77 – Die blaue Vision

Warum wir endlich aufhören sollten, die Welt ständig panisch „retten” zu wollen.
Vorschläge für ein neues ökologisches Denken.


„Menschliche Geschichte, ist im Wesentlichen eine Geschichte der Ideen.”
„Human history is, in essence, a history of ideas.”
H. G. Wells, der bekannteste Futurist des frühen 20sten Jahrhunderts

Es lohnt sich, ein wenig über diesen Satz nachzudenken. Wie kommt es zu Epochenwandel, zu Transformationen der menschlichen Kultur. Oft sind es Katastrophen, Krankheiten, Kriege, die der menschlichen Kultur eine neue Richtung geben. Aber solche »events« sind eher Auslöser als Ursachen. Dahinter, in den Tiefenschichten menschlicher Kulturen, haben sich längst fundamentale Ideen entwickelt, die zum Durchbruch drängen. Indem sie sich im collective mind verbreiten wie eine mentale Infektion und die Gesellschaft, die Denk- und Fühlweisen, umformen.

Man denke an das Christentum vor 2000 Jahren. Oder an die Renaissance im 15. Jahrhundert, als sich nach einer schrecklichen Pandemie, der Pest, die humanistischen Prinzipien langsam durchzusetzen begannen. Die Ideen des naturwissenschaftlichen Denkens formten schließlich die Industriegesellschaft mit ihrer ungeheuren „Entfesselung der Produktivkräfte“. Daraus entstanden die Ideo-logien des Kommunismus und des Kapitalismus, deren »clash« über fast ein ganzes Jahrhundert die Welt in Kriege stürzte. Bis zu jenem Überfluss an Waren, Gütern und Services, den wir heute in der fossilen Zivilisation in weiten Teilen der Welt genießen können. Eines Wohlstands, der auf der exzessiven Nutzung von Kohlenwasserstoffen basiert, die unser Planet seit Jahrmillionen aus Biomasse destilliert hat.

Jetzt steht also ein neuer Epochenwechsel an: Die ökologische Transformation. Wir alle wissen das. Aber können wir es auch verstehen? Große Ideen können auch an ihren inneren Paradoxien scheitern. Hannah Arendt schrieb über die Möglichkeit eines »gestockten Wandels«:

„Es entsteht erst ein Meinungschaos, das sich fern aller Vernunft unter dem Druck eines außerordentlichen Notstands in eine Reihe miteinander in bitterster Feindschaft stehender Massenhysterie kristallisiert, die alle nur auf den „starken Mann“ warten, der sie endlich erlösen wird, indem er aus ihren Elementen über Nacht jene nicht minder hysterische einstimmige Meinung fabriziert, die der Tod aller Meinungen ist.“
Hannah Arendt, „Über die Revolution“, Piper 2011

Die ökologischen Mindfucks

Etwas an der Ökologiedebatte ist seltsam schiefgelaufen. Obwohl – oder gerade weil die grüne Bewegung so erfolgreich war. In meiner Jugend lagen noch dicke Schaumberge auf deutschen Flüssen und Recycling war ein Fremdwort. Solarkollektoren waren ein technischer Witz und »grün« sein hieß, lange Haare zu haben und Schafe zu züchten. Heute ist die Ökologie DAS Zukunftsthema überhaupt, ein Mittelschichtsthema, ein Medienthema, endlich auch ein technisches und ein wirtschaftliches Thema. Kein Prominenter, Manager, Politiker, Journalist, der nicht der AfD oder ähnlichen Leugnungs-Ideologien anhängt, würde sich heute NICHT für den Kampf gegen den Klimawandel und für „Nachhaltigkeit“ positionieren. Der Vorsitzende der CSU klingt manchmal wie Greta Thunberg, ebenso wie der CEO von Volkswagen.

Aber gleichzeitig herrscht eine seltsam rotierende Panik. Wir sind in einer Art Unmöglichkeitsfalle steckengeblieben. Die öffentlichen Debatten um den Klimawandel handeln immer nur von Unmöglichkeiten. Ständig nölt und jammert ein kleines grünes Männchen in uns, das immer den gleichen Text vorträgt:
Es geht nicht!
Es KANN gar nicht gehen!
Es MUSS schiefgehen!
Die Welt geht unter!
Die Menschen sind zu dumm.


