72 – Der große John

Eine Hommage an John Naisbitt, den amerikanischen Trendforscher, der die Megatrends erfand und im Alter von 92 Jahren in Österreich verstarb.

Vielleicht ist es einfach nur dieses Wort. MEGATRENDS! Es wirkt direkt hinein ins Stammhirn. Man kann es in flammenden Lettern an die Wand nageln. In den Himmel projizieren. In jede Broschüre drucken. Es hat eine hypnotische Kraft.
Megatrends sind das was die Welt verändert!
Megatrends sind mächtig!
Wir müssen unbedingt dabei sein!
Wer die Megatrends kennt, kennt das Weltgeheimnis!

Ich kenne John Naisbitt aus zwei Dimensionen, einer publizistischen und einer privaten. Seine Bücher haben mein Schaffen als Trend- und Zukunftsforscher stark beeinflusst. Die 1982 erschienener Weltbestseller »Megatrends« und der in den 90er Jahren erschienene Nachfolgeband »Megatrends 2000« sind sozusagen die Keimzelle meiner Zukunfts-Bibliothek. Nicht umsonst hieß meine erste Firma »Trendbüro« und nicht per Zufall sind die Megatrends bis heute ein Kerninstrument des Zukunftsinstituts.

Ich kenne John Naisbitt auch aus dem Privaten. Ein freundlicher Hüne (rothaarig, irisch-dänischer Abstimmung, ein echter Wikingerkönig), mit dem man stundenlang humorvoll fachsimpeln konnte. Um die Jahrtausendwende saßen wir auf seiner Dachterrasse im 9. Wiener Bezirk, mit Blick auf Stephansdom und Wienerwald und redeten über – ja was? Die Zukunft? Nein, eigentlich nicht so sehr. Die Welt und ihre Zusammenhänge. Politik, Ökonomie. Globalität. China, immer wieder China. Wir tickten ähnlich, aber da war dieses ur-amerikanische an ihm, seine seltsam paradoxe Haltung zu Europa, das er einerseits als weich und nutzlos betrachtete, andererseits bewunderte (ist es bei uns Europäern umgekehrt nicht ähnlich?). Seine Wohnung hing voller moderner Kunstwerke, in die er einen großen Teil seiner fantastischen Honorare umsetzte.

Später war ich bei seiner Hochzeit dabei, in der Wachau, der Toskana Österreichs, an der Donau, wo er seine Doris heiratete, seine Lektorin und (deutschsprachige) Verlagschefin. Ich erinnere mich an einen leuchtenden Blütenfrühling im damals noch goldenen Millennium-Jahr (vor 9/11 und der Finanzkrise). Alles stimmte. Die bessere Zukunft lag vor uns. Die Megatrend-Zukunft.

Wie man sie erkennt

Ich bin in meinem Leben hunderttausendmal gefragt worden, wie man eigentlich Megatrends erkennt. Dabei stand dem Fragenden manchmal ein merkwürdiges Glitzern in den Augen. Ich habe diese Frage lange nicht verstanden. Aber sie hatte ihren Grund.

Wie »findet« man Megatrends? Darauf hatte John eine Antwort: „They grow to you.“
Sie wachsen sozusagen auf Dich zu.
Ich stelle mir John als Megatrend-Magier ein bisschen so vor wie den genialen Spieltheoretiker John Nash in dem Film „The Beautiful Mind“. In einer Schlüsselszene steht Nash in seinem Arbeitszimmer vor einem Chaos von Bildausrissen, Zeitungsartikeln, Kurven, Statistiken. Überall leuchten in seinem beautiful mind Wörter auf, Zahlen, Zusammenhänge. Er sieht Verbindungen in all diesen Elementen und Informationen, die das Puzzle zu einem Ganzen zusammenfügen (Allerdings war Nash schizophren; er »sah« wahnhafte Verschwörungskonstruktionen wie in Illustrierten verborgene Codes für die Kontrolle von sowjetischen Atomraketen in den USA).

Die Trance, in der man die Zusammenhänge der Welt zu verstehen beginnt, ähnelt dem Wahn. Das Hirn arbeitet dann auf einer anderen Stufe der Wahrnehmung, die man »holistisch« oder »integral« nennen kann.

„Betrachten Sie die Welt als Puzzle” lautet eines von Johns Kapiteln in seinem Buch MINDSET.

