. Mehr Solidarität, mehr Kritik. Die Prioritäten verschieben sich, ebenso auf der Makroebene, in den Unternehmen sowie in der Politik, die ein ganzes Knäuel geo- und klimapolitischer Krisen entwirren muss. Die Situation ist offen.”
    Gero von Randow, ZEIT