Dieses apokalyptische Rumpelstilzchen ist der Botschafter eines Zynismus der Angst. Ich glaube, dass die Hindernisse auf dem Weg in eine ökologische Zukunft in vier »Mindfucks« – kognitiven Missverständnissen – begründet liegen, die uns von einer Zukunft abhalten, die wir uns eigentlich wünschen. Ich möchte vier dieser inneren Verschwurbelungen etwas genauer darstellen:

  • Hundertprozentismus
  • Naturverheiligung
  • Weltrettungs-Wahn
  • Verzichtsirrtum

Der Hundertprozentismus

In vielen Zeitungen und Magazinen sind in den letzten Jahren wunderbar ironische Geschichten erschienen, in denen ein Mensch oder eine ganze Familie versuchte, ökologisch einwandfrei zu leben. Besonders lustig ist die Story mit dem Verzicht auf das Klopapier. Oder dem plastikfreien Haushalt, in dem sich alsbald die Motten einnisteten. Allein der Versuch herauszufinden, ob Plastik- oder Papiertüten, Glasflaschen oder Pappkartons umweltschädlicher sind, kostete unendlich viel Recherche. „Fast Nackt: Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben.“ heißen entsprechende Bestseller. „Öko-Challenge“ oder „Lebe wild und emissionsfrei“. Oder „Das Leben ist eine Öko-Baustelle“. Alle diese Werke sind ziemlich lustig, aber sie handeln auch von einer Sinnlosigkeit, die sich ständig selbst bestätigt.

Ökologischer HUNDERTPROZENTISMUS ist der Versuch, perfekt »spurenlos« zu leben. Aber diese Vorstellung entsteht aus einer im Grunde unökologischen Vorstellung dessen, was Natur ist.
Jedes Lebewesen hinterlässt Spuren. Es ist auf vielfältige molekulare Weise mit seiner Umwelt verbunden. Es ist das Wesen des Lebens, Absonderungen zu erzeugen – und so mit den umgebenden Kreisläufen in Verbindung zu treten. Wälder, Biotope, Natur sind unter einem bestimmten Betrachtungswinkel nichts anderes als Deponien der Organismen, die sie bewohnen. Nur eben intelligente Deponien. Der Abfall des einen ist die Nahrung des anderen.
Seit Milliarden Jahren formen Organismen den Planeten – angefangen mit den Blaualgen, die vor zweieinhalb Milliarden Jahren die „Große Sauerstoffkatastrophe” auslösten. Damals starben 90 Prozent aller Organismen aus; ein schreckliches Artensterben, weil die Algen begannen, das (damalige) Gift Sauerstoff in großen Mengen zu produzieren.
Ein hundertprozentig spurenloses Leben wäre kein Leben. Sondern Sterilität und Stagnation.

Michael Braungart, der Apologet der „Cradle-to-Cradle“-Bewegung, hält die Metapher des ökologischen Fussabdrucks für eine Terror-Metapher, die uns in unserer Daseins-Berechtigung auf fatale Weise unter Druck setzt. Er kämpft für die Lösung von der Zukunft aus: In einer zirkulären Ökonomie gibt es keinen Müll, sondern nur feedings in intelligente Energie- und Material-Kreislaufsysteme. In solchen Systemen findet kein Verbrauch, sondern immerzu Transformation statt. Eins wandelt sich ins andere. Aus Abfällen entsteht das ständige Neue. Wie in der Natur.
Braungart nennt das die „Intelligente Verschwendung“.

„Die Menschen haben primär kein Problem der Umweltverschmutzung, sie haben ein Designproblem. Wenn die Menschen die Produkte, Werkzeuge, Möbel, Häuser, Fabriken und Städte von Anfang an intelligenter gestalten würden, müssten sie an Dinge wie Verschwendung, Verschmutzung oder Mangel nicht einmal denken. Gutes Design würde für Überfluss, ewige Wiederverwendung und Vergnügen sorgen.“
Michael Braungart, „Intelligente Verschwendung“, Oekom

Die Verheiligung der Natur

Wir alle fühlen uns schuldig:
Schuldig, dass wir nehmen, was uns nicht zusteht.
Schuldig, dass wir gierig sind, egoistisch und naturzerstörend.
Schuldig, dass wir existieren.

