80 – Die elastische Demokratie

Über die Evolution des Politischen

Für viele Pessimisten ist die Zukunft der Demokratie bereits Vergangenheit. Autokratische Regimes und populistische Bewegungen überrennen früher oder später die klassischen Verfassungs-Demokratien. Die „illiberale Demokratie“ ist nicht aufzuhalten, so scheint es.
Taliban, Trumps und Putins aller Länder vereinen sich – und gewinnen das Spiel um die Zukunft der Demokratie: indem sie sie abschaffen.

Aber vielleicht ist auch alles ganz anders. Die Idee der Demokratie ist uralt. In ihrem Kern beruht sie auf dem Drang zu besserer menschlicher Kooperation durch die Moderation von Macht. Eine solche Idee kann herausgefordert werden. Kann in Krisen geraten. Aber »sterben« kann sie nicht.
Allerdings braucht Demokratie, wie alles Lebendige, immer wieder systemische Erneuerung. Ein re-thinking und re-doing.

Die Politik von heute ist in vielem immer noch in den politischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts gefangen. Ihre Grundzüge entstammen der Ära der Klassenkriege, in denen die Denkmuster von „Links“ und „Rechts“ entstanden (ursprünglich kommt diese Achse analog der Sitzordnung der französischen Nationalversammlung nach der französischen Revolution). Aber in einer Welt der Konnektivität, der Individualisierung und der ganz neuen globalen Herausforderungen macht diese »Schlachtordnung« keinen wirklichen Sinn mehr.

Der Konfusionismus

Philippe Corcuff, ein Politikwissenschaftler aus Lyon, hat in der französischen Politikdebatte einen neuen Schlüsselbegriff geprägt: KONFUSIONISMUS.
(Phillippe Corcuff, „La grande confusion: Comment l’extrême-droite gagne la bataille des idées“, textuel 2021)

Damit ist eine völlige Verwirrung der politischen Lagerformen auf der Links-Rechts-Achse gemeint. Das Resultat ist ein bizarrer Brei, ein genereller politischer Orientierungsverlust.
Wahlprognosen werden immer wertloser.
Parteiprogramme immer beliebiger.
Wahlverhalten immer flüchtiger.
Lagerdenken immer aggressiver – und gleichzeitig bedeutungsloser.

Das Progressive und das Reaktionäre gehen immer mehr ineinander über. Alles vertauscht sich: Die neuen WOKE-Bewegungen setzen auf eine Ästhetik des Verbots. Die Konservativen entdecken die Nachhaltigkeit. Das Autoritäre erscheint plötzlich rebellisch. Das Reaktionäre kritisch. Die Linken greifen zunehmend zu Exklusions-Ideen. Die Rechtsradikalen brüllen Freiheitsparolen.

So führt die sozialdemokratische dänische Regierung »Getto-Quoten« ein, will die Anzahl der Ausländer in Stadtteilen begrenzen und die Zahl von Asylbewerbern auf Null reduzieren. Begründet wird das mit dem Erhalt des Sozialstaates. Rechte entdecken nach dem neoliberalen Furor die umfassende Staats-Fürsorge neu – eigentlich ein »linkes« Thema (Nationaler Fürsorgestaat à la Polen/Ungarn; auch Boris Johnson ist inzwischen ein Staats-Interventionist). Oder reklamieren die Ökologie als neues nationales Thema (Marine Le Pen: „Ökologie ist ein Ur-Thema der Rechten!“).
www.spiegel.de

Der neue peruanische Präsident Pedro Castillo vertritt ein eher konservatives Programm, stammt aber aus einer linken Basis-Bewegung. Die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht zieht mit ihrem Brandbuch „Die Selbstgerechten“ gegen die „verlogenen urbanen Mittelschichten“ zu Felde – und betreibt kulturelle Spaltung in ihrem eigenen politischen Lager.

Die Liberalen flirten derweil mit dem »Empörismus« der Populisten, wo immer es sich anbietet. Aber was ist in einer hyperliberalen Gesellschaft noch »liberal«? Und was hält die Gesellschaft noch im Inneren zusammen?
All diese Verwirrung ist kein Zufall. Sie weist auf einen Zeitenwechsel hin. Der allerdings erfordert ein neues Denken, im Politischen, aber nicht nur da.

