74 – Willkommen im Post-Corona

Hat die Pandemie ein neues Zeitalter erzeugt?
Oder rasen wir geradewegs zurück ins Alte Normal?

© Julian Horx, Das große Covid-Panorama (Aluhüte allerorten)

Momentan befrage ich gerne Menschen über ihre persönliche Bilanz der Corona-Krise.
Wie ist es Ihnen/Euch ergangen in dieser schwierigen Zeit?
Gibt es etwas, das für die Zukunft bleibt?
Womöglich etwas Besseres?
Die meisten sprudeln sofort los: „Ich habe mitten im Lockdown gemerkt, dass vieles schief lief in meinem Leben. Ich werde in Zukunft meinen Job ganz anders angehen. Meine Beziehung hat sich total verändert!”
„Ich bin aufgewacht.”
„Die Vögel haben morgens ganz anders geklungen, das vergesse ich nie.”
„Ich habe gemerkt, wie unwichtig vieles ist, was ich früher für TOTAL wichtig gehalten halte.”
„Welche Zeit ich verschwendet habe, bei der Vorstellung, keine Zeit zu haben!”
„Jetzt beginnt etwas Neues, in das ich mich erst hineintasten muss. Aber es wird passieren.”

Ich frage dann nach: „Und hat sich in der Welt etwas dauerhaft verändert?”
Kurzes Innehalten. Dann Kopfschütteln. Niemals. Nein. Die Leute ändern sich ja nicht. Alles wird genau wie vorher.
Die Staus.
Die Partyfeierei.
Billigflieger.
Kreuzfahrtschiffe.
Dumme Politiker.
Grölende Populisten.
Plastikmüll.
Artensterben.
Die ganze Litanei.

Diese seltsame, ja geradezu unheimliche Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und Weltdeutung nenne ich den Wandel-Autismus. Man trennt dabei sein inneres Universum vollkommen von der Welt ab. In diesem Selbst-Kokon ist man fest davon überzeugt, nur man selbst würde sich ständig wandeln. Während sich »die Welt« durch störrische Verweigerung jeder Veränderung auf dem Weg in den Abgrund befindet.

Dabei verändert sich die Welt ja.
Wie kommt diese Konstruktion zustande? Es ist vielleicht auch ein bisschen psychologisch: Wenn man unsicher ist, wertet man sich selbst auf, indem man alles andere abwertet. Das ist sozusagen der innere Populist, der hier in uns arbeitet.
Aber es hängt natürlich auch mit der überwältigenden Macht der Medien zusammen, die uns rund um die Uhr am Draht von Negativ-Vermutungen und Angstbeschwörungen zappeln lassen.
Lasst alle Hoffnung fahren!

Eine andere Reaktion auf die Krisenerfahrung ist das, was man als Normalitäts-Zynismus bezeichnen könnte. Im Feuilleton und den Deutungsmedien treten jetzt reihenweise die Rückwärtsdeuter auf. Mit regelrecht drohender Stimme wird auch nur die kleinste Idee, ETWAS könnte sich durch Corona verändert haben, oder anders werden, als dumme Naivität denunziert. Jede vom Alten Normal abweichende Vor-Stellung wird in Grund und Boden gestampft.

Diesen reaktionären Zynismus könnte man auch das »Scheuer-Syndrom« nennen; nach dem deutschen Verkehrsminister.
Nicht weniger reaktionär ist das „linke“ Argument, nur reiche Menschen hätten in der Corona-Zeit Wandel-Erfahrungen machen können. Ich kenne Taxifahrer, Kneipenwirte, Künstler und Krankenschwestern, die das Gegenteil beweisen. Eine Tiefenkrise wie die Corona-Pandemie berührt ALLE auf die eine oder andere Weise. Aber egal, Hauptsache, die alte Klassenkampf-Logik wird wieder hergestellt.

Erschütterungs-Krisen wie Corona erzeugen offenbar einen Zwang, die eigenen inneren Konstrukte – früher nannte man sie Ideologien – umso hartnäckiger verteidigen zu wollen, je größer und deutlicher der Wandel an die Tür klopft.

Dabei könnte man auch staunen, was alles passiert ist. Oder NICHT passiert ist. Die Weltwirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Europa ist nicht auseinander­gefallen. Die Aluhüte haben nicht die Macht ergriffen, obwohl das im Fernsehen immer so aussah. In einem halben Jahr wurden fast 4 Milliarden Impfdosen produziert und ausgeliefert. Weltweit.

Das ist natürlich nicht genug. Unsere Ansprüche an eine Krise und ihre Lösung sind viel höher.
Wir könnten, statt uns dauernd zu beklagen, hineinhorchen in den Klang der Zeit.