Ein Teil unseres Problems mit der ökologischen Zukunft hat mit einer religiös-romantischen Vorstellung von Natur zu tun. Natur wird als heilige Einheit begriffen, die man um keinen Preis »stören« darf. Adam und Eva lebten in einem Paradies, in dem „Wolf und Schaf beieinander lagen“. Natur ist aber nicht »harmonisch«, auch wenn sie in jedem Autokatalog, in jeder Hautcreme- oder Margarinewerbung so dargestellt wird. Jeder, der schon einmal mit einem wachen Auge über eine Blumenwiese gegangen ist, weiß das. Alles ist ein unendlicher Verdauungsprozess. Auch – oder gerade, wenn es ziemlich schön aussieht.
Menschen, die sich schuldig fühlen, neigen zu Aggression oder Selbstabwehr. Naturromantik ist eine mentale Falle, in der wir keine Chance haben, unsere Existenz zu rechtfertigen. Sie setzt uns der Natur gegenüber, trennt uns von ihr in einer konstruierten Feindschaft, die nur aufhebbar ist, wenn wir uns selbst abschaffen.

Zukunftsweisender wäre es, zu verstehen, dass wir immer TEIL der Natur sind. Einschließlich unserer Lebensweisen, Erfindungen, Produkte, auch unserer Technologien. Die menschliche Kultur ist Ergebnis und Ausdruck evolutionärer Gesetze, die in die Zukunft weisen. Inklusive unserer »Sünden«.

„Schrecklich vieles, was über die Ökologie zum Besten gegeben wird, erfolgt eigentlich im Diskurs der Ölwirtschaft. Fast nichts im ökologischen Diskurs findet tatsächlich in der Sprache der Ökologie statt. In einer vom Öl bestimmten Wirtschaft ist schon die Sprache bis ins Mark verzerrt. Das ganze Reden über Effizienz und Nachhaltigkeit handelt eigentlich von der Konkurrenz um die knappen, hochgiftigen Ressourcen.“
Timothy Morton, „Ökologisch sein“, Matthes & Seitz

Der Weltrettungs-Wahn

Haben Sie sich einmal gefragt, woher eigentlich diese atemberaubenden Naturbilder im Breitwandformat kommen, die uns seit Jahren faszinieren? Die Kamerafahrten über riesige Elefanten- und Walherden, die unfassbare Schönheit von Wäldern, Bergen, Flüssen, Ozeanen bis zum blauen Horizont, wie man sie in Filmen wie Unsere Erde – Deep Blue, Terra 1 und 2 oder David Attenborough’s wunderbaren Expeditionen bewundern kann. Oder die faszinierenden Bilder des Planeten aus der Umlaufbahn: The Blue Marble, ein Juwel im Weltall.

Wie kann man so etwas überhaupt filmen, wenn die Erde längst kaputt, geplündert, umgekippt, zerstört ist? Ist diese Wunderwelt etwa im Studio gefaket – wie die Mondlandung, die ja bekanntermaßen nie stattgefunden hat …?

Weltretten ist eine unglaublich attraktive Vorstellung, die eine gewisse Erotik beinhaltet, kein Superheldenfilm kommt ohne diese Attraktion aus. Allerdings setzt sie einen negativen Kanon voraus, in dem das Böse, Verderbte bereits überall ist – eine riesige Verschwörung. Das Narrativ des Untergangs ist allzu leicht missbrauchbar. Religionen und Ideologien haben immer auch im Namen der „Errettung“ (der Seelen, der Ordnung) Verbrechen begangen. In der Nazi-Ideologie oder im Djihadismus, auch im Marxismus, finden sich immer apokalyptische Drohungen, die als Begründung für Terror dienen. Auch Trump und Co. treten als grandiose Retter auf – sie wollen irgendeine glorreiche Vergangenheit, die gar keine war, um jeden Preis wiederherstellen.
Komme was wolle.
Notfalls mit Gewalt.