„Kreativität besteht schlicht darin, die Dinge neu zu verbinden.” sagte Steve Jobs.

In meiner ersten Firma »Trendbüro« hatten wir unzählige Papp-Zettelkasten, in denen wir Bildausrisse, Zeitungsartikel, Statistiken zu allen möglichen Themen sammelten. Genauso primitiv – aber womöglich auch effektiv – arbeitete John Naisbitt bei der Identifikation seiner Megatrends. Es begann mit Kleber und Schere. In den 70ern gründete er (nachdem er stellvertretender Bildungsminister der USA und Manager bei IBM gewesen war), das »Urban Research Institute«, eine Agentur, die Information zum »Urban Decay« sammelte, dem Niedergang der amerikanischen Städte durch Gewalt, Verarmung und Segregation (kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?). Lange vor dem Internet stellte er Studenten ein, die aus den regionalen Zeitungen Amerikas Meldungen zu diesen Themen herausrissen. Aus diesem Material kompilierte die Agentur Trendletter für städtische Behörden, Institutionen und Organisationen. Im Lauf der Zeit wurden immer mehr Themen und Bereiche bearbeitet.
So begann das »Große Ganze« mit einer regionalen Zettelkiste.

Der versteckte Humanist

War John Naisbitt ein Neoliberalist? Das warfen ihm viele vor, die nicht direkt aus dem Business-Umfeld stammten. In der Tat war sein Weltbild klassisch-ökonomistisch geprägt. Niedrige Steuern, Marktkonkurrenz, wenig Staat. Als Amerikaner durch und durch sah er das amerikanisch-westliche Wachstums-Modell als unausweichlich und überlegen. Schon deshalb war er auf jeder großen Business-Konferenz sehr begehrt. Seine Funktion war oft die eines Motivators für die unaufhaltsame Dynamik des westlichen Fortschritts. MEGATRENDS! GO FOR IT!

Weniger bekannt waren seine reflexiven Seiten. Diese Dimensionen fanden sich eher in seinen »stillen«, Büchern, die sich nie so gut verkauften wie die Megatrend-Bücher. Wahrscheinlich, weil er darin nichts verkündete. Etwa in „MINDSET – wie wir die Zukunft entschlüsseln“ (2006), einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir die Zusammenhänge des Wandels verstehen können. Darin sammelt er 10 kluge Regeln, wie man mit Trends umgehen oder NICHT umgehen sollte. Beispiele:
Mindset 1: Während vieles sich verändert, bleibt das Meiste bestehen.
Mindset 2: Die Zukunft ist Teil der Gegenwart.
Mindset 5: Betrachen Sie die Welt als Puzzle.
Mindset 7: Der Widerstand gegen Wandel fällt, sobald seine Vorteile ersichtlich sind.
Mindset 8: Dinge, die wir erwarten, geschehen stets langsamer, als wir denken.
Mindset 9: Resultate erzielen Sie nicht, indem Sie Probleme lösen, sondern indem Sie Chancen wahrnehmen.

Das ist ziemlich klug. Sogar weise. Eine Anleitung in komplexem, NICHT-linearen Denken, die das Phänomen der Megatrends auf einer höheren Ebene reflektierte.

Die Megatrend-Gier

Megatrends haben einen korrumpierenden Charakter. Das habe ich in meiner langen Dienstzeit als Trend- und Zukunftsforscher immer wieder erlebt.
Megatrends suggerieren – erstens – eine radikale Einfachheit. Im Chaos der Welt stehen sie für eine simple A-nach-B- Logik. Alles geht einfach immer nur in EINE Richtung. In ein exponentielles IMMER MEHR. Megatrends versetzen denjenigen, der eine Sehnsucht nach einem einfachen Weltbild hat, in eine fantastische Trance. Man muss dann nicht weiter nachdenken.

Zweitens haben Megatrends immer etwas Präpotentes. Eine Deutungsmacht, die problematisch ist. Wer die Megatrends »beherrscht«, der gewinnt. Wer sie nutzt, macht das größte Business. Das erzeugt einen Hammelherden-Effekt, einen Opportunismus. Alles wollen dabei sein! Alle wollen profitieren.
Das Glitzern in den Augen meiner Kunden beruhte auf der Annahme, mit ein bisschen Cash könnte man einen schönen Megatrend erfinden, der die Absätze kräftig nach oben trieb.
Megatrend Wasserstoff!
Megatrend Naturheilsalbe!!!!
Megatrend integrierter Küchen-Rauchabzug!!!!!!!

