92 – Future War

Szenarien über den Ausgang eines unvorhersehbaren Krieges

Illustrationen: Julian Horx

Für die systemische Zukunftsforschung ist dieser Konflikt eine extrem harte Nuss. Kriege wie dieser haben keinen klaren kausalen Anlass, an dem entlang sich Probabilitäten (Wahrscheinlichkeiten) messen lassen. Irrationalität, Paranoia, Interessen, gehäufte Zufälle, aber auch so genannte Super-Memes (kulturelle Groß-Signaturen) spielen eine Rolle. Die kausalen Verzweigungen, die zu diesem „Event“ führten, reichen weit und tief in die Vergangenheit.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass Szenarios keine PROGNOSEN sind. Während Prognosen mit Ausschluss von Unsicherheit arbeiten (die Bayes-Methode), sind Szenarien Tools zum Umgang mit Unsicherheit.
studyflix.de/statistik/satz-von-bayes-1113
de.wikipedia.org/wiki/Bayessche_Statistik

Prognosen verengen den Zukunftsweg. Szenarien öffnen verschiedene Möglichkeitsräume. Szenarien arbeiten narrativ – mit poetisch klingenden Namen –, sie nutzen auch das Unbewusste, das in sprachlichen Konfigurationen angesprochen wird, zur Beurteilung hyperkomplexer Situationen.
Es geht also auch um das Gefühl, das wir gegenüber komplexen Situationen entwickeln. Gefühle geben uns Auskunft über unsere inneren Konstruktionen und Projektionen; die Art und Weise, in der wir die Welt sehen. Szenarien funktionieren also auch wie ein Spiegel, in dem wir die Welt „durch uns selbst hindurch“ sehen können.

Hier also acht mögliche Entwicklungen des Krieges zum Hineindenken …

1. Bloodlands
– das russische Dauer-Vietnam

In „Bloodlands“, einem Buch des Historikers Timothy Snyder, wird beschrieben, wie die ukrainischen Ebenen immer wieder zum historischen Schauplatz von Pogromen, Vertreibungen und unfassbarer Gewalt wurden.
www.timothysnyder.org/books/bloodlands

Die Geschichte setzt nun in einer Wiederholung dieses Musters fort. Der Konflikt verlängert sich in einen endlosen Schwelbrand, einen Zustand der Agonie. Die Ukraine wird in diesem Szenario zu einem russischen Vietnam – über viele Jahre herrscht dort ein zäher, blutiger Guerillakrieg apokalyptischen Ausmaßes. Kämpfe flammen immer wieder auf, auch dort, wo die russische Armee alles in Trümmer verwandelt hat. Das Land ist zu groß, um es zu erobern. Keine Seite kann nachgeben, keine diplomatische Lösung wird gefunden, und die Ukrainer (und ihre Helfer) entwickeln immer neue raffinierte Guerilla-Taktiken in den Trümmern. Gegen eine im Grunde ausgelaugte, demoralisierte und mit technischer Gewalt eskalierende russische Armee gibt es keinen Sieg. Aber die fremde Armee kann auch nicht siegen. Der Krieg endet erst nach vielen Jahren an apokalyptischer Erschöpfung mit dem Tod Putins.

2. Heroische Kapitulation
– die Helden-Erzählung

Kurz vor der endgültigen Einnahme von Kiew in einer blutigen Schlacht wird Wolodymyr Selenskyj mit einer kleinen Gruppe von Vertrauten aus der Stadt ausgeflogen (ob von Franzosen mit heimlicher Duldung Putins oder von einem deutschen/amerikanischen Spezialkommando kann nie ganz geklärt werden). Er gründet eine Exilregierung in (z.B.) Paris. Die restlichen ukrainischen Streitkräfte kapitulieren. Die Ukraine wird vollständig besetzt und gerät in eine grausame Okkupations-Zeit, die viele Jahre andauern wird. Die so genannte „Alternativregierung“ erweist sich schnell als Militärkomitee von Putins Gnaden.