Lassen wir einmal einen Moment die Idee zu, dass die Welt es gar nicht nötig hat, gerettet zu werden. Auch die Vorstellung, dass sie sich „an uns rächt“, ist eher Ausdruck eines allzu einfachen Projektions-Spiels. Ähnlich wie wir Robotern menschliche Fähigkeiten und Gefühle unterstellen, die sie gar nicht haben.
Die Idee, dass „die Natur“ durch menschlichen Einfluss zum UMKIPPEN gebracht werden kann, kenne ich seit meiner Jugend, als der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte.
Aber GEHT das überhaupt?

Erle C. Ellis, ein Ökologieprofessor der Universität Maryland, hat die These vom „Umkippen der Natur“ mit den Mitteln der systemischen Simulation untersucht. Um die Biosphäre „zum Kippen“ zu bringen, müsste eine extremistische Über-Macht (also böse Übermenschen oder monströse Außerirdische) riesige Mengen von Gift, Müll, Hitze, Strahlung, an ALLEN Stellen der Erde über einen langen Zeitraum einbringen. Erst dann würden die unzähligen Adaptions- und Rückkoppelungsprozesse der Natur auf eine Entropie zulaufen (eine andere Beschreibung für „kippen”).

Auch wenn wir alles Plastik der Welt in die Meere schaufeln würden, würde das nicht ausreichen, eine Roland-Emmerich-Apokalypse wie im Katastrophenfilm „2012“ herbeizuführen (da wird sogar der Himalaya unter Wasser gesetzt, some like it BIG). Selbst eine Klima-Erwärmung um 5 Grad erfüllte die Bedingung nicht. Das Klima würde nach einer turbulenten Übergangsphase irgendwann auf ein neues dynamisches Equilibrium einpendeln. So wie es schon oft in der Geschichte des Planeten war.
Die nüchterne Wahrheit ist: Es wird uns nicht gelingen, »den Planeten« umzubringen oder »die Natur« zu zerstören.
Es wird uns auch nicht gelingen, uns selbst auszurotten.

Merken Sie, wie schwer es ist, diese Sätze zu »prozessieren«? Etwas in uns scheint die Phantasie des Weltuntergangs, den wir selbst schuldhaft verursachen, hochgradig faszinierend zu finden. So faszinierend, dass wir stur hineinstarren…

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die psychologischen Mechanismen von Untergangs-Phantasien in allen Einzelheiten auszuleuchten. Ich empfehle dazu das Buch der Kulturwissenschaftlerin Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. Stellen wir uns vor, wir würden die Notwendigkeit zur Weltrettung nur deshalb so faszinierend finden, weil wir in unserer negativen Grandiosität verliebt sind. Wir fühlen uns in der Weltuntergangs-Phantasie supermächtig, weil wir uns in der realen Welt oft ohnmächtig fühlen.

Stellen wir uns nun umgekehrt vor, wir müssten die Welt gar nicht retten.
Aber wir können sie verbessern.
Das wäre eine ganz andere Blickrichtung, oder?

„Die apokalyptische Rede wird nicht viel weiterhelfen und zum Handeln motivieren. Sie bleibt heute ein zahnloser Tiger, weil der Weltuntergang gewissermaßen habituell geworden ist … Die Endzeit ist Alltag, die Katastrophe die säkularisierte Erscheinung, und die alltägliche Gewöhnung macht aus der apokalyptische Rede … ein stumpfes Schwert.
Armin Nassehi, „Die große Weltveränderung“

Die Regnose des Autofahrens

Ich fahre seit 10 Jahren Elektroautos. Erst war das ein bisschen mühsam. Verzicht von Reichweite, Komfort und Anerkennung. Heute nach einer Fahrstrecke von einer halben Million Kilometern – damit kommt man lässig zum Mond – weiß ich, dass Elektroautos die überlegenen Fahrzeuge sind. Sie beschleunigen besser, sie sind leiser, sie fahren sich smarter, sie sind (potentiell) eleganter, weil man nicht eine Karosserie um eine unglaublich komplexe Verbrennungs-Maschine herumbauen muss, die drei viertel unnütze Wärme erzeugt.

