71 – Die Stämme der Zukunft

Werden nur Stämme überleben?

Über dem Klo in meiner ersten WG, es ist fast ein halbes Jahrhundert her, hing ein sepiafarbenes Plakat, auf dem ein Indianer – so nannte man damals die rechtmäßigen Ureinwohner Amerikas – in theatralischer Geste in den Himmel wies. Darunter der Satz “Nur Stämme werden überleben”. So hieß später auch ein Buch über den Kampf der »Indianer«, das mir mit seinem heiligen Tonfall in Erinnerung geblieben ist: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen…”.

Stammeskulturen haben uns angeblich moderne Menschen immer schon rasend interessiert. Das war in meiner Kindheit so, als ich als Karl-May-Sozialisierter alles über Shoshonen, Apachen, Cheyenne, Komantschen und andere edle Wilde wusste. Die bösen, korrupten Cowboys des Wilden Westens sahen dagegen alt aus – obwohl sie beim Cowboy- und Indianerspiel meistens bevorzugt wurde (ich war immer der Medizinmann). Was ich nicht wusste, war, dass es sich um grenzenlose Romantisierungen handelte, mit denen auch die Nazis gut zurechtkamen. In der Hippiezeit gab es dann obskure »Stadtindianer« und eine Menge langhaariger Leute (zu denen zeitweise auch ich gehörte), die die gerne in Protest-Zeltstädten lebten und sich der Schafzucht, dem Sternenhimmel und der Friedenspfeife zugehörig fühlten. Später lasen wir einen gewissen Carlos Castaneda, der eine atemberaubende Geschichte von einem indianischen Zauberer erzählte, der mächtige Wesen beschwören konnte. Und lehrte, in eine andere Welt zu wechseln. Das erübrigte sich dann durch Harry Potter und die Erfindung abgefahrener Computerspiele mit tribalen Welten (man denke an das berühmte »World of Warcraft«).

Alles wiederholt sich. Der Indianerkult ist wieder da. Er speist sich aus unserer Sehnsucht nach einer eindeutigen Zugehörigkeit. Nach klaren Regeln, Ritualen, sozialen Formen, die unbezweifelbar sind. Und dem großen Manitou, der garantiert nichts mit Priestern oder Pfarrern zu tun hat, allenfalls mit Heilern und Medizinmännern. Es riecht nach Wildnis und klaren Verhältnissen. Und nach der Sehnsucht, aus den Wirren der individualisierten Gesellschaft auszusteigen in eine unbestreitbare IDENTITÄT.

Vor Kurzem erschien die Serie »Tribes of Europa« auf Netflix. In diesem dystopischen Szenario (es spielt 2074) haben sich die Zentrifugalkräfte, die die Gesellschaft auseinanderreißen, endgültig durchgesetzt. In einem malerisch zertrümmerten Europa – die Panoramen erinnern an Caspar David Friedrichs »Landschaft mit Ruine« – kämpfen verschiedene Stammeskulturen gegeneinander um Dominanz und Ressourcen. In Mecklenburg-Vorpommern (oder im bergischen Land) wohnen die Hippie-Stämme der ORIGINES in Baumhäusern. Berlin ist eine Ruinenstadt, in der die brutalen CROWS regieren, gegen die die Kiowa und Komantschen, die ihre Gegner bei lebendigem Leibe rösteten und folterten, wie Kindergarten-Onkel aussahen. Die Crows sind eine Fusion aus russischem Gang(ster)tum, dekadenten »Lords«, Peitschen- und Stiefel-Ladys, die sich Sexsklaven halten und einem drogenversessenen Pöbel, der begeistert blutige Gladiatorenspiele konsumiert. Sehr DARK, sehr Berghain. Die CROWS haben eine ehrenwerte Indianereigenschaft: Sie können niemals lügen oder ihr Versprechen nicht halten! Dann gibt es noch die FEMEN, feministische Reiterinnen, und hundert andere Stämme. Dazwischen versuchen Reste des Euro-Corps, eine militärische Truppe mit einem österreichelnden Top-Sergeant, die vom alten Europa übriggeblieben ist, wenigstens eine Grundordnung zu installieren.

Screenshot: www.moviepilot.de

»Tribes of Europa« ist auf eine verstörende Art und Weise authentisch. Die Serie nimmt einen mit, im doppelten Sinne. Verhalten sich auf den Anti-Corona-Demos nicht schon viele wie durchgedrehte Stammesmitglieder, einschließlich Trommeln und Tanzen? Und stand nicht neulich schon ein Behörnter und in Tierhäute gekleideter Schamane im Auftrag von Donald Trump im Kapitol? Ähneln die Hickhacks um Politische Correctness nicht längst schon einem Kampf-Tam-Tam oder einem Potlatch?

Der Stammes-Trend verbindet sich mit den zahllosen Dystopien unserer Tage. In den Trümmern der Zivilisation, so geht die große Story, werden nur heldenhafte Krieger überleben, Rudel von Gleichgesinnten. Der Anthropologe John Gowdy sagt uns sogar eine komplette Dezivilisierung, eine Jäger- und Sammler-Zukunft voraus: www.sciencedirect.com

Der Klimawandel, so Gowdy, macht das Klima so unstabil, dass Landwirtschaft in Zukunft unmöglich wird. Unsere Vorfahren, vielmehr der ausgedünnte Rest von ihnen, wird allenfalls als Jäger- und Sammler überleben können. Ade, Du schöne Digitalisierungswelt. Da fällt der Künstlichen Intelligenz auch nicht mehr viel ein (vielleicht gibt es dann eine geile APP für die Stammeszugehörigkeit, »Tribal Tinder«).