Dieses Szenario funktioniert auch, wenn Selenskyj getötet oder gefangengenommen wird, oder wenn er ehrenwert kapituliert. Aus dem Heroismus der Niederlage entsteht ein Mythos mit vereinender Wirkung gegen den Aggressor. Durch die Okkupation wird verdeutlicht, dass das Putin-Regime nichts anderes ist als ein imperialistischer Terror-Staat. Die Weltöffentlichkeit schließt sich deutlich gegen Russland zusammen und bildet mehr und mehr eine globale antirussische Allianz. Auch China wendet sich Stück für Stück ab, und aus Russland wird ein isoliertes kontinentales Nordkorea, mit immer hysterischeren Darstellungen des Diktators (und seiner Nachfolger).

3. „Hinausschleichende Drift” oder Der plötzliche Friede
– das Joker-Szenario-1

„Hinausschleichende Drift“ benennt einen evolutionären Prozess, in dem sich die Dinge plötzlich seitwärts statt linear bewegen – und sich das „Framing“ eines bestimmten Ereignisses verändert. Ein Beispiel ist die Corona-Entwicklung: Als das Virus anfing, in höhere Ansteckungsquoten ABER geringere Tödlichkeit zu mutieren, veränderten sich die Spielregeln der Pandemie radikal – und machten sie zu einem völlig anderen Geschehen. Dieses „Hinausschleichen“ könnte so aussehen:
Nach einigen Gewaltexzessen fährt sich der Ukraine-Krieg auf einer systemischen Patt-Ebene fest. Verhandlungen beginnen und werden immer wieder abgebrochen, aber die ganz große Eskalation bleibt aus. Es entsteht das, was man in der Spieltheorie ein „Nash-Gleichgewicht“ nennt (nach dem Spieltheoretiker John Forbes Nash Jr., siehe Anhang). Eine Situation, in der keine der Parteien mehr Kraft für oder Interesse an Veränderung hat. Putin scheut den Übergang zu echten Massenvernichtungen. Es gelingt der HUMANITÄREN KOALITION aus internationalen NGOs und vielen engagierten Ländern, „Safe Zones“ in der Ukraine zu etablieren, in denen die Bevölkerung überleben kann. Der heiße Konflikt wird mit Hilfe von allen möglichen Vermittlern verhandelt und es kommt zu einem Agreement, aus dem sich in einem langen und zähen Prozess ein russischer Teil-Rückzug, die Aufteilung der Ukraine und eine Neutralitäts-Lösung entwickelt, die beide Seiten als Sieg oder zumindest nicht als Niederlage verkaufen können.

4. Die Konfuzius-Lösung
– der „New Global Contract“ durch globalisierte Welt-Diplomatie

Durch den Ukraine-Krieg entwickelt sich eine gewaltige neue globale Friedensbewegung, die auch ökologische und Menschenrechts-Themen aufgreift. Gleichzeitig formen sich rund um den Globus intensive diplomatische Aktivitäten, die auf eine neue Weltordnung abzielen.

Während der Krieg Jahre andauert, entscheidet sich China schließlich zu agieren, weil es die Folgen der Weltwirtschaftskrise und einen ernsthaften Image-Verlust durch seinen Russland-Pakt fürchtet. Auf einer von China einberufenen weltweiten Friedenskonferenz handeln die Weltorganisationen einen „New Global Treaty“ aus, der das Verhältnis zwischen den Staaten und Staatenblöcken neu regelt. Ähnlich dem westfälischen Frieden oder Wiener Kongress wird eine neue globale Machtverteilung beschlossen und durch eine reformierte UN-Charta gesichert. Die Ukraine wird unter eine UNO-Verwaltung gestellt und militärisch neutralisiert. Sie erhält eine provisorische Regierung, die sich nach dem Vorbild Bosnien-Herzegowinas aus internationalen Experten und Volksgruppen-Vertretern zusammensetzt. Amerika, Europa und China finanzieren den Wiederaufbau gemeinsam.
Russland zieht sich in eine zunehmende Isolation zurück, aber nach dem Tod Putins kommt es zu langsamen Öffnungen und Reformen.