Die Infantilisierung der Politik

Es ist vor allem das mediale System, die »informelle Sphäre«, die die Verkindlichung des Politischen vorantreibt. Im medialen Populismus wird Politik zu einer Art Erregungs-Entertainment. Im Tonfall der ständigen Beleidigung, des Opfertums und der Empörung werden unentwegt Ansprüche eingefordert. Es entsteht eine Rhetorik des »Haben-Wollens«. Politik als Konsum. Als Quengel-Politik. Als Reklamations-Veranstaltung: „Das haben wir nicht bestellt, wir wollen unser Geld zurück!“ Der Staat, oder »der Politiker«, wird für alle Übel und Unzulänglichkeiten verantwortlich gemacht, aber gleichzeitig als großer Erlöser angehimmelt und angehofft.

Es sind fünf große „Creeping“-Prozesse, in denen sich das Politische gleichsam selbst zerlegt:

  • Lobbysierung:
    Die immer professionellere Weise, mit der partiale Interessengruppen um Macht und Einfluss kämpfen.
  • Personalisierung:
    In der hypermedialen Kultur geht es irgendwann nur noch um Charaktereigenschaften und private Vorlieben von Politikern; ein Star-Kult-Anspruch, der Politiker komplett zu Soap-Opera-Stars macht und den sie nur um den Preis der Selbstaufgabe erfüllen können.
  • Hysterisierung:
    In der Aufmerksamkeits-Ökonomie geht es vor allem um die Verstärkung und Nutzung von EMOTIONEN. Ängste sind die stärksten Wirkungsträger. Aus Ängsten entstehen Kollektiv-Wahrnehmungen, die sich zu regelrechten Angst-Epidemien verdichten (lassen).
  • Skandalisierung:
    Das mediale System ist gierig nach Erregungen, es schürt und produziert (Schein-)Konflikte, treibt Spaltungen voran, um dann scheinheilig in deren Beklagung die Kern-Ressource unserer Zeit abzuschöpfen: Aufmerksamkeit.
  • Polarisierung:
    Besonders in Wahlkampf-Zeiten regiert das Gesetz des GEGENRUHMS: Man kämpft in der Politik immer weniger FÜR etwas. Sondern vor Allem gegen den als dämonisch dargestellten Gegner. Der Kampf verläuft nach dem Prinzip der „Dementoren“ von Harry Potter. Jener unheimlichen Wesen, die ihre Macht daraus beziehen, die Energie aller anderen abzusaugen. Und in dunkle (Macht-)Energie zu verwandeln.

Der mediale Overdrive wird früher oder später dazu führen, dass sich nur noch Roboter oder schwer Gestörte als Spitzenpolitiker bewerben.

Die nächste Integration

Bruno Latour hat in seinem Essay „Ein vorsichtiger Prometheus“ darauf hingewiesen, dass durch die ständige Beschleunigung unserer Kultur am Ende nur zwei große Zukunfts-Narrative übrig bleiben.
Bruno Latour: „Ein vorsichtiger Prometheus“

Sozusagen Meta-Ideologien jenseits von Lechts und Rinks.
Die eine Groß-Erzählung handelt von rasendem Fortschritt. Von permanenter Veränderung, Modernisierung, Beschleunigung. Es geht um ÜBERWINDUNG – von Fesseln und Traditionen und von Vergangenheit. Und um Leistung, »Performance«, Effizienz … um das, was auf jedem Management-Seminar gefordert, gepredigt und »empowert« wird.

Das ist der Sound der PROGRESSION.
Die komplementäre Erzählung handelt von Bindung und Sicherheit. Von Tradition und Verpflichtung. Von Abhängigkeit, Fürsorge und Solidarität. Von der Nation als Kulturraum, in dem man sich dauerhaft und verlässlich zurechtfindet. Von Vergangenheit als nutzbarer Maßstab. Von Homogenität und Wahrung der Formen.

