93 – Die verhexten Krisen

Eine kleine Auswertung der Ukraine-Szenarien und der Blick auf andere Konflikte

Wie entwickelt sich der Ukraine-Krieg? Das war die Grund-Frage meines Szenarios vom 21. März, drei Wochen nach Beginn des Krieges. Zahlreiche Zusendungen haben sich intensiv mit den 8 Szenarien beschäftigt.

Hier noch einmal im Überblick:

Interessant waren die Einschätzungen, die Sie, liebe Leser, mir zugeschickt haben. Ich hatte Sie gebeten, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen und in einer Art „Ranking“ (1-2-3) die Szenarien zu bewerten. Was ist dabei herausgekommen?

Erster Platz: „Hinausschleichende Drift“ oder Der plötzliche Friede (ein Drittel aller Zusendungen)

Hier handelt es sich um das optimistischste Szenario: Der kriegerische Konflikt kommt plötzlich zu einem Stillstand. Es beginnen Verhandlungen, und am Ende steht ein Kompromiss, mit dem sich Putin als Sieger zurückziehen und die Ukraine sich als autonom behaupten kann.

Dass wir uns diese „Lösung“ wünschen, ist verständlich. Einige Leser drückten das direkt als HOFFNUNG aus: „Ich wünsche mir Frieden!“ Aber wie soll das gehen? Mit jedem in Schutt und Asche gelegten Wohnblock oder Kindergarten wächst der Hass, die Verzweiflung der Ukrainer, und mit jedem getöteten russischen Soldaten und zerschrotteten Panzer wächst der Hass (und Wahn) Putins. Im Kern des Konflikts liegt die Unmöglichkeit eines Friedens, der auf Übereinkunft beruht. Solche Kriege gehen „normalerweise“ nur durch gegenseitige totale Erschöpfung oder den Sieg der einen Seite zu Ende (geschildert in „Bloodlands“ oder „Heroische Kapitulation“).

In den letzten Tagen hat sich allerdings gerade WEIL der Konflikt so unlösbar erscheint, eine Tendenz des „Herausschleichens“ entwickelt. Ein langsames Abebben der Gewalt scheint gerade deshalb wahrscheinlich, WEIL der Konflikt unlösbar ist. Durch den Widerstand der Ukraine hat sich das Spielfeld in Richtung eines Patts entwickelt.
Aber genau das könnte auch das Zeichen einer weiteren Eskalation sein. Tyrannische Strategien à la Putin neigen in dieser Situation zu „Leugnungsexzessen“. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im April zu einem weiteren, womöglich schlimmeren Gewaltexzess kommt, ist deshalb ziemlich groß. Danach würden die beiden Szenarien „Bloodlands“ und „Heroische Kapitulation“ wahrscheinlicher.

Zweiter Platz: Die Konfuzius-Lösung (ein Sechstel aller Zusendungen)

Dieser Konflikt ist durch die zahlreichen Verflechtungen des Globalen längt ein Weltkonflikt geworden. Da die UNO nicht mächtig genug ist, müsste dies zu einem neuen „Framing“ auf höherer Ebene führen. Eine Art neuer „Magna Charta“ wäre nötig, die den eigentlichen GRUNDkonflikt ausgleicht (nicht löst, das ist unmöglich) – den zwischen Demokratien und Autokratien. An diesem Punkt käme China ins Spiel. Als aufkommende Weltmacht müsste es China ein Anliegen sein, auch im eigenen Interesse den Krieg zu stoppen. Ist China mit seiner „konfuzianischen“ Strategie nicht ein Vertreter globaler Harmonie?