Während früher vor allem Ladezeiten und Reichweiten das Gegenargument gegen E-Mobilität waren, werden heute die ganz großen Argument-Kanonen ausgepackt. Elektroautos sind ein viel größeres Umweltproblem als harmlose Verbrenner! Sie fahren mit Kohlestrom! Bolivianische Bauern werden durch Lithium-Abbau ausgebeutet! Kinder im Kongo müssen für Kobald schuften!

Meistens stammen diese Argumente von Leuten, die sich sonst eher wenig um bolivianische Bauern oder Kinder im Kongo Sorgen machen. Es ist erstaunlich, wie sehr Debatten über eine ökologischere Technik immer statisch argumentieren – aus den Normen der Vergangenheit heraus. Im Vergleich zum Verbrennermotor kommen Elektromotoren auf einen Effizienzvorteil von 1:4. Batterien und Motoren entwickeln sich derzeit schnell weiter, bald brauchen sie kaum noch Edelmetalle und weniger seltene Erden. Die Batteriesysteme stehen erst am Anfang einer rasanten Innovationswelle – wie es ja bei anderen Technologien, beispielsweise dem Verbrennungsauto, auch der Fall war. Man kann Lithium durchaus aus den Batterien recyceln.
Man kann auch umweltschonend Lithium abbauen.
Selbst wenn wir den Strom noch eine Weile teilweise aus fossilen Energien produzieren, haben Elektroautos enorme Effizienzvorteile.

Aber geht es hier überhaupt um Wahrheit oder Fakten? Elektroautos sind auch ein typisches Beispiel für den confirmation-bias-Effekt – jene Wahrnehmungs-Verzerrung, bei der man immer nur Bestätigungen dafür sucht, was man unbedingt glauben will. Autojournalisten, die über die Unmöglichkeit von E-Mobilität schreiben, gibt es wie Sand am Meer. Irgendwie erinnert das an die Impf-Gegner und ihren Hang, sich ein einmal zurechtgelegtes Dogma durch „Informationen aus dem Internet“ bestätigen zu lassen.

Natürlich ist das Elektro-Auto keine Totallösung für die Frage der Mobilität und des Energieverbrauchs oder der ganzen Erderwärmung. Die kann es auch gar nicht geben. Aber in der langen Entwicklung von Technologien hat sich immer herausgestellt, dass neue Technologien sich bei Massen-Gebrauch schnell verbessern und adaptive Technologien IMMER Übergangs-Technologien sind.

Vertreter des Verbrennungsmotors neigen dazu, den Wasserstoff gegen den Elektromotor auszuspielen. Das ist natürlich ein Trick. Wasserstoff wird sehr wahrscheinlich der Energieträger der Zukunft – irgendwann. Reine Wasserstoff-Technologien werden aber noch einige Technologiesprünge benötigen, um massen-verfügbar zu sein. Bis dahin brauchen wir E-Mobilität als Brückentechnik, die beim „Brauchen“ immer besser wird.

Dass es schwer ist, von Öl und Kohle wegzukommen, steht außer Frage. Aber das ist in Wahrheit keine technische Frage. Es ist deshalb so besonders schwierig, weil fossile Brennstoffe eben nicht nur Rohstoffe sind. Sie repräsentieren Denk- und Fühlweisen, Alltagsrituale, Kulturtechniken – innere Codes, Erfahrungs-Konstruktionen, die unseren Alltag, unsere sozialen Verhaltensweisen tief strukturiert haben. »Fossile« Autos sind Macht- und Status-Symbole. Kompensations- und Fluchtmaschinen. Gefahr-Generatoren (man denke an die jungen Raser, die während dem Lesen dieser Sätze ihr Leben und das von Passanten riskieren).