Es geht hier um das TRADITIONALE.
So lange diese beiden Super-Meme gegeneinanderstehen, tritt die gesellschaftliche Entwicklung auf der Stelle. Spaltung ist unvermeidlich. Zwei »metakulturelle« Lager entstehen, die allerdings weder stabil noch kontinuierlich sind. In Richtung Zukunft auflösen lässt sich dieser Antagonismus nur durch eine neue Narration. Wenn eine neue (Zukunfts)-Erzählung entsteht, die das Traditionale UND das Progressive, das Verbindliche und das Auflösende, das Stabilisierende UND das Verändernde auf einer neuen Ebene integriert.

„Manche Probleme sind so komplex, dass man hochintelligent und gut informiert sein muss, um bei ihnen unentschieden zu sein.“
Laurence J. Peter, der Erfinder des Peter-Prinzips

Politik als Regnose

Wie gelingt in einer Gesellschaft so etwas wie echter Wandel? Ein Beispiel dafür stammt aus Irland. Irland hat bis in die Nuller Jahre hinein ein sehr traditionelles, agrarisches Politik- und Gesellschaftsmodell bewahrt. Politik war eher nationalistisch, kirchlich geprägt, Minderheiten waren kaum repräsentiert. Innerhalb von wenigen Jahren machte das Land einen erstaunlichen Sprung in eine tolerante, offene Demokratiekultur. Für viele Jahre hatte Irland dann einen sehr beliebten, offen homosexuellen Ministerpräsidenten mit Migrationshintergrund, Leo Varadkar. Ein Aufbruch entstand, den sich vorher niemand vorstellen konnte.

Bei diesem erstaunlichen Wandel spielten Volksabstimmungen, Town Hall Meetings und Bürgerversammlungen eine wichtige Rolle; also Instrumente, die über die klassische Repräsentations-Politik hinausgehen. Ähnliches geschah in Belgien, wo ein Zukunfts-Bürgerrat über die Zukunft des Landes beriet. Oder in Frankreich, wo Macron nach der Gelbwestenbewegung großflächig assemblées ins Leben rief.
In solchen kollektiven Diskussionsprozessen geht es weniger um »Forderungen« oder »Programme«, auch nicht so sehr um »Ergebnisse«. Sondern um eine symbolische Kommunikation, in der ein magischer MINDSHIFT entstehen kann. Der irische Schriftsteller und Journalist Colm Tóibín beschrieb diesen Prozess so:

„Als ich als Schwuler in Irland aufwuchs, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich die Haltung des Landes zu Homosexualität jemals ändern würde. Das Land war katholisch und konservativ. Bei jeder Wahl hatten die Menschen gezeigt, dass sie kein Interesse an Veränderungen hatten. Oft stimmten die Menschen so, wie es ihre Eltern taten. Um die gleichgeschlechtliche Ehe in Irland einzuführen, musste die Verfassung geändert werden, und das bedeutete ein Referendum im Jahr 2015 … Ich war nicht der Einzige, der glaubte, dass eine Mehrheit mit Nein stimmen würde, wenn es nur zwei Antworten auf die Frage ‚Soll in Irland die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt werden?‘ geben würde.

Aber die Befürworter der ‚Homo-Ehe‘ haben diesen Familienbegriff umgedreht und die Familien von Homosexuellen aufgefordert, nicht über Rechte, sondern über LIEBE zu sprechen. Homosexuelle wurden aufgefordert, nicht wütend zu werden, sich nicht in Streitereien zu verwickeln oder Forderungen zu stellen, sondern sich einfach zurückzuhalten und ihre Mütter oder Väter oder Geschwister reden zu lassen und der Nation zu sagen, wie sehr sie ihren homosexuellen Sohn oder Bruder oder ihre Schwester lieben und wie sehr sie wollen, dass sie glücklich sind.“
www.sueddeutsche.de

Das irische Referendum zur Abtreibungs-Liberalisierung und zu den Minderheitenrechten wurde schließlich mit 62 Prozent gewonnen. Das, was den Iren am Wichtigsten ist – Familie, Treue, Hoffnung – ,wurde zu einer Neu-Codierung der Zukunft. Das Traditionale beschrieb plötzlich das Morgen. Es entstand eine Re-gnose, eine transzendente Öffnung im politischen Prozess, der den gesellschaftlichen Wandel ermöglichte, indem er ihn nicht als Problem, sondern als Lösung darstellte.
Übrigens ist das das genaue Gegenteil von »Identitätspolitik«. Diese ist vielmehr eine Variante des Populismus, die auf gesellschaftliche Vermittlung, also auf Politik überhaupt, zugunsten des eingeklagten Selbstgefühls verzichten will.