Im Börsensektor werden seit vielen Jahren Megatrend-Portfolios verkauft, die meist nicht viel mehr sind als Worthülsen als Verkaufsargumente. »Megatrend Nachhaltigkeit« klingt einfach viel profitabler als Nachhaltigkeit, oder? Aber durch diese Etikettierung erstarrt gleichzeitig der Begriff der Nachhaltigkeit. Er verliert seine Lebendigkeit. Er wird zu einer Marketing-Phrase.

In Wirklichkeit sind Megatrends, wenn wir sie richtig verstehen, wie ein großer Fluss. Ein vielschichtiges Netzwerk von Wirkungen und Phänomenen, von Konnektomen (das versuchen wir, in unserer Megatrend-Map auszudrücken). Sie haben Seitenarme, Untiefen und Turbulenzen, können austrocknen oder anschwellen. Und manchmal ändern sie tatsächlich ihre Richtung.

Jeder Trend hat einen Gegentrend. John Naisbitt hat das immer schon gewusst. Gleich sein zweiter Megatrend aus dem Jahr 1982 lautete:
Forcierte Technologie führt zu der Formel: Je höher die Technologie, desto höher das Kontaktbedürfnis.
Interessant ist sein Verhältnis zur Technologie. Anders als die üblichen amerikanischen »Futuristen« wie etwa Michio Kaku, der uns immerzu die grosse Nano-Cyber-Hyper-Brain-Revolution vom Himmel verspricht, hielt John die Vorstellung, Technologie könne alles lösen, für eine Illusion. Spiel, Kultur, Kunst, Sinnlichkeit war für ihn von herausragender Wichtigkeit. Die Ambivalenz des Technischen beschreibt er in seinem Buch „High Tech High Touch”.

„Die aufregendsten Durchbrüche des 21. Jahrhunderts werden nicht aufgrund von Technologie stattfinden, sondern durch ein erweitertes Verständnis dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein.“
John Naisbitt, High Tech High Touch

John war ein humanistischer Traditionalist, ein Suchender. Um 2000, er war bereits 70, begann Johns letzte große Expedition. Von Europa weiter Richtung China. In Tianjin lehrte er Megatrends, gründete ein ganzes Institut, und von dort aus erforschte er das aufstrebende China. Damals waren die Verhältnisse zwischen den USA und China noch entspannter. Seine Bücher, die er nun zusammen mit Doris, seiner Frau schrieb, bekamen einen anderen Tonfall. Sie waren kultureller, mentaler, fast spirituell. Er vertiefte sich in chinesische Geschichte, schieb in der Weichheit des Verständnisses für eine große Nation und ihren Versuch, ihren eigenen Schnellweg in die Zukunft zu finden. Die Kapitel in seinem „Megatrends-China”-Buch hießen so:

  • Die Emanzipation des Denkens
  • Der Balanceakt zwischen Spitze und Basis
  • Den Wald Grenzen setzen, doch die Bäume wachsen lassen.
  • Von Stein zu Stein ertasten wir uns den Weg durch den Fluss.
  • Freiheit und Fairness.
  • Vom olympischen Gold zu Nobelpreisen.

Ein Versuch, den Konfuzianismus als Gesellschaftsexperiment zu verstehen. In „Megatrends China” finden sich Abschnitte wie dieser (deutsche Ausgabe S. 56):
Chinas vertikale Demokratie
„Denkt der Westen an eine freie, demokratische Gesellschaft, so denkt er an eine horizontale Struktur, in der Einzelne mit gleichen Rechten und in immer wiederkehrenden Zyklen ihre Stimme einer bestimmten Person oder Partei geben. Doch wie wäre es, wenn es eine völlig andere Sichtweise von Freiheit und Demokratie gäbe? Eine, die sich aus einem unterschiedlichen kulturellen Erbe und einer anderen Perspektive auf die Gesellschaft und die Welt speist? Was, wenn es auch ein vertikales und nicht nur ein horizontales Modell gäbe?”
(Chinas Megatrends, Die 8 Säulen einer neuen Gesellschaft, S. 56)

Das ist mutig. Es ist geradezu radikal. Eine Selbsthinterfragung. Es sieht die Welt mit den Augen der anderen und riskiert damit alte Gewissheiten. Aber zugleich ist das natürlich Verrat. Verrat am westlichen Denken. Die Welt mit anderen Augen sehen. Dazu gehört Mut und Kraft. Und das Risiko, Brücken hinter sich zu verlieren.