Einige dieser Eigenschaften werden auch Elektroautos übernehmen. Aber seit ich Elektroauto fahre, »heize« ich nicht mehr raumfressend durch die Gegend. Tausend Kilometer ohne einen einzigen Stopp durchzubrettern finde ich heute abartig – früher als Dieselfahrer fand ich es toll, männlich und autonom. E-Fahren entschleunigt. Nicht so sehr, weil man nicht mehr schnell fahren KANN. Sondern weil ein E-Auto eine genuin andere Energieform nutzt und verkörpert. Das Surren der Elektronen erzeugt ein komplett differentes Bewegungsgefühl. Eine Pause ist eine Erholung, das Laden ein Ritual (ein anderes als das Tanken). E-Fahren ist eher ein Gleiten, und man nimmt die Umwelt, die Welt hinter der Windschutzscheibe, anders wahr.
Ich vermute, es ist genau das, was der »fossile« Autofahrer um jeden Preis vermeiden will.

Aus der Sicht von 10, 20 Jahren in der Zukunft werden wir uns gar nicht mehr vorstellen können, dass man »damals« Spaß daran empfinden konnte, mit einer röhrenden Maschine auf der Autobahn »zu brettern«, die hintenrum Klimagase ausstieß. So wie wir uns kaum noch daran erinnern können, wie es war, als man in Restaurants beim Essen rauchte. Erinnern Sie sich noch? An den Qualm in den hinteren Reihen im Flugzeug, anno 1999?

Die Knappheits-Illusion

Sind die Ressourcen der Erde wirklich »knapp«?
Dieses Ur-Narrativ ist hunderttausend Jahre alt, und in jeder Fernsehsendung, Kirchenpredigt und Moraldebatte wird es uns immerzu um die Ohren gehauen.
Auf der Welt ist nicht genug für unsere Bedürfnisse.
Wir DÜRFEN nicht so viel fliegen und Autofahren.
Wir MÜSSEN Ressourcen sparen.
Ein Einfamilienhaus ist problematisch.
Mach das Licht aus!
Stell das Wasser ab!
Wir sind zu viele!
Es reicht nicht für alle!

Die ökologische Knappheitsformel ist das Sündengespräch unserer Gegenwart. Aber ist »die Welt« wirklich KNAPP – im Sinne eines „nicht genug für alle“?
Alles Leben basiert auf Energie und Molekülen. Energie ist auf unserer Welt überhaupt nicht knapp, weil wir in der Nähe eines riesigen und für die nächsten 5 Milliarden Jahre verlässlichen Fusionsreaktors leben. Die Sonne bringt täglich 100.000 mal mehr Energie auf die Erde als wir jemals nutzen können (Elektromobilität und demnächst nötige Kühlanlagen schon einbezogen).

© Zukunftsinstitut Horx GmbH


Auch Moleküle sind nicht wirklich knapp. Von den 94 natürlichen Elementen der Erdkruste sind nur etwa 15 richtig selten, die anderen kommen in erheblicher Menge vor (Was nicht heißt, dass man sie alle »abbauen« soll).
Energie lässt sich in immer mehr Formen konvertieren, speichern, »gewinnen«, transformieren. Es gibt heute Solarkraftwerke, die rund um die Uhr laufen, weil sie die Tageshitze in Salz speichern. Es gibt die ersten Gezeitenkraftwerke, Solarfenster, die als Glasscheiben Energie gewinnen, und das alles ist erst im Anfang. Es gibt chemische und mechanische Speicher, und vieles Weitere ist in einer heißen Phase der Entwicklung. Dazu kommt die Sektor-Koppelung („Integrated Energy System“), bei der man zum Beispiel die Abwärme, die in digitalen Rechenzentren entsteht, zum Heizen für Wohngebäude nutzt.

Ebenso schnell geht die Entwicklung der Molekulartechnik vonstatten. Vor 30 Jahren musste Insulin noch aus den Embryonen von Schweinen und Rindern hergestellt werden – heute ist das ein synthetischer, skalierbarer Prozess. Die »Blaue Alchemie« macht es möglich, aus vielen verschiedenen Molekülen und Atomen eine Art Baukasten zu gestalten, in dem man so gut wie jedes Molekül produzieren kann.