5. Putins Fall
– das Joker-Szenario-2

Etwas Unerwartetes passiert im Kreml. Lange bleibt unklar, was eigentlich passiert ist, denn es gibt längst keine Wahrheit mehr, auf die man sich beziehen könnte. Putin erleidet einen tödlichen Infarkt (heißt es). Oder er wird vergiftet (behaupten manche). Ein Militärkommando, welches das Attentat dem Westen anlastet, übernimmt. Oder es heißt, dass Putin sich in den Ural zurückgezogen hat und „sich anderen Aufgaben zuwendet“. Mehrere Wochen weiß man nicht, ob er noch „da“ ist oder nicht, weil ständig Bilder und Filme von ihm gesendet werden, die sich aber später als „Deepfakes“ – per Artificial Intelligence verfälschte Medieninhalte – herausstellen. Oder als veraltete Aufnahmen, die „getunt“ worden sind. Im Kreml entsteht Chaos, mehrere Nachfolger Putins verschwinden, Gruppen von Geheimdienstlern, Generälen, die mit verschiedenen Oligarchen verbunden sind, kämpfen um die Macht. Die Kriegsgeschehnisse weiten sich in Vasallenstaaten aus, es kommt zu Erhebungen und Abspaltungen in Teilen „Großrusslands“, die allerdings – wie so oft in der russischen Geschichte – blutig niedergeschlagen werden. Das ukrainische Drama wiederholt sich auf der Fläche Russlands. Es wird gefährlich für die ganze Welt, aber am Ende ist das ein interner Konflikt Russlands.

6. Finnlandisierung
– das Abschreckungs-Europa

Die Ukraine wird in einem monatelangen Zerstörungs-Prozess besetzt, ein großer Teil der Zivilbevölkerung – an die 15 Millionen Menschen – wird vertrieben. Die EU verwandelt sich, nachdem Trump die nächste amerikanische Wahl gewinnt, in einen Front-Kontinent, der aber auf eigene atomare Abschreckung verzichtet und sich einem rein defensiven Militärkonzept zuwendet. Das basiert auf dem Konzept der systemischen Territorialverteidigung, das auf dem finnischen (oder auch schweizerischen) Modell der mobilisierbaren Groß-Reservistenarmee basiert. Grundlage ist die Schulung jedes Bürgers ab 18 Jahren in Selbstverteidigung, Guerillakampf-Techniken und Überlebensstrategien, ergänzt durch eine eher kleine, aber durch Hochtechnisierung sehr effektive Profi-Armee. Diese „hybride Breitenmilitarisierung“ soll dem Gegner klarmachen, dass jede Invasion durch massivsten territorialen Widerstand beantwortet wird. Eine neue Hightech-Grenzmauer wird quer durch Europa gebaut, eine Demarkationslinie, die immer wieder teilweise verschoben wird. Eine neue Abschreckungsära beginnt, ein superkalter Krieg mit gelegentlichem Aufflammen von Kampfhandlungen. Aber man gewöhnt sich dran, so wie sich Israel an einen alltäglichen Kriegs-Bedrohungszustand gewöhnt hat und dabei wirtschaftlich vital und innovativ bleibt.

7. Die Welt auf der Kippe
– in allerletzter Sekunde …

Durch Missverständnisse, Provokationen, Exzesse der Gewalt (Giftgaseinsatz in der Ukraine) und den eskalierenden Wahn Putins weiten sich Kampfhandlungen über die Grenzen der Ukraine aus. Russland verübt Groß-Attentate und Sabotageakte in Westeuropa, es kommt schließlich zum Einsatz einer taktischen Atomwaffe auf eine Nato-Basis, wobei Russland behauptet, der Westen hätte den Einsatz „inszeniert“, um Russland zu „vernichten“. In allerletzter Sekunde einigen sich NATO und russische Generäle auf eine Feuerpause. In langwierigen Verhandlungen entsteht eine Demilitarisierungs-Zone quer durch Europa, zu der neben der Ukraine auch die baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien und Belarus gehören. So bekommt Putin seinen Willen, kurz bevor er unter ungeklärten Umständen stirbt.

8. Der große Weltbrand
– das Ende der Welt oder: Das Unvorstellbare

Ein langanhaltender Mehrfrontenkrieg bricht aus, der sich atomar hochschaukelt. Große Teile des eurasischen Kontinents und Amerikas werden verwüstet, 200 Millionen Menschen sterben sofort, weitere 300 Millionen an Hunger und den Folgeschäden. Trotzdem stirbt die Menschheit nicht aus, Afrika und Südamerika, China sowie die pazifischen Räume sind weitgehend verschont geblieben. Im Jahr 2035 eröffnet Elon Musk die erste Aussiedler-Stadt auf dem Mars mit dem Namen NEWKRAINE.