Die elastische Demokratie

Der Populismus lebt vor allem über seinen unverschämten Kommunikations-Stil. Seine Faszination besteht in der aggressiven Kraft seines Angebots an die Verunsicherten: Wenn Du uns zur Macht verhilfst, dann BIST DU WIEDER WER! Du bist Teil eines mächtigen Kollektivs, einer (imaginären) Mehrheit, in der es keine Ambivalenzen mehr gibt, nur Eindeutigkeiten und Bestimmungen.

Um diesen toxischen Code zu brechen, muss die Politik der Zukunft „die Macht des Binären“ (© Journalistin, Autorin und Konfliktforscherin Amanda Ripley) brechen. Den Zwang, alles in Entweder-Oder-Formeln zu pressen, in unauflösbare Widersprüche. Auf diesem Versuch basiert NIP – die Neue Integrations-Politik. Sie beginnt mit dem Versuch, sich von den alten Hauptwidersprüchen der Links-Rechts-Politik zu verabschieden.

Traditional versus Progressiv
Staatsskeptisch versus Staatsgläubig
Elitär versus Massenorientiert
Ökonomie gegen Ökologie

In der Neo-Politik geht es um eine Komplexität höherer Ordnung, die sich in folgenden Widerspruchs-Paaren ausdrückt:

Verantwortung versus Ignoranz
Synthese versus Spaltung
Integrativ versus Polarisierend
Respekt gegen Bösartigkeit

In seinem Buch „Von nun an anders“ hat Robert Habeck von den deutschen Grünen diesen semantic shift in Richtung einer „elastischen“ Politik beschrieben. Der heutige Erfolg der Grünen hat damit zu tun. Dazu gehört die schwierige Übung, sich von den eigenen Deutungsmustern und Milieubindungen befreien zu können.

Mit »Neo- Politik« verbunden ist auch eine Neubewertung der Funktion von Opposition. In der polarisierten Denkweise ist die Opposition die Partei des unbedingten Dagegenseins, die alles, was die Regierung beschließt, in Bausch und Bogen verdammen muss. Es herrscht Krieg, bedingungsloser Kampf. Und dieser Krieg muss mit allen Mitteln geführt werden. Notfalls mit Lüge, Betrug und Denunziation. Auf jeden Fall Polarisierung. Damit fallen wir zurück in die alten Machtkämpfe und Putsch-Logiken der Vergangenheit.

Im Demokratiemodell der Schweiz sind alle Parteien gezwungen, in der Regierung zusammenzuwirken. Alle sind »regierende Opposition«. In Europa regieren in immer mehr Ländern flexible Multi-Koalitionen. Oder Minderheitsregierungen mit erstaunlichem Erfolg. In Krisen-Situationen können sich auch »Expertokratien« als hilfreich erweisen, siehe Italien oder Israel (demnächst vielleicht auch Libyen und Libanon). Im Kampf gegen regierende Autokraten erweist sich das Mittel der dynamischen Bewegungs-Koalition als sinnvoll – siehe Ungarn und Polen, wo sich heute die Opposition auf neue Weise formiert. In gewisser Weise bestätigt auch die USA diesen Trend. Man kann den Populismus nicht mit konfrontativen Mitteln stoppen. Aber durch eine „Allianz der Konstruktiven“ ausbremsen.

Die neue Matrix des Fortschritts

Ohne Fortschritts- und Wohlstands-Versprechen können Demokratien keine integrierende Dynamik entfalten. Lange dienten als Indikatoren ausschließlich Kennziffern aus dem Aktenschrank der traditionellen Nationalökonomie. Das Bruttosozialprodukt. Die Exportrate. Die Zinsen. Die »Verschuldung«, was immer nach Schuld klingt statt nach Investition. Die ideologischen Kriege auf der Rechts-Links-Skala waren nicht zuletzt das Resultat dieser Verkürzungen des Gesellschaftlichen auf den Ökonomismus der Industriegesellschaft.