  • In den USA, aber auch bei uns in Europa, kommen plötzlich Millionen Menschen nicht mehr zurück zur Arbeit. In den USA redet man vom „labor crunch“, besonders in den schlechtbezahlten Branchen sind plötzlich viele Mitarbeiter verschwunden. In Europa fehlen Arbeitskräfte überall. Handwerker sind so begehrt, dass man ihnen rote Teppiche ausrollt (und sie nie ans Telefon bekommt). Könnte das der Beginn einer dauerhaften Veränderung der Arbeitswelt in Richtung auf mehr Eigenbestimmung und Würde sein, ein work shift?
  • Der Populismus, dieses andauernde Schreckgespenst, wandelt seinen Aggregatzustand schneller, als man schauen (und sich fürchten) kann. Trump, der Guru der Bösartigkeit, wurde durch die Pandemie vom Angsthelden zum Hanswurst. Marine Le Pen bekam selbst in der Regionalwahl in Frankreich keinen Fuß auf den Boden. Die AfD zerlegt sich längst in den rechten Wahn. Aber wir fürchten uns immer noch, das haben wir so gelernt. Aber längst bilden sich neue politische Bewegungen, Proteste wie in Brasilien, Integrationsprojekte wie in Polen und Ungarn oder Italien, BürgermeisterInnen-Triumphe in Großstädten, die auf eine neue politische Landschaft jenseits der alten Links-Rechts-Logik hinweisen.
  • 20 Prozent aller Großkonzerne in den USA und Europa haben in den vergangenen Monaten ehrgeizige Dekarbonisierungs-Ziele beschlossen. Plötzlich bekennen sich Riesenkonzerne wie IKEA oder Microsoft oder Apple zu „carbon free“-Strategien bis 2030 oder 2035. Nun kann man das alles wieder als »greenwashing« denunzieren. Aber es könnte ebenso gut sein, dass wir es mit einem echten »green shift« zu tun haben (in meiner Diktion: einer blauen Wende). Corona markiert einen Tipping Point in Richtung auf eine ökologischere Welt.
  • In der Digitalisierungsfrage gibt es einen Klarstellungseffekt. Einerseits hat die Pandemie digitale Möglichkeiten erweitert. Andererseits wurde deutlich, dass Technologie alleine immer in die Irre führt. Was Gesellschaften zusammenhält und durch Krisen führt, sind letzendes Vertrauens- und Kooperations-Systeme. Sozio-Techniken statt reine Technologien.
  • Anstatt uns an der eitlen Frage abzuarbeiten, „warum sich niemals etwas ändern kann”, könnten wir mit einem neuen, offenen Blick auf die Welt schauen. So wie wir ja auch uns selbst neu betrachten.

Venedig-Regnose, Zweiter Teil

Es lohnt sich, in dieser Situation wieder nach Venedig zu fahren. Nicht nur weil die Gondoliere bessere Laune haben (und es jetzt die ersten GondolierInnen gibt, eine Revolution!).
Venedig steckte vor der Pandemie in einer doppelten Krise fest. Sozusagen in einer symbolischen Gesamtkrise für uns alle. Erstens durch das große ZUVIEL: den ÜBERtourismus, vor allem durch den massenhaften Ansturm von Tagesgästen von riesigen Kreuzfahrtschiffen.

Gleichzeitig wurde die schöne Stadt im Wasser durch die Globale Erwärmung bedroht wie keine andere Stadt – schließlich liegt sie genau auf dem Wasserspiegel. Sie bildet sozusagen den Vorposten der Menschheit in der kommenden Auseinandersetzung mit uns selbst.
2019, ein halbes Jahr vor Corona, kam es zu Rekordzahlen beim Tourismus – 30 Millionen Besucher in einem Jahr! Und zu einem Rekordhochwasser im November, das praktisch die ganze Stadt tief unter den Meeresspiegel absenkte.

Siehe dazu den Film von Sara Tirelli und Jens Nicolai: Zurück zum Massentourismus?

Wer zwischen April 2020 und 2021 auf dem Markusplatz saß, erlebte eine völlig gewandelte Stadt. Eine leere Stadt, wie eingefroren in einer Zeitblase, in der sich die Möwen statt der Tauben vermehrten und die Menschen wieder miteinander ins Gespräch kamen. Die Flugzeuglinien am Himmel waren seltene weiße Zeichnungen geworden, exotische Codes einer vergangenen Zeit. Und kein dickes Kreuzfahrtschiff überragte den Markusplatz.