Anhang
Eine kleine Geschichte von Spieltheorie, Szenario-Technik und prognostischer Konfliktforschung

Einer der ersten berühmten Zukunftsforscher der Nachkriegszeit war Herman Kahn, ein Zwei-Zentner-Mann. Zusammen mit dem ungarisch-stämmigen Mathematik-Genie John von Neumann, der die mathematischen Grundlagen der Atombombe errechnete, begründete Kahn in den 50er Jahren die angewandte Spieltheorie. Kahn und Neumann arbeiteten bei der 1948 gegründeten RAND-Corporation, einem von CIA und Pentagon finanzierten Think-Tank, in der Wissenschaftler an komplexen militärischen Zukunfts-Szenarien arbeiteten. Am Anfang dieser legendären Denk-Fabrik überwogen die rein militärischen Aufträge: Es ging darum, durch Prognosen und Konflikt-Szenarien den Dritten Weltkrieg gewinnen zu können.

Bald jedoch weitete sich die Arbeit von RAND über die Grenzen des rein Militärischen aus – in die Analyse von Trends und Entwicklungen in allen Teilen der Gesellschaft. Damit entstand der erste interdisziplinäre Zukunfts-Think-Tank, dessen Grundidee das Zukunftsinstitut heute fortsetzt:

„Es gab keine Regeln für die Grenzen des Interesses. Surfing, Semantik, der Weltraum, finnische Phonetik, die Metastruktur der Neurosen, das arabische Clan-System, eine hermeneutische Studie der Schriften Lenins, eine Analyse des Spielwaren-Puzzles „Instant Insanity“.
en.wikipedia.org/wiki/Instant_Insanity

Der offizielle Arbeitsvertrag, den jeder hier abschloss, nannte es „Recherchen für interkontinentale Kriegsführung“. Aber im Grunde wurden wir dafür bezahlt, das „Undenkbare“ in alle Richtungen zu denken.“
William Poundstone, „Prisoner’s Dilemma, John von Neumann, Game Theory and the Puzzle of the Bomb“, S. 83 – 99
home.williampoundstone.net

Womöglich hat die Arbeit von Neumann und Kahn die Welt vor einem nuklearen Dritten Weltkrieg gerettet. Kennedys kluge und moderate Reaktionen auf die Kuba-Krise 1962, in der die Welt am nuklearen Abgrund stand, lässt sich auch auf die Spieltheoretiker zurückführen, die im Beratungsteam Kennedys während der Krise saßen. Sie versorgten Kennedy mit Gegenvorschlägen gegen den Eskalationswillen der Militärs.

Wer sich noch einmal in diese Zeit zurückversetzen will, dem sei der absolut irrwitzige Kubrick-Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben“ empfohlen. Auch sehenswert ist die Verfilmung der Kubakrise in dem Film „Thirteen Days“.
de.wikipedia.org/wiki/Thirteen_Days_(2000)

Das Wort „Spiel“ ist zunächst mit dem Wort „Zufall“ verbunden. Mit einem gewissen Un-Ernst. Doch selbst Würfelspiele haben Ergebnisse, die voraussehbar sind (einer der ersten, der das erkannte, war Gerolamo Cardano, der im 14. Jahrhundert ein Buch über das Würfelspiel schrieb, weil er sich ständig an seiner Spielsucht ruinierte).
de.wikipedia.org/wiki/Gerolamo_Cardano

In der fortgeschrittenen Spieltheorie geht es um ERWARTUNGEN und VERHANDLUNGEN, die langfristige Spielverläufe beeinflussen. Dabei spielt immer die Psychologie eine Rolle – und natürlich die Interessen der Spielteilnehmer.

Falken und Tauben

Die Spieltheorie hat viele erhellende „Storyboards“ hervorgebracht. Zum Beispiel das Gefangenen-Spiel, bei dem Verrat und Treue eine Rolle spielen. Oder die Modelle von John Maynard Smith (1920 – 2004), eines spieltheoretischen Ökonomen. Eines seiner interessantesten evolutionsbasierten Spiel-Szenarien handelt vom Verhältnis von Friedfertigkeit und Gewalt.