Diese Lösung ist – probabilistisch gesehen – derzeit sehr unwahrscheinlich. China kann sich nicht entscheiden. Unweigerlich würde das Thema der Menschenrechte auf dem Tisch liegen, und die Machtinteressen Chinas würden deutlich sichtbar. China ist jedoch ein großer Meister im Verbergen. Dass dieses Szenario dennoch von relativ vielen Lesern gewählt wurde, liegt daran, dass es gleichzeitig LOGISCH erscheint. Wie sonst sollte der Krieg „gelöst“ werden als durch die Einwirkung Chinas? Lösungen, die logisch sind, sind aber nicht immer wahrscheinlich.

Dritter Platz: Die Welt auf der Kippe (ein Zehntel)

Dieses Szenario geht von einer „Wendung durch höchste Gefahr“ aus – ein High-Risk-Szenario, das an unseren Nerven zerrt, an unsere Angst appelliert. Ein bisschen schwingt da die Erinnerung an die Kuba-Krise mit, wo es gelang, den Konflikt kurz vor dem großen Weltkrieg abzuwenden. Man könnte das als einen „Neuen Realismus“ interpretieren. Aber ist Realismus in dieser Situation realistisch?

Einige Leser haben eigene Szenarios – oder Varianten – vorgeschlagen. John Peter Strebel aus der Schweiz hat den klugen Begriff „Pragmatische Kapitulation“ gegen die „Heroische Kapitulation“ gesetzt: „Nicht heldenhaft aber vielleicht lebensrettend.“

Gabi O. aus Deutschland beschreibt eine Art Traum: „Putin wird von einer Vision ergriffen, erkennt, was er angerichtet hat und zieht alles zurück und begeht Selbstmord. In Russland bricht alles zusammen, aber Nawalny und andere schaffen es immer mehr Teile der Bevölkerung von einer neuen demokratischen Ordnung zu überzeugen. Putin-Vertraute werden verurteilt und müssen beim Aufräumen in der Ukraine helfen. Das dauert aber ewig und ist von Rückschlägen gezeichnet. Die Armut wird weniger. Europa hilft, wo es kann. Der Einzelne kann wieder Vertrauen in die neue Regierung aufbauen und selbstbewusster und sichtbarer werden.“

Eine andere Leserin, Annabel R., sieht die Religion in einer herausragenden Rolle:
„Papst Franziskus und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill beginnen miteinander zu sprechen. Kyrill kann ermutigt werden, vom Schulterschluss mit Putin Abstand zu nehmen. Ein Rest Religiosität regt sich in der russischen Bevölkerung und Putins Zustimmungs-Basis wird schwächer. Er steht vor der Entscheidung, die Gewalt gegen sein eigenes Volk hochzufahren oder eine letzte Chance zu nutzen und als Friedensfürst in die Geschichte einzugehen. Man einigt sich, eine ostukrainische Enklave als russischen Trabantenstaat zu gründen.“

Diese Szenarien lösen die „Verhextheit“ des Problems, in dem sie neue Spieler auf dem Konfliktfeld einführen oder auf die Macht der Hoffnung setzen. Das ist keineswegs unrealistisch. Allerdings ändert es nichts an der Verhextheit des Konflikts, an der dunklen Magie, die eine Lösung verhindert.

Was sind „verhexte Probleme“?

Was macht es so außerordentlich schwer, die Zukunft dieses Konfliktes auch nur halbwegs verlässlich einzuschätzen? Sich auch nur eine Lösung zu DENKEN?
Beim Ukraine-Konflikt handelt es sich um ein Krisenphänomen, das man auch ein VERHEXTES PROBLEM nennt. „Verhexung“ meint eine bestimmte Art von negativer Verschränkung, in der die kognitiven Ebenen nicht mit den Wirklichkeiten übereinstimmen. (Siehe die philosophische Debatte über verhexte Probleme im DAI Heidelberg ). Jede Lösung erschafft sogleich wieder eine neue Reihe von Problemen, jeder Schritt erzeugt eine weitere Verirrung.
www.spektrum.de/video/philosophie-und-verhexte-probleme

Ein wichtiger Faktor der Verhexung besteht in dem, was man einen „frame clash“ nennt, oder eine Referenzkrise. Die „frames“ der Konfliktparteien, also die Art und Weise wie der Konflikt gesehen und „gerahmt“ wird, sind vollkommen inkompatibel. Es existieren zwei Realitäten, die sich in ALLEM widersprechen: Semantik, Grammatik, Bedeutung von Worten.
Nichts anderes ist aber „Realität“: Semantik, Grammatik, Bedeutung von Worten.

