86 – Die Psychohistorik

oder: Beim Barte des Propheten

Zwei neue BIG-Science-Fiction-Produktionen stellen alte Zukunftsfragen neu. Unter anderem die Frage, wie das »Zukunftssehen« funktioniert.

„Wo andere ein Chaos sahen, sah ich ein Muster.”
(Hari Seldon)

„Meine Gleichgültigkeit erlaubt es mir, zu herrschen.”
(Bruder Mittag)

„Manchmal springst Du, und manchmal fängt Dich jemand auf.”
(Bruder Morgen)

Aus: FOUNDATION (TV-Serie)


Als alter Science-Fiction Fan bin ich meistens ziemlich enttäuscht, was neue Zukunfts-Filme betrifft. Zu lange gab es in diesem Genre nur Schrott im Kino. Entweder wurde bis zum letzten Laserschuss gegen glibberige Alien-Wesen oder mörderische Roboter gekämpft (Typ Superheld). Oder die Zukunft als einziger Trümmerhaufen dargestellt, in dem nur noch melancholische Einzelgänger durch die Ruinen schlichen (Typ Tom-Hanks-Traurigkeit).
Es gab in diesen Filmen überhaupt keine Zukunft. Sondern nur Effekte. Und Sentimentalität.

Richtig gute Science-Fiction kann hingegen zauberhafte Wirkungen entfalten. Seit Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ gab es nur wenige filmische Ereignisse, die das große STAUNEN auslösen konnten. Jenen kognitiven Zustand, in dem im Mind etwas wahrhaft Neues beginnt. Das ist nahe an Religion, und vielleicht IST es Religion.

Zu den erleuchteten Sci-Fis, die mir bis heute einfallen, gehörten einige Folgen von Star Trek („Der Erste Kontakt“ von 1996 – unvergessen der besoffene Hippie, der den Überlichtantrieb erfindet!), „Das Fünfte Element“ von Luc Besson (vor allem wegen Milla Jovovich in der weiblichen Hauptrolle) und vielleicht auch noch „Matrix“, ein Plot, bei dem man sich schon vor 20 Jahren ins METAVERSE verirren konnte. Lange bevor Mark Zuckerberg uns diese Idee endgültig verdarb.

Jetzt aber ist es für mich als Filmfreak und Zukunftsforscher wie Weihnachten und Geburtstag zugleich: Zwei epigonale Groß-Produktionen sind ins Kino beziehungsweise in den Stream gekommen, die an das Erbe des „kosmischen Epos“ anknüpfen.

Kennen Sie das Gefühl der »Raumschiff-Gänsehaut«?
Zum Beispiel imperiale Sprungschiffe. Ich habe schon viele Raumschiffe in allen möglichen Formen und Designs und auf fantastischen Planeten landen sehen – Landungen sind immer das Beste. Aber imperiale Sprungschiffe sind der Gipfel. Sie haben in ihrer Mitte einen Null-Raum-Akkumulator, in dem sie ein Schwarzes Loch erzeugen. Auf diese Weise verschlingt sich das Schiff auf dem Weg durch den Quantenraum selbst, um sich am Zielort selbst wieder zusammenzusetzen.
Wie geil ist das denn!

Faszinierend ist auch die Idee von gigantischen Sandwürmern, die auf einem Wüstenplaneten ein Substrat namens SPICE absondern. Mit dieser Droge kann man in die Zukunft schauen. Und als Navigator die Zeit biegen, das heißt mit Überlichtgeschwindigkeit reisen.

„Dune“ von Frank Herbert und „Foundation“ von Isaac Asimov galten bislang als unverfilmbare Klassiker der Sci-Fi-Literatur. Entstanden sind diese Schinken-Romane in den psychedelischen Zeiten der 50er und 60er Jahre, als besonders in den USA aus allen Umlaufbahnen geworfene Schreibgenies fremde Welten erfanden, die der menschlichen Phantasie neue Dimensionen hinzufügten.

Auffällig ist, dass beide Werke von Dynastien handeln, die Hunderte, ja Tausende von Jahren regieren. Also echte Langstrecken. Beide Filme handeln von Gewalt-Imperien. „Game of Thrones” im tausendsten Jahrhundert. Dekadente Herrscher in Leder-Roben, die auf Thronen sitzen und „verkünden“. Marschierende „Garden“ und Armeen, die aus Riesen-Raumschiffen quellen wie die GIs in Irak und Afghanistan. Die Zukunft, sieht es so aus, wird von den Herrschafts- und Konfliktformen der Vergangenheit geprägt.