Stellen wir uns einen Planeten vor, der ausschließlich von netten, hübschen Tauben bewohnt wird, die immerzu miteinander kooperieren. Beim „Spiel“ des Futterfindens teilen sie immer brav jeden Brocken. Sie gurren vorbildlich den ganzen Tag. Die solidarischen Grünen, die Friedens-Freund*innen, haben auf diesem Planeten endgültig gesiegt.

Man könnte jetzt meinen, dieser Planet wäre besonders stabil und ausgeglichen, wie wir uns das ja von im moralischen Sinne „guten“ Systemen wünschen. Aber was auf der reinen Taubenwelt entsteht, ist nicht Stabilität, sondern Statik. Wenn immer dasselbe Spiel gespielt wird, entwickelt sich keine Komplexität, keine Varianz, sondern Stillstand. Und damit keine echte Resilienz gegen Störungen von außen. Die evolutionäre Fitness der Tauben nimmt ab. Das System wird unstabil, sobald neue Umweltfaktoren ins Spiel kommen.

Zum Beispiel die Immigration von Falken. Ein solcher Raubvogel wäre in der Lage, den Taubenplaneten innerhalb kurzer Zeit völlig zu übernehmen. Denn er spielt das permanente Futterspiel einfach andersherum. Immer, wenn er auf Futter trifft, frisst er alles auf und verjagt die Taube. Innerhalb kürzester Zeit hätte die Falkenpopulation den ganzen Planeten übernommen, und die Tauben würden verhungern oder müssten sich in den Büschen verstecken und von Abfall ernähren.

Unser Tauben-Planet wäre nur vor der Falken-Tyrannei zu retten, wenn sich die Tauben etwas einfallen ließen. Einige von ihnen entwickeln womöglich ein gutes Tarngefieder und können sich unsichtbar dem Futter nähern. Andere verbünden sich, bewaffnen sich und schlagen den Falken in die Flucht. Oder aber sie gehen ins Sportstudio und entwickeln sich zu Tauben, die manchmal Futter teilen, manchmal die Krallen zeigen. Man weiß nie genau, wann, was. Die Erfindung einer Taubenpolizei, der Erlass von Gesetzen, der das Falkenverhalten reguliert, könnte helfen (allerdings setzt das komplizierte Verhandlungen voraus). Auch hier gilt: Ähnlichkeiten mit der herrschenden humanen Realität sind beabsichtigt und auch nicht rein zufällig.

In der nächsten Stufe bekommen die Falken bald selbst ein Problem, weil ihr Sieg zur nächsten Instabilität führt. Sie fangen durch ihre Erfolge an, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die ständigen Rangkämpfe kosten Energie, die der Planet aber als Nahrung nicht hergibt. Was langfristig wieder die Tauben in die Vorhand bringt. Die können einfach besser kooperieren und mit ihrem Dung Pflanzen düngen … Und so weiter.

Evolutionäre Fitness ist nicht Stärke und „Übermacht“. Sondern Variabilität. Früher oder später läuft jede auch noch so ausgeklügelte Dominanz-Strategie in eine systemische Sackgasse. Das ist spätestens der Fall, wenn der „Gegner“ seine Strategie grundlegend ändert, weil er SICH verändert. Das Modell lässt sich auch als Allegorie für die Evolution selbst verstehen – hier verbirgt sich der Grund für die Diversität von Biotopen, in denen es nicht nur Raubtiere geben kann. Aber eben auch nicht nur Tauben. Evolution handelt von einer Art „Komplexitätsmaschine“, in der immer höhere Differenzierung und Rückbezüglichkeit entsteht.

Das Trump-Putin-Prinzip:
Strategien der Bösartigkeit funktionieren zunächst in Umgebungen BESSER, in denen ausschließlich friedfertige Konfliktlösungen herrschen, bei denen die Friedlichen wenig kooperieren.