Hier einige Beispiele:

  • Es gibt heute schon Wodka aus CO2 und erneuerbarer Energie
  • Nahrungs-Proteine lassen sich aus Sonne und CO2 herstellen

Man kann immer mehr seltene Moleküle nachbauen. Ersetzen. Oder eben recyceln – wenn sie wirklich kostbar sind, lohnt sich das in jedem Fall.
Natürlich gibt es lokale oder andere Knappheiten. Aber es sind keine ABSOLUTEN Knappheiten. Sondern Allokations-Probleme, die sich lösen lassen.

Intelligente Verschwendung

Machen wir also ein Gedankenexperiment.
Stellen wir uns vor, wir lebten auf einem üppigen, reichen, unerschöpflichen Planeten. Es wäre genug für alle da – Energie, Materie Essen, Schönheit …
Milch und Honig genug für alle.
Die Ressourcen der Erde reichten auch für eine noch zahlreichere Menschheit (wir werden die Zahl von 10 Milliarden Weltbewohnern kaum überschreiten, ab ca. 2060 schrumpft die Erdbevölkerung wieder). Schon heute erzeugt der Planet mehr Kalorien, als wir als Menschheit verbrauchen. Der verbleibende Hunger stammt aus Zugangs- und Verteilungsproblemen, meistens durch Krieg oder Bürgerkrieg.

Unvorstellbar, oder?
Wirklich?
Versuchen Sie es einmal.
Merken Sie, dass etwas in Ihnen passiert, was verblüffend ist?
Sie sehen plötzlich die Welt mit anderen Augen.
Mit den Augen der Lösungen.
Sozusagen von vorne, aus der Zukunft.

Ich könnte mir vorstellen – ich bin sogar ziemlich sicher -, dass wir, wenn wir die FÜLLE verstehen, uns auch viel leichter tun, Verzicht zu üben.
Verzicht wird immer dann zum Verlust, wenn wir uns in die Enge getrieben oder ent-mächtigt fühlen. Dann kämpfen wir mit aller Macht um unseren Teil am knappen Kuchen. Aber Verzicht in Bezug auf das große ZUVIEL, das uns der fossile Industrialismus hinterlassen hat, kann befreiend sein. Es wäre ein Loslassen zum BESSEREN.
Zu viel Kalorien. Zu viel Geschwindigkeit. Zu viel Reize.
Zu wenig wahrer Genuss.
Verabschieden wir uns davon!

Es gibt ZWEI große Narrative des Ökologischen. Die erste Narration ist die GRÜNE Vision des Mangels. Sie handelt von Untergang und Gefahr. Von Umkehr, Läuterung, Rettung. Von Helden und Bösewichten.
Die andere Erzählung ist die BLAUE Vision der kommenden Fülle. Sie handelt von Erweiterung und Vielfalt. Von mehr Lebensqualität. Von intelligenten Produktions-Systemen. Von besserer Energie. Von der Erweiterung unseres Lebens durch eine andere Wahrnehmung unserer Verbindungen.
Wer beide „Storys“ zu einem Narrativ verbinden kann, der hält den Schlüssel zur kommenden Transformation in den Händen.

„Eine Menge Leute glauben, es muss wehtun, etwas besser zu machen. Wir dagegen fragen, wie Nachhaltigkeit eine bessere Lebensqualität erzeugen kann.”
„There are a lot of people who think, that it has to hurt to make things better. We ask how Sustainability can create a better quality of life.”
Bjarke Ingels, Avantgarde-Architekt

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Vom Anthropozän zum Humanozän

Wenn der Begriff ANTHROPOZÄN – erfunden vom Metereologen Paul J. Crutzen – auf einem Podium fällt, geht immer ein düster-schuldverliebtes Raunen durch den Raum. Verbunden mit einem tiefen Gefühl von Versagen und Verzweiflung.
Wir haben es verbockt.
Wir sind die Schmarotzer, die Parasiten an Mutter Erde. Wir haben den Planeten erobert. Wir haben ihn ausgeplündert und »terraformt«. Wir haben unsere FUSSABDRÜCKE bis in den entlegensten Winkel gesetzt – und dabei alles verdorben.
Das Urteil ist gefällt.
Und hinten aus den letzten Reihen erhebt sich der apokalyptische Schlechterwisser und sagt:
Menschen ändern sich eben nicht.
Sie sind als Egoisten nur auf ihre eigene Vorteile bedacht …
Deshalb werden wir unsere Zivilisation und unseren ganzen Planeten zerstören.
Machen wir doch lieber selbst gleich Schluss!
Die Natur braucht uns nicht…