In „DUNE“ geht es bereits um ein Öko-Narrativ, in dem ähnliche Motive auftauchen wie in Camerons „AVATAR“. Es geht um die Abhängigkeit des „Imperiums“ von einem knappen Grundrohstoff, um Ausbeutung und Unterwerfung. Glitzerndes SPICE statt Öl oder Oxycontin. Und ein „unverdorbenes“ Stammessystem, das man romantisieren kann.

„FOUNDATION“ handelt von einer Klon-Dynastie, in der immerzu dieselben Herrscher nacheinander künstlich geboren werden und in drei Altersstufen hintereinander altern – Bruder Morgen, Bruder Mittag, Bruder Dämmerung. Technologie spielt aber in beiden Filmen, anders als in den meisten heutigen Sci-Fis, eine seltsam marginale Rolle. Es gibt zwar Super-Zauber-High-Tech, aber eigentlich geht es immer um soziale und mentale Fragen. Die Raumschiffe sind groß und clunky – echtes Heavy Metal im Stil von Steampunk. Man(n) trägt elektronische Schutzschilde, aber die funktionieren irgendwie nicht richtig. Man kämpft nicht mit Laser, sondern verrichtet schweißtreibenden Schwertkampf, als wäre man als römischer Gladiator plötzlich in die Zukunft gefallen, wo man aber mit Boosterwaffen nichts anfangen kann. Das wirkt bisweilen urkomisch, aber vielleicht ist der Rekurs auf das „Römertum“ kein Zufall. Blut, Krieg und Ehre – kommen wir dort in der Zukunft wieder heraus?

Frauen tragen meistens Schleier und Togas, sind aber sonst sehr emanzipiert. Vorbei ist die Zeit der Weltraumprinzessinnen. Es gibt weibliche Orden, die den Männerkulturen Paroli bieten und versuchen, diese daran zu hindern, ins Verderben zu schreiten. Was allerdings selten gelingt. Am Ende bringen Frauen mit ihrem Mut und ihrer inneren Disziplin den Wandel, die Katharsis – den Neuanfang.
All das erinnert irgendwie heftig an die Gegenwart.
Und Shakespeare lebt offenbar in der Zukunft.

Die Psychohistorik

Schließlich gibt es in „FOUNDATION“ einen Zukunftsforscher namens Hari Seldon, der mit seinen Prognosen das gesamte galaktische Imperium ins Wanken bringt. Er wirkt mit seinem Zauselbart wie ein Sparkassendirektor und doziert wie ein Geschichtsprofessor. Hari Seldon hat ein mathematisches Programm entwickelt, dass „die Zukunft“ voraussagt. Er bewahrt es im „prime radiant” auf, einem Art Zauberwürfel, der die Quadrillionen Operationen beinhaltet, die zur WAHREN Zukunfts-Voraussage nötig sind. Heute wäre das wohl ein handelsüblicher Speicher-Stick.

„Man kann nicht beobachten, ohne zu verändern.“
Werner Heisenberg

Was die Idee der Psychohistorik interessant macht ist, dass sie den „blind spot“ der Zukunftsforschung sichtbar macht. Geschichtlicher Wandel, so die Hypothese, entsteht nicht durch „Trends“, die sich mathematisch in die Zukunft weiterzeichnen lassen. Sondern durch die Reaktion der Menschen auf „die Verhältnisse“. Der Name „Psychohistorik“ besagt ja, dass die kollektive Psyche das entscheidende Element darstellt.

„Nicht die Ereignisse prägen die Zukunft, sondern unsere REAKTIONEN darauf.“
(Große Corona-Weisheit Nr. 48).

So dreht „FOUNDATION“ die Idee der Zukunfts-Voraussage um: Von einer PRO-Gnostik zu einer Re-Gnostik, die das Ergebnis ihrer Voraussage selbst herstellt. Die Vorhersage selbst wird zur Ursache einer großen Rebellion.

Gael: „Sie (die Herrscher) fürchten, dass Sie, Hari Seldon, die Zukunft voraussagen können!“
Seldon: „Sie fürchten eher, dass die Menschen GLAUBEN, dass ich das kann…!“

Seldons Prognose-Modell kann keine individuellen „Schicksale“ prognostizieren – es ist das Gegenteil von Astrologie. Wohl aber die Entwicklung großer systemischer Linien. Kaum hat Hari Seldon das Ergebnis seiner Meta-Prognostik veröffentlicht – „das Imperium wird fallen und 30.000 Jahre lang werden Tod und Verwüstung herrschen“ – bricht der imperiale Frieden in sich zusammen. Tod und Verwüstung beginnen. Es entsteht das, was wir in der Zukunftsforschung die „prognostische Schleife“ (oder futuristische Krümmung) nennen: Die Prognose wirkt als zwingendes Narrativ auf das Gegenwärtige zurück und formt die Entscheidungen, die zu ihrem Ergebnis führen. Von nun an wirkt das Gesetz der Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung.