Das ist im Prinzip nichts Neues – menschliche Kulturen haben immer schon in unterschiedlichen „nützlichen Halluzinationen“ gelebt. Religionen, Kulturbilder, „Identitäten“ sind ja nichts anderes als mentale Konstruktionen, die gemeinschaftsbildenden Charakter haben. Gewalt entsteht jedoch dann, wenn die Realitäts-Konstruktionen keine gemeinsame Wirklichkeit, keinen UNIVERSALISIMUS mehr ermöglichen.

Wir kennen diese negative Verschwurbelung oder „Wahrheits-Verhexung“ von Diskussionen mit Corona-Leugnern und aggressiven Populisten. Wenn fiktionale Wirklichkeiten die Wahr-Nehmung von Menschen übernehmen, entsteht ein kognitives Universum, das dazu neigt, sich hermetisch abzuschließen – durch eine Mischung aus Paranoia und Feindbildung. WIR gegen DIE. Dabei löst sich der Begriff der Lüge in Meinung auf, und Information wird zur (Selbst-)Manipulation. Eine besondere Rolle dabei spielen die heutigen Echtzeitmedien, die erstaunlicherweise Menschen und Kulturen in der Globalisierung nicht zusammengebracht, sondern umso gründlicher gespalten haben.
Trump lässt grüßen. Putin grüßt zurück. Und die Lüge wird zur Wirklichkeit.

Normalerweise funktioniert die Welt mit dem Prinzip dynamischer Dialektik: Widersprüche lösen sich auf, indem sie auf der nächsten Ebene transformiert und „universalisiert“ werden. Wir entdecken trotz aller Unterschiede das Gemeinsame. Aus Machtprivilegien entstehen Menschenrechte. Mit Hilfe von Technologien lösen wir Knappheitsprobleme, und erzeugen Nichtnullsummenspiele (Win-Win-Konstellationen). Das ist das, was wir Fortschritt nennen.

Es ist gleichzeitig das Metaprinzip der Evolution: Integration ins Höhere. Komplexe Organismen entstammen einer endlosen Reihe von „Krisen“, in denen frühere, einfachere Organismen in Überlebensnot gerieten. Darauf reagierten sie mit Mutationen oder Adaptionen, die sie in einer veränderten Umwelt überlebensfähig machten – und Schritt für Schritt ihren Handlungsraum erweiterten. Die blühende Vielfalt eines Dschungels oder Korallenriffs ist das Ergebnis von Millionen Jahren von Differenzierung UND Kooperation. Komplexere Hirne sind fürs Überleben langfristig besser, weil sie mehr Sinneseindrücke und Informationen für Gefahrenabwehr, Nahrungssuche und Reproduktion verarbeiten können.

Verhexte Konflikte entstehen letztlich durch eine Art Zukunfts-Versagen. Die russische Gesellschaft hat ihre innere Zukunft verloren – die Vorstellung, dass etwas besser werden kann, etwas „erlöst“ wird. Dadurch fällt sie in eine verhexte Regression, deren oberster Repräsentant Putin ist. Gewalttätigkeit ist Ausdruck des Unglaubens an das Zukünftige. An das, das sich weiterentwickeln kann. Ein Rückfall in eine imaginäre Gloriosität der Vergangenheit.