„Die Ökologie ist eben nicht die Kritik des Menschen an sich selbst, wie er als Räuber und Schmarotzer zur Gefahr für die Natur wird, nein, die Ökologie ist ein neuer Humanismus.“
Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris

Wir alle kennen diese Erzählung. Sie wird uns rund um die Uhr in unserem gigantischen medialen Echosystem eingetrichtert. Können wir eine neue große Erzählung generieren? Die uns von den Selbstabwertungen und Selbstverleugnungen befreit, mit dem heute viele Menschen die Zukunft verlorengeben?

Wie wäre es mit dem Humanozän?
Die Story geht so:
Jahrmillionen lang lebte der Mensch in tiefer Abhängigkeit von der Natur. Unsere Vorfahren waren auf eine gnadenlose, brutale Weise ihrer Umwelt ausgeliefert, auch wenn sie in einem heiligen Verhältnis zur Natur lebten.
Daraus haben sie sich durch die Kraft der Wissenschaft und der Maschinen, die Beherrschung von Techniken, langsam befreit.
Das fossile Zeitalter hat ungeheure Fortschritte gebracht. Es hat großen Teilen der Menschheit eine Teil-Autonomie von der Natur gegeben, die für sich genommen ein ungeheurer Fortschritt war. Es hat Souveränitäten über Raum und Zeit ermöglicht, die vorher nicht möglich schienen. Das macht den Glanz, die Faszination, auch die Würde des Zeitalters des Öls und der Maschinen aus.
Wir sollten das respektieren. Wir sollten uns nicht schämen. Aber dann sollten wir verstehen, dass das ein schwieriges Geschenk war, das uns der Planet mit auf die Reise gegeben hat. Eine Story von Verbrennung, Extraktion und immerwährender Beschleunigung.
Wir sollten aus dieser Welt aufbrechen, statt uns zu Tode zu fürchten. In ein Zeitalter, in dem wir die Wunden schließen, die Exzesse beenden, die fossilen Dummheiten und Grausamkeiten überwinden. Dafür brauchen wir eine neue biomische Technik, einen kybernetischen Naturbegriff, einen spirituellen Materialismus. Eine neue Verbindung zwischen Technologie, Natur und Mensch.
Das ist die blaue Vision.

„Vielleicht benötigt die Energiewende, deren faktische Grundlage ausreichend belegt ist, nicht noch mehr Fakten. Sondern mehr Augenschein.
Vielleicht ist der Schub, der ihr fehlt, weniger aus der Kraft der Argumente und mehr aus der Kraft der Suggestion zu beziehen.
Vielleicht braucht der Klimawandel, der in immer kürzeren Abständen apokalyptische Bilder des Schreckens produziert, auch Zeichen der Hoffnung und Architekturen des Versprechens.“
Gerhard Matzig, Süddeutsche Zeitung

Wissenschaftler wie Erle C. Ellis sind die Humboldts und Petrarcas unserer Zeit. Ellis spricht nicht mehr vom „Biom”, sondern vom „Anthrom”, dem um Tiere, Pflanzen und andere Organismen erweiterten Menschenraum. Gestaltete Natur, natürliche Gestalt. „Die Zukunft der Erde wird nicht mehr von angeblichen Grenzen der Natur abhängen, sondern von dem, was Menschen ersinnen und gemeinsam leisten können“, sagt Ellis.
All das ist längst am Horizont sichtbar. Wir können es sehen: Ergrünte Städte und intelligente molekulare Systeme. Fließende Übergänge zwischen Natur und Technologie, Nurture:Tech. Große Erzählungen, die in die Zukunft führen, Ideen, in denen wir uns von unserer Schuldhaftigkeit und Verwerfung befreien können, machen immer eine Gänsehaut. Und jetzt schauen Sie sich bitte diesen Kurzfilm der holländischen Gruppe Next Nature Network an: „Wir sind gerade erst angekommen”.


Und dann sehen wir weiter …