Und prompt wird aus dem Prognostiker ein Prophet. Auf dem fernen Planeten TERMINUS, wo Seldon eine Art Hippie-Kolonie von Neuanfängern gegründet hat, die das Imperium retten und beerben soll, entsteigt Seldon am Schluss der ersten Serie auf einem Hügel einem rätselhaften Gefährt, das sich unschwer als Bundeslade oder Moses-Vehikel definieren lässt. Er schreitet den Hügel herab und vereint die zerstrittenen Stämme der Galaxis im Kampf gegen das Imperium. Biblischer gehts nicht.

In „DUNE“ erweist sich Paul, der junge Erbe einer galaktischen Dynastie, als Kwisatz Haderach. So heißt in „DUNE“ der „Weltendeuter“, der alles Wissen der Welt in sich vereinigt. Und wer die Welt deutet, der beherrscht die Zukunft.

Das Seldon-Paradox

Das Motiv der Prognostischen Schleife – nennen wir es das SELDON-PARADOX – ist in der Sci-Fi-Fantasy Literatur nicht ganz unbekannt. Zahlreich sind die Figuren der Hexen und „Wahrsager“ in den diversen Mystik-Filmen, die durch Prophetie die Wirklichkeit an den Schnittstellen von Imagination, Voraussage und Realität konstruieren. Am bekanntesten ist vielleicht die Szene mit NEO und dem Orakel in „Matrix“:

Stimme im Off: „Das Orakel empfängt Dich jetzt, Neo!“
(Neo betritt den Raum, in dem das Orakel wohnt. Es ist eine Küche, in der eine runde, mütterliche Frau gerade Kuchen bäckt.)
Orakel: „Du bist Neo, nicht wahr? Ich weiß.“
Neo: „Sind Sie das Orakel?“
Orakel: „Du hattest etwas anderes erwartet, nicht wahr? Ich würde Dir gerne einen Stuhl anbieten, aber Du möchtest Dich ja sowieso nicht setzen. Und wegen der VASE mach Dir keine Sorgen.“
Neo: „Welche Vase?“
(Neo dreht sich zur Seite, wo er eine Blumenvase auf einem Tischchen sieht und diese dabei mit dem Ellenbogen zu Boden stößt, wo sie zerspringt.)
Orakel: „DIESE Vase. Aber mach Dir da keine Sorgen, eins meiner Kinder macht sie schon wieder ganz.“
Neo: „Woher wussten Sie das – dass ich sie herunterstoßen würde?“
Orakel: „Ohh. Viel quälender wird für Dich die Frage sein: Hättest Du sie auch zerbrochen, wenn ich nichts gesagt hätte?“
(Orakel zündet sich eine Zigarette an).

In „DEVS“, einer Streaming-Serie, die im Milieu ballistisch durchgedrehter Tech-Startups spielt, heuert ein hippieesker Visionär die besten Nerds an, die er finden kann, um eine Zukunfts-Prognose-Maschine zu bauen. Beim Prototypen-Test sitzen die Programmierer vor dem Bildschirm und erkennen plötzlich sich selbst. Eine der Figuren auf dem Schirm hebt die Hand, worauf ein realer Programmierer im Raum ebenfalls die Hand hebt. Das Programm hatte aber diesen Zug nur vorausgesehen, und der reale Mensch nur reflexhaft darauf reagiert …

Ist nicht auch unsere Erfahrung mit Corona nichts anderes als ein riesiges »Self-denying-fulfilling-event«? Ein Spiel, in dem wir uns immer etwas voraussagen, was durch unsere Handlungen entweder hervorgerufen oder vermieden wird? Jede Prognose über Corona hat sofort eine Gegen-Reaktion hervorgerufen, die den Wirklichkeitsverlauf sofort veränderte – und sich dadurch selbst widerlegte. Auf diese Weise zerstört sich „Objektivität“ als Begriff und Kategorie selbst. Es entsteht eine in sich geschlossene Zeitschleife, in der kein Modell mehr wirklich funktioniert.