Die Politikwissenschaftler Dennis Snower und Katharina Lima de Miranda (Mitglieder der „Global Solutions Initiative“) haben dagegen einen neuen Index zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft entwickelt.
www.zeit.de

Im „Recoupling Dashbord 2021“ wird das Integrative Potential von Ländern oder Gemeinwesen gemessen.
www.global-solutions-initiative.org

Das System berücksichtigt zwar immer noch das BSP-Wachstum, setzt diesen Wert aber in Kontexte, die den Megatrends der Individualisierung und der Wissensökonomie entsprechen:

  • Die Kompetenzen der Individuen.
  • Die Kreativität und Flexibilität der Wirtschaft.
  • Die tolerante Solidarität (quer zu ALLEN gesellschaftlichen Gruppen).
  • Die Ökologie als neuer Integrator

Mehrere Modelle aus der Glücks- und Demokratieforschung versuchen Ähnliches, sich vom »fossilen« Wohlstands-Index zu verabschieden. Man denke an das Glücks-Brutto-Sozial-Produkt von Bhutan. Die „Value Balancing Alliance“, eine Vereinigung für die Ausbalancierung unternehmerischer Werte-Systeme. Oder die zahllosen Versuche von Lebensqualitäts-Maßstäben. Damit löst sich die politische Zukunfts-Debatte allmählich vom linearen Wohlstandsmodell, in dem es immer nur um ein MEHR, aber kaum um ein BESSER geht.

Als zentraler Schlüssel für eine Integration der beiden Latour’schen Groß-Erzählungen erweist sich die Ökologie. Ökologie ist eine Zukunftskraft. Sie ist weder rechts noch links. Sie ist im genuinen Sinne »progressiv« UND bewahrend. Ökologie lehrt uns, wenn wir sie richtig verstehen, auf systemische, selbstorganisatorische und emergente Prozesse zu achten. Sie erzeugt einen mindset der dynamischen Kontinuität. Dadurch wird ein Ausweg aus der erstarrten Lager-Demokratie sichtbar. Ein Weg ins Offene.
Genau das ist der Grund, warum die Ökologie – als Paradigma der Zukunft – heute so hartnäckig bekämpft und verachtet wird.

Politik der nächsten Ebene

In vielen, vor allem kleinen demokratischen Ländern haben sich während der Pandemie Formen oder Ansätze, von Neo-Politik entwickelt. Manche haben Bewegungs-Charakter, wie die Partei VOLT, die sich dem europäischen Modernisierungs-Gedanken widmet. Manche kann man als »positiv populistisch« beschreiben, weil in ihrem Zentrum keine Partei, sondern eine integrierende charismatische Persönlichkeit steht (Neuseelands Jacinda Ardern oder Armeniens Nikol Paschinjan). Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob diese Ansätze von »rechts« oder von «links« kommen. Manchmal entstammen sie der grünen Ecke. Aber auch dem liberalkonservativen Mitte-Lager (Macron, Trudeau). Sogar aus dem digitalen Milieu (Piraten). Und – kaum zu glauben – sogar aus der »kommunistischen« Ecke. Wie in der urbürgerlichen österreichischen Stadt Graz, wo die KPÖ-Vorsitzende Elke Kahr bei den letzten Kommunalwahlen 2021 die Mehrheit gewann.

Es ist kein Zufall, dass sich die Neue Integrale Politik (NIP) zunächst in Städten (oder eindeutig definierten Regionen) etabliert. Designed democracy – aus der gelebten Kommunikation der Bürger gespeiste Veränderung – lässt sich am leichtesten im LOKALEN gestalten. Dynamische Orts-Politik ist immer anti-ideologisch. Und »GLOKAL« – sie bezieht ihre Energie aus dem „genius loci“, aber immer auch aus dem universalen Horizont.