Noch vielschichtiger und vor allem lustiger ist die Serie »Beforeigners« aus Norwegen. Fernsehen (HBO, lief auch schon in der ARD). Aus dem Meer tauchen in regelmäßigen Abständen mit Lichtblitzen FOREIGNERS auf; Fremde, aus der Vergangenheit (dem BEFORE). Entweder aus dem 18. Jahrhundert, der Wikingerzeit oder der Steinzeit – 10.000 Jahre B.C.
Norweger sind politisch korrekt, und deshalb integrieren sie brav die »Timigranten« unter erheblichem Aufwand von Sozialarbeitern und Rechtsanwälten. Und so werden im hypermodernen Oslo fröhlich Ziegen gegrillt, und in der düsteren Disco NivHel (siehe Anhang) wüste Wikinger-Riten gefeiert. Wobei das Ganze an eine Hells-Angels-Corona-Party erinnert…

Im Zentrum der Handlung steht ein abgerockter, selbstverständlich geschiedener nordischer Polizist, der von der Droge »Temproxat« abhängig ist, auch THE VEIL – der Schleier – genannt. Die Droge wird »Timigranten« verabreicht, wenn sie aus der Vergangenheit in der Gegenwart wechseln und von der Hektik der Moderne überwältigt sind. Eine echt gute Medizin gegen alle Fälle von nervöser Reizbarkeit, also für uns alle. An seiner Seite und im üblichen Krimi-Duett steht eine langmähnige, rothaarige Wikingerin, die erste Polizistin mit transtemporalem Hintergrund bei der Osloer Polizei. Sie ist, wie soll es anders sein in nordischen Krimis, leicht autistisch, und deshalb klärt sie alle Morde. Unfassbar lustig sind die Slapstick-Begegnungen, wenn es um Politische Korrektheit gegenüber Cro-Magnon-Menschen geht, die in Villen leben, nackt durch die Gegend laufen und selbstgefangenen Hasen roh verzehren. Dass die edlen Wilden und stolzen Wikinger sich schnell als Clan-Gangster und Zuhälter bewähren und dadurch stinkreich werden, versteht sich von selbst und erinnert irgendwie wieder an Berlin mit seiner Multi-Tribal-Gesellschaft.

Eigentlich geht es in »Beforeigners« um eine lustige Karikatur des real existierenden Tohuwabohus. In jedem von uns steckt ein Urmensch, ein Hau-Drauf-Krieger, eine schmachtende Squaw, und ein Pfeife schmauchender bigotter Landjunker mit steifem Kragen (oder eine bigotte fromme Helene im Spitzenkleid mit Häubchen). Ständig fallen wir zurück in die Regression in Horden- Herden- und Rudelverhalten. „Wir sind nie modern gewesen”, heißt ein Buch des Ethnologen Bruno Latour.

Aber heißt das auch, dass Zivilisation nur »eine dünne Kruste« ist? Unter der sich schnell die Grausamkeit und Bösartigkeit »des Menschen« offenbart? Gerade Corona zeigt auf paradoxe Weise, dass solche Deutung zwar zeitgemäß kulturpessimistisch klingt. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit ist eben doch komplexer. Weltweit hat sich die menschliche Kultur auf etwas Ungeheuerliches geeinigt: Die (universelle) Verteidigung von älteren und schwächeren Menschen gegen einen neuen Keim. Dafür hat man den Zusammenbruch der Wirtschaft riskiert und quält sich ewig mit Lockdowns und Selbstzweifel. Allen Trommeltänzen zum Trotz ist dieser Kampf keineswegs in eine Schlacht »Alle gegen Alle« gemündet (auch wenn es in den Medien immer so aussieht). Vielleicht ist unsere Faszination am Stammeswesen wieder nur so eine Mode, bevor wir entdecken, was wir an einer Gesellschaft haben, die geteilte Werte und einen rückgebundenen Individualismus vorzieht. Dass sich am Rande eines solchen Konsens immer ein paar Indianer herumtreiben, damit sollten wir gelassen leben. Ich glaube sowieso, dass die QAnons und Corona-Freaks und Brüllnazis aus einem Paralleluniversum herbeigebeamt wurden (sie glauben es ja selber).

Bis die Stimmung wieder kippt, in Richtung einer universalistischen Vernunft, nehmen wir noch ein paar Tropfen »Temproxat«. Die träufelt man übrigens in die Augen. Wirkt wie bekifft.

P.S.

Es gibt sogar ein eigenes Beforeigners-Lexikon, das zum Schreien komisch unsere PC-Kultur auf die Schippe nimmt:
beforeigners.com/dictionary

Temporal-Diversity Party (org.)
Political party that fights for beforeigner rights and against timesism.

People’s Movement Against Timeigration (abb. PMAF)
Organization that is critical to timeigration. Main cause: That every beforeigner should be marked by GPS tracking devices.

Nivlhel (beforeigner-slang, from Old Norse Niflhel)
The name of the worst part of the underworld/hell in the Old Norse religion. The term is commonly used by beforeigners about the dentist’s office. Also, the name of a nightclub in Oslo.

«You got beef!»
Popular anti-vegetarian talkshow hosted by the British beforeigner-comedian Charles D’Arcy (b. 1869), which is a global success.