John Naisbitt zu würdigen, heißt seine Arbeit, seinen »Code« der Neugier und der Zusammenhangdenkens weiterzuführen. Es ist deshalb auch nicht pietätlos, auf die blinden Flecken in John Naisbitts Werk hinzuweisen. Die Ökologie hat er immer ausgespart. Das Phänomen der Erderhitzung war ihm suspekt. Er leugnete es nicht direkt, aber er nahm es nicht ernst. Er konnte es in seinem Modell des Fortschritts nicht wirklich prozessieren.

Heute offenbaren sich die Gegentrends der Megatrends. Neo-Nationalismus gegen Globalisierung. Hysterischer Egoismus gegen die Individualisierung. Der Terror der Aufmerksamkeit gegen die Große Vernetzung. Jeder Trend hat eine innere Paradoxie. Jeder Trend hat einen »Tipping Point«. Auch jene Megatrends, die wir für ewig hielten, geraten in Turbulenzen.

Die Corona-Krise stellt die Frage nach neuen Synthesen, nach Entwicklungen in höherer Ordnung. Wir gehen in neue Konfrontationen einer multipolaren Weltordnung. Wir müssen uns mit dem zähen Erbe des fossilen Industrialismus auseinandersetzen. Eine Pandemie beschleunigt und disruptiert die Megatrends. Können wir dafür wieder eine Sprache finden, einen Code? Können wir unsere »Mindsets« an die neuen Turbulenzen anpassen, und wieder Erkenntnis-Schneisen in die kommende Komplexität schlagen, wie John es vor Jahrzehnten getan hat?

Ein bisschen hat John, glaube ich, daran gelitten, dass er immer als Prophet missverstanden wurde. John betonte, dass er die Gegenwart erforschte, nicht die Zukunft, die letztlich Ergebnis eines Evolutionsprozesses sein wird. „Wer den Blick nur in die Zukunft richtet, kann leicht über die Gegenwart stolpern.”, schrieb John in MINDSET. Man kann die Welt in ihrem Wandel verstehen, aber man sollte nicht in die Falle des PROGNOSTIZISMUS rennen. Sondern seinen Geist öffnen für das, was sich im Werden befindet. John starb am 8. April 2021 am Wörthersee im Kreise seiner Lieben. Geboren wurde er 1929, auf einer Zuckerrübenfarm bei Salt Lake City, in einer zutiefst frommen Mormonen-Bauernkultur, in der er Priester werden sollte. Was ein Weg durch die Welt, was für eine Spanne durch Raum und Zeit und durch das Leben, lieber John!

Die Megatrends der Großen Megatrend-Bücher (1982 und 1993) in der Übersicht:

Megatrends

Von der Industrie- zur Informationsgesellschaft
Je höher die Technologie, desto höher das Kontaktbedürfnis.
Von der Nationalökonomie zur Weltwirtschaft (Globalisierung).
Von kurzfristig zu langfristig.
Von der Zentralisation zur Dezentralisation.
Von der institutionalisierten Amtshilfe zur Selbsthilfe.
Von der repräsentativen zur partizipatorischen Demokratie
Von Hierarchien zu Verbundenheit, Verflechtung, und gegenseitiger Abhängigkeit.
Von Norden nach Süden.
Vom Entweder-Oder zur multiplen Option.

Megatrends 2000 (mit seiner ersten Frau Patricia Aburdene)

Der Globale Boom der 90er.
Renaissance der Künste.
Die Emergenz des Freier-Markt-Sozialismus.
Globale Lebensstile und Kultureller Nationalismus .
Die Privatisierung des Wohlfahrtsstaates.
Aufstieg des Pazifischen Raums.
Die 90er: Frauen in Leadership.
Das Zeitalter der Biologie.
Religiöses Revival des Dritten Millenniums.
Der Triumph des Individuums.