  • Der Rostocker Bürgermeister Claus Ruhe Madsen stammt aus Dänemark und schaffte es, in der Hansestadt Corona mit intensiver Bürgerbeteiligung zurückzudrängen und dabei ein neues städtisches Selbstbewusstsein zu erzeugen.
  • In Kroatiens Hauptstadt Zagreb wurde nach langer politischer Polarisierung des Landes Tomislav Tomašević zum Bürgermeister gewählt, ein „Integralist“ und Ökologe. Seine Bewegungs-Partei, die zunehmend auch landesweit agiert, heißt vielversprechend „Wir können!“.
  • In Prag errang Zdeněk Hřib 2018 das Bürgermeisteramt – er gehört der Piratenpartei an und ist enorm beliebt.
  • In Polen, das fest in der Hand rechter Populisten scheint, regieren in den Großstädten mehr und mehr neo-politische Integralisten. In Warschau z.B. Rafal Trzaskowski, der 2022 wahrscheinlich als nationaler Präsidentschafts-Kandidat antritt.
  • In Bogota/Kolumbien, einer „harten“ Metropole Südamerikas, regiert seit 2020 Claudia Nayibe López Hernández von der Partei Alianza Verde („Grüne Allianz“). Sie war als Beraterin für die Vereinten Nationen tätig und hat als Kolumnistin für verschiedene Medien gearbeitet.

Der deutsche Wahlkampf 2021 trägt bereits viele Anzeichen einer Transformation des Politischen. Zum ersten Mal, so sieht es zumindest aus, kann kein »Lager« die klare Mehrheit gewinnen. Die alten Polarisierungsmuster wirken nicht mehr wirklich, auch wenn sie im Wahlkampf immer wieder versucht werden. Immer deutlicher sind dynamische Mehrheiten jenseits von »Rechts« und »Links« nicht nur möglich, sondern notwendig. Drei Parteien, fast gleichauf, bewerben sich um die stärkste Fraktion. Und die gesellschaftlichen Widersprüche gehen mitten durch diese Parteien hindurch. Und werden dadurch sichtbar. Unübersehbar.

Man kann den Verlust der alten Gewissheiten und Frontlinien beklagen. Aber bevor das Neue erscheinen kann, muss sich das Alte verwirren. Die Demokratie ist womöglich elastischer als sie scheint.
Die Demokratie der Zukunft regeneriert sich aus dem Weiblichen, dem Ökologischen und dem ganzheitlichen Zukunfts-Denken. Helfen wir ihr auf die Sprünge, jeder auf seine Art und Weise.

Nachwort: Guru Trump

Diese Buddhafigur von Donald Trump lässt sich im Garten aufstellen – und kostet gar nicht so viel (150 Dollar/ 16 cm hoch, 610 Dollar/ 48 cm auf der chinesischen Plattform Taobao). Trump ein Buddha? Ein Guru gar?

In gewisser Weise war der Tobende aus dem Weißen Haus tatsächlich ein »Lehrender«, der zu unserer Weisheit beigetragen hat. Er hat gezeigt, was eine kaputte, narzisstische Persönlichkeitsstruktur an der Macht anrichten kann. Und wie das hypermediale System demokratische Diskurse ruinieren kann. Das wurde letztendlich sogar der Mehrheit der Amerikaner zu viel. Trump war der Populist, der die Grenzen des Populismus aufzeigte. Er hat Hass in die Welt gesetzt, Angst, Verunsicherung. Aber auch die Dinge geklärt, indem er sie zuspitzte. Wir sollten ihm dankbar sein.


Bücher zum Thema:

Bestellung beim Buchhändler Ihres Vertrauens:
In Österreich: www.buecher.at/hvb-buchhandlungen
In Deutschland: www.buchhandlung-finden.de

Hanno Burmester, Clemens Holtmann:
Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt
Warum wir Politik radikal neu denken müssen
Quadriga Verlag

Dr. Ha Vinh Tho:
Der Glücks-Standard
Wie wir Bhutans Bruttonationalglück praktisch umsetzen können
O.W.Barth

Nancy S. Love:
Musical Democracy

Amanda Ripley:
High Conflict
Why we get trapped and how we get out

Roger de Weck:
Die Kraft der Demokratie
Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre
Suhrkamp