Ein typisches Beispiel für ein verhextes Problem ist auch die Corona-Krise. Sie ließ sich nicht wirklich „lösen“, weil ihre Handlungsoptionen in einer Paradoxie verliefen. Was immer Staat, Gesellschaft, Individuen taten – sie MUSSTEN es falsch machen. Jede Handlung in Richtung auf Lockdowns beschädigte die Konnektivität der Gesellschaft, und jede Öffnung die Notwendigkeiten der Immunologie. Wenn der Staat eingriff, beschränkte er die Freiheit der Bürger, wenn Bürger sich verweigerten, beschädigten sie die Gesundheit der anderen. Die Medien stürzten sich gerne auf diesen Streit, verstärkten ihn genussvoll, was uns das Gefühl der Nichtlösung gab.
In Wirklichkeit haben wir das Corona-Problem sehr wohl gelöst (das Virus selbst hat mitgeholfen). Gar nicht so schlecht. So gut wir konnten, haben wir uns „hindurchgeschlichen“ – wodurch sich die Paradoxie am Ende auflöst.

Die Klima-Katastrophe ist ein ähnliches verhextes Problem. Wenn wir heute Solarzellen aufs Dach montieren oder weniger Fleisch essen, wissen wir nicht, ob das irgendetwas nutzt. Wir wissen nicht, wie die kollektiven Folgen mit den individuellen Handlungen zusammenhängen, und diese Unsicherheit erzeugt eine Art negativer Zeitschleife, in der wir uns erschöpfen. Wir verbrennen lieber das heutige Erdöl, solange es noch geht, bevor wir uns daran machen, ernsthaft unsere Energiesysteme umzustellen. So erzeugen wir selbst die Verhexung, bis wir in eine Falle aus Hysterie und Leugnung geraten.

Ein bewährtes Mittel, einem verhexten Problem auszuweichen, ist es, es auf eine andere symbolische Ebene zu verweisen – was nicht heißt, es zu lösen. Ein Raketenabwehrschirm zum Beispiel würde den Krieg zu einem numerischen Zukunfts-Spiel machen. Es ginge dann darum, wer die schnellsten Algorithmen für das Ausrechnen von Flugbahnen hätte. Ein solcher Rüstungswettlauf würde uns zwar vorübergehend beruhigen (in Ängstlichkeit ruhigstellen), aber auch vom wahren, wirklichen Problem ablenken: Wie wir ein gemeinsames „Framing“ des Zusammenlebens der Menschen entwickeln können.

Allerdings lösen sich auch verhexte Konflikte. Sie zerfallen irgendwann in ihre Einzelteile und Widersprüche, aus denen sich dann neue Zusammenhänge entwickeln. Sie verändern sich durch das Hindurchschreiten, durch den unvermeidlichen „Abrieb“ der Illusion durch die Wirklichkeit, in der eine neue Realität erscheint.
Der Weg verändert das Ziel.

Beim Lösen von verhexten Problemen kommt es darauf an, den Bunker der Konstruktionen zu verlassen, in dem wir unlösbare Problem konstruieren. Zufälle spielen dabei oft eine Rolle, sehr oft auch das Auftauchen von Menschen aus dem Zeitstrom, die die Fähigkeit haben, die Probleme umzudeuten und zu RE-framen. Einstein, Gandhi, Gorbatschow… Der einzige „wahre“ Weg, ein verhextes Problem zu lösen, ist die RE-GNOSE. Ein Re-Vision der Wirklichkeit von der Zukunft aus, bei der wir selbst uns in unseren Sichtweisen verändern.

Soweit ich es wahr-nehmen kann, sind wird dabei ganz gut unterwegs. Es entsteht derzeit auch unendlich viel Gutes. Eine Einigung Europas. Sehr viel aktive Solidarität. Eine Neubewertung unserer Fehler, etwa in der Energiepolitik. Kluge, ausdauernde Politik, in der die Sehnsucht nach Wahrheit und Universalität wieder stark und Komplexität nicht durch einfache Formeln erniedrigt wird. In der die bessere Zukunft die Rolle spielt, die sie verdient. Wir sind auf dem Weg. Danke Putin!