Und nun geschah etwas Seltsames. Die Venezianer setzten sich wieder in Beziehung.
Etwa 50.000 Menschen leben noch dauerhaft in Venedig. Viele verlassen über Monate die Stadt, vermieten ihre Wohnung, und ziehen zu Verwandten auf dem Festland. Bürgerinitiativen zur touristischen und ökologischen Krise Venedigs hatte es schon vorher gegeben. Aber nun erstarkten diese Initiativen. In der leeren Stadt gab es im Sommer 2020 große Demonstrationen und Debatten über die Zukunft der Stadt, organisiert von Initiativen wie „No Grande Navi” – keine großen Schiffe, und „We are here Venice”.

Im Februar 2021 beschloss die italienische Regierung, die Groß-Kreuzfahrtschiffe nicht mehr am Markusplatz anlegen zu lassen:
Zubeißen und abhauen (Süddeutsche Zeitung)

Seitdem geht es hin und her. Natürlich ist ein Teil der Bewohner für die Rückkehr des Alten Normal. Aber das Wesen einer echten Krise ist es, dass sie das aus dem Ruder gelaufene Normale zum UNNORMAL macht.

Die neue Gelassenheit

Es ist auch nicht unbedingt ein Zufall, dass die Architektur-Biennale 2020/21 in Form einer REGNOSE stattfindet.
Ein Architektur-Festival, das aus der Zukunft auf uns zukommt.
Wir befinden uns im Jahr 2038. Ein gutes Jahrzehnt nach dem »Großen Zusammenbruch«, der sich Ende der zwanziger Jahre ereignete.

Heute, im Jahr 2038, haben wir die großen Krisen gemeistert. Es war knapp, aber wir haben es geschafft. Die globalen, ökonomischen und ökologischen Katastrophen der 2020er Jahre brachten Menschen, Staaten, Institutionen und Unternehmen zusammen. Gemeinsam verpflichteten sie sich auf Grundrechte und schufen selbsttragende Systeme auf universeller Basis, die dezentralen lokalen Strukturen den Raum geben, individuelle Lebensweisen zu erhalten.
(Aus dem Text des Deutschen Pavillion Programms)

Die Rück-Zeitreise beginnt mit dem Film The New Serenity.
Billie und Vincent, zwei Jugendliche des Jahres 2038, reisen mit ihren KI-Begleitern zurück in das menschenleere Venedig der Pandemie. Das Datum: 9.April 2021, mitten im Dritten Lockdown. Sie wundern sich. Sie staunen, über das, was damals üblich war.
Dass sie Menschen klobige Smartphones benutzten, statt schwirrender KI-Emanationen.
Dass viele Menschen so unruhig und verzweifelt waren.

The New Serenity, invites you to discover a story between fact and fiction. In a series of films, it tells the history of a better world in which everything, though imperfect, is better in some pretty profound and radical ways.
Venedig Biennale Text 2021

Hier einige Dialogzeilen aus dem Film:
„My Mum thinks the early twenties were a totally broken time.“
„The rich were superrich and yet totally unhappy because there was no direction at all.“
„And everybody else was just complaining…“
„And everything else was really messed up.“
„Why aren’t you named Greta? If I was a girl, my parents would have called me Greta.“
„I was born on the very day Greta turned 18.“
„I think I the old times they separated virtual and not virtual quite a lot….“

Venedig ist ein Symbol für alles, was wir in der Corona-Zeit so deutlich spüren konnten. Wie nahe wir »am Wasser gebaut« sind. An den Schnittstellen zwischen Himmel und Erde. Wie verletzlich wir sind, aber auch wie fähig, die Welt neu zu gestalten.

Venedig war eine kriegsführende Sklavenrepublik. Ein Kraftwerk der Kunst. Ein Zentrum dekadenter Feste. Eine Erfindungsschmiede von Schifffahrts-Techniken. Ein frühes Zentrum der Globalisierung. Der Schauplatz von Mord und politischer Intrige. Eine Schmiede der Bürger-Demokratie.
Und durch alle Krisen hindurch entstand immer mehr Schönheit.

Wird sich etwas ändern, in der schönen Stadt Venedig? Die Zyniker sagen: Niemals! Die Hoffenden sagen: Hoffentlich! Die Zukunfts-Wissenden sagen: Natürlich. Denn wenn ich wieder nach Venedig reise, werde ich selbst ein anderer geworden sein.
Dabei verändert sich die Welt ja. Ständig. Unsere innere und unsere äußere Welt.

Mehr zu alledem in „DIE HOFFNUNG NACH DER KRISE“, Erscheinungstermin: August 2021.