John Nash – ein brillanter Geist erforscht die Patt-Situationen

In einer Szene des berühmten Films „A Beautiful Mind“ sitzt der Spieltheoretiker John Forbes Nash Jr. unter einem Baum auf dem Campus der Universität von Princeton und streicht Buchstabenkombinationen, Zahlen und Bilder in einer Zeitschrift an, als sich ein kleines Mädchen nähert, das ihn offenbar kennt.
„Was machen Sie denn da, Mister Nash?“
„Ich versuche, im Verlauf der Zeit wiederkehrende Muster aus Periodika herauszufiltern.“
„Sie reden komisches Zeug, Mr. Nash!“

John Nash redete tatsächlich viel komisches Zeug, er litt zeitweise an paranoider Schizophrenie. Er war gewissermaßen der „weibliche“ Antipode zu den Konflikt-Spieltheoretikern des Kalten Krieges. Während es bei Kahn, Schilling, von Neumann und den anderen „Doomsday-Spielern“ vor allem auf Konflikt ankam – auf widerstreitende Interessen, Dominanzwille, Überwindung des Gegners -, beschäftigte sich Nash mit Spielen, in denen Konflikte zu Patt-Situationen führten.
Nash war fasziniert von Spielen, die keinen klaren Gewinner haben konnten – Spiele mit mehreren Spielern und multi-divergierenden Interessen. Seine Grund-These war, dass sich in sozialen Spielen eine Art „Soziomagnetismus“ entwickeln würde, an dem widerstreitende Interessen zur Ruhe kommen würden. Das „Nash-Equilibrium“ ist die mathematische Darstellung jener Punkte (manchmal können es mehrere sein), an denen ein „Interessenfeld“ ins Gleichgewicht gerät – und dort unter Umständen lange Zeit verharren kann. Das geschieht dann, wenn die Teilnehmer eines Spieles – keine VORTEILE mehr haben, wenn sie ihre Strategie verändern. Der Konflikt ist ausgereizt. Wie in der Physik – wo sich chemische Stoffe irgendwann „sättigen“, oder im Wettergeschehen, wenn sich Stürme ausgetobt haben und Windstille eintritt (auch bei guten Beziehungen und Ehen zu beobachten) – gibt es eine Tendenz natürlicher oder humaner Systeme „ins Gleichgewicht zu driften“ (Equilibrium-Drift).

Von der Spiellogik zum Szenario Prozess

Die Szenario-Technik wurde aus Elementen der Spiel- und Systemtheorie in den späten 60er Jahren entwickelt. Sie hat seitdem vielfältige Anwendungen in Politik, Unternehmen und Organisationen gefunden. Auch der Club of Rome oder der Ölkonzern SHELL arbeiteten bereits in den 70er Jahren mit dieser Methode, die Zukunft in mehrere ZUKÜNFTE aufzuteilen.

„Scaenarium“ ist der Ort, wo die Bühne errichtet wird. Es geht bei Szenarios um Wahrnehmungen. Um Sichtbarkeiten, Benennungen, die sich der Wirklichkeit annähern können. Szenarien können die Wirklichkeit sogar beeinflussen, durch Rückkoppelungen in Strategien und „Self-Fulfilling-Prophecies“. Ein komplexes Szenario malt die Zukunft in alle Richtungen der Kontingenz aus, es berücksichtigt auch die Ränder der Wahrscheinlichkeiten. Dazu gehören „Wild Cards“. Die verblüffende spontane Wende. Der systemische Sprung.
Konflikt-Szenarien beziehen sich in ihrem Kern immer auf drei Möglichkeiten von Spielausgängen. Konflikte enden prinzipiell immer durch:
Erschöpfung/Entropie
oder
Kompromiss
oder
Synthese auf höherer Ebene, die den ursprünglichen Konflikt transzendiert.

Der Ukraine-Konflikt stellt die zentrale Frage der Weltentwicklung. Sie lautet Regression oder Komplexion? Entwickelt sich die Paradoxie, die letztlich Ursache des Konfliktes war, in eine regressive Zerstörung, eine Entropie, einen neuen Tribalismus? Oder entsteht durch die tragende Konnektivität der Welt eine neue Logik der Entscheidungen auf höheren Ebenen (z.B. UNO, planetare Rechtsstaatlichkeit, internationale Organisationen des Ausgleichs). Pathetisch ausgedrückt: Rückt die Menschheit durch das Schreckliche auf Dauer näher zusammen? Oder fällt sie auseinander in den viel gefürchteten Krieg der Kulturen?
Hermann Kahn sprach in den 70er Jahren vom „Langfristig komplexen Trend“, der auch durch Rückfälle und große Krisen nicht zerstört wird. Möge die Wahrheit mit ihm sein!