84 – Das Rätsel der Regnose

Matthias Horx, © Klaus Vyhnalek

Gehören Sie auch zu denjenigen, die der Welt eine düstere Zukunft prognostizieren? Die das Gefühl haben, dass alles eigentlich längst zu spät ist? Dass es übel enden wird für die Menschheit?

Viele Menschen pflegen heute ein katastrophisches, oft auch menschenfeindlich-zynisches Weltbild. Sie verstricken sich in eine Hoffnungslosigkeit, die aus dem Lärm Tausender Medien­kanäle, die davon leben, Erregungen zu produzieren. Als Zukunfts­forschende haben wir festgestellt, dass es wenig nutzt, mit Zahlen, Daten und besseren Modellen dagegen zu argu­mentieren. Pro-gnosen, die eine differenzierte Zukunft voraus­sehen, werden selten wahrgenommen.

Das liegt an einem menschlichen Wahrnehmungsproblem, einem Bias: Der „Salienz-Verzerrung“ oder „Affekt-Affinität“. Salienz (von lat. salire:[hervor]springen, sprießen, hüpfen), beschreibt der Art und Weise, in der unser Bewusstsein mit Umweltsignalen umgeht. Gefahrenreize bewerten wir dabei immer höher als Kontexte, Befürchtung zählt immer mehr als begründete Hoffnung. Wir sehen selten das Gelingende. Das, was sich in der Welt verbessert. Wir verwechseln den Lärm mit der Realität. Angst wird zu unserer Wirklichkeitsbeschreibung. Auf diese Weise verirren wir uns in einem sehr dunklen Wald.

Wenn es zum Beispiel Korruptions- oder Missbrauchs-Skandale gibt, glauben wir, dass es immer mehr Korruption oder Missbrauch gibt – dabei machen Justiz und Zivilgesellschaft vielleicht gerade nur einen guten Job, sodass mehr Fälle sichtbar und aufgeklärt werden. Während uns vor den bösen Impfgegnerinnen und -gegnern graut, geht die überwiegende Mehrheit womöglich ganz vernünftig mit Corona um. Wenn alle sich hysterisch vor dem Klimawandel fürchten, wird verdeckt, dass gerade eine Menge passiert, was deutlich in Richtung einer postfossilen Wende weist.

Eine „Re-gnose” löst diese Zukunftsblindheit auf. Die Regnose ist ein Gedankenexperiment, in der wir uns in ein wahrscheinliches Morgen versetzen. Von dort aus schauen wir zurück und wundern uns: Wie sind wir eigentlich hierhergekommen? Wir sehen plötzlich die Linien, die Verbindungen, die von der Gegenwart in die Zukunft reichen. Wir erkennen, dass der Wald gar nicht so dunkel ist, wie er uns erschien. Wir denken von den Lösungen her, anstatt uns in die Probleme zu verbeißen.

In diesem Zukunftsreport 2022 präsentieren wir Ihnen eine Klimawandel-Regnose (Seite 130). Dieses Zukunftsmodell zeigt, dass die postfossile Transformation möglich und wahrscheinlich ist. Außerdem fragen wir: Kann die Demokratie sich weiterentwickeln, aus den heutigen Blockaden und populistischen Gefahren heraus? (Beiträge ab Seite 72). Es geht auch um die wahre Zukunft der Digitalisierung (Seiten 104 und 110). Und die ketzerische Behauptung, dass die Welt gar keine Rettung braucht, dass die Kontinuität des Wandels stärker ist als unsere vermeintliche allmächtige Destruktivität (Seite 140).

Eine Langzeitperspektive eröffnet auch die „Clock of the Long Now” (Seite 14). Diese mechanische Uhr im Format eines Zweifamilienhauses, die mindestens 10.000 Jahre ticken soll, wird derzeit von amerikanischen Zukunftsforschern in eine riesigen Gebirgshöhle in Texas eingebaut. Mit dieser „Uhr des langen Jetzt” kann man das »Ahnendenken« üben, das unser Leben verbindet mit jenen, die nach uns kommen. Wir lernen, die Langzeitlichkeit der menschlichen Kultur zu verstehen – und damit innere Beziehung zur Zukunft.

„Wie wird die Welt wieder frisch?“ fragte sich der polnische Philosoph Zygmunt Bauman zeit seines Lebens. Regnosen, gezielte Ausflüge in die Zukunft, haben eine eigentümliche Wirkung. Sie machen den Kopf wieder frei vom Terror der Unmöglichkeit. Sie erlösen uns von der Angsthysterie. Trauen wir uns einen mutigen Gedanken zu: »Der Mensch« ist zur Zukunft fähig. Wir können die Welt verwandeln, indem wir uns selbst, unsere Wahr-Nehmungen, verwandeln. In diesem Sinne wünscht Ihnen das Zukunftsinstitut ein erleuchtendes Jahr 2022.

Ihr

Matthias Horx