Lars Weisbrod schreibt in der „ZEIT“:

„Wenn zwischen self-destroying prophecy und self-fulfilling prophecy kaum noch Raum bleibt für eine Prognose, die sich nicht selbst verbiegt; wenn sich die Wirklichkeit nach der Vorhersage richtet und nicht bloß die Vorhersage nach der Wirklichkeit, wie soll ein Forscher objektiv entscheiden? Vor die Wahl gestellt, zum Beispiel Inzidenzzahlen entweder zu hoch oder zu niedrig zu modellieren, würden viele von uns die überschossene Vorhersage wählen, die weniger Erkrankungen nach sich zieht. Wer epistemisch nur verlieren kann, warum soll er nicht ethisch entscheiden?“

In einer hypermedialen Gesellschaft werden Prognosen immer mehr zu direkten Handlungen – vor allem, wenn sie einen geldwerten Vorteil benennen. Wenn durch die öffentliche Aussage über eine Firma sofort deren Börsenkurs steigt, sind Prognosen plötzlich Verkaufs-Operationen. Pures Marketing. In Hysterien funktioniert es genau andersherum: Eine Gefahr wird durch ihre Voraussage erzeugt oder verstärkt, und im kollektiven Angst-Mechanismus verankert, wo sie sich hysteriehaft verselbstständigt.
You see, what you want.
You get, what you see.

Interessant ist es vielleicht noch zu wissen, dass Isaac Asimov, der das „Foundation“-Opus im Jahr 1951 schrieb, wahrscheinlich von realen damaligen „Propheten“ inspiriert wurde. Etwa dem Mathematiker, Quantenphysiker und Spieltheoretiker John von Neumann, einem der vielleicht genialsten UND verrücktesten „Zukunftsforscher“ der damaligen Zeit. Er arbeitete als Quantenmechaniker für das amerikanische Manhattan-Projekt, saß im »Target Commitee«, das die Atombombenabwürfe von Japan plante, und konnte so schnell denken, dass er sich von hinten selbst überholte. Von Neumann war nach dem Krieg Teil und Initiator mehrerer Zukunfts-Think-Tanks, deren berühmtester, die RAND Corporation, eine Art Schaltstelle der amerikanischen Futurologie darstellte, die damals erhebliche Einflüsse auf die Politik hatte. Verewigt wurde er (in einer Mischung mit Hermann Kahn, einem anderen „Futuristen“) in der Rolle des „Dr. Seltsam“ in Kubricks Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“. Auch in diesem Film geht es um das prophetisch-prognostische Paradox, in dem die Wirklichkeit durch ihre Voraussage „ausgelesen“, also erst erzeugt wird.

Man kann das Seldon-Paradox als eine Variante der Quantentheorie begreifen, in der das INFORMELLE zu einer Gleichzeitigkeit von Erfahrung und Vor-Stellung führt. Die „spukhafte Fernwirkung“ der Zukunft. Darin liegt viel Düsteres, Apokalyptisches (etwas, was sich auch in den Visionen von „Künstlicher Intelligenz“ ausdrückt – das Modell erzeugt die Realität). Umgekehrt könnte das Seldon-Paradox auch ein erhellendes Denkmodell im Sinne eines futuristischen Konstruktivismus sein. Das, was wir die RE-Gnose nennen, ist ja nichts anderes als Wirklichkeits-Konstruktion von der Zukunft her. Im Unterschied zur Prophetie geht es dabei aber nicht um Determinismus. Sondern um einen öffnenden Bewusstseinsprozess, in dem wir das Visionäre als Befreiung von den Fallen der Vergangenheit nutzen.
Die Zukunft entsteht IN UNS – als realer Möglichkeits-Raum.

Denis Villeneuve, der Regisseur von „DUNE“, weigerte sich übrigens, den opulenten Film im virtuellen Verfahren zu drehen, also nur im Studio. Auch in „FOUNDATION“ wurden die Raumschiffe wieder händisch, als echte Modelle, gebastelt. In einem Interview sagte Villeneuve:

„In einem Film wie „Dune“ steckt viel Planung, aber am Tag des Drehs kommt man in Kontakt mit dem Leben. Ich komme aus dem Dokumentarfilm. Ich brauche die Wirklichkeit. Sie hat einen Einfluss darauf, wie ich eine Szene angehe. Eine virtuelle Umgebung mag für andere funktionieren, für mich tut sie das nicht. Wir haben ein riesiges Set in Ungarn gehabt, wir haben fast alles gebaut.“

Das klingt, irgendwie, beruhigend.

Siehe auch: www.zeit.de/kultur/film