96 – Die-Omni-Krise

Wenn globale Krisen konvergieren, entsteht ein neues Zeitalter. Können wir das „Next Age“ vorausahnen?

Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste. Sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.
Walter Benjamin

Geht die Welt gerade wirklich unter, oder will sie uns nur etwas mitteilen?
Bernhard Pörksen

In welcher Art von Krise befinden wir uns?
Corona ist vorbei. Oder tobt gerade in China und verändert dabei die Weltwirtschaft. Millionen von Containern hängen auf den Weltmeeren fest. Produktionsketten, die uns jahrzehntelang zuverlässig Regale, Mägen und Müllkippen füllten, zerbröseln. Und nun ist auch noch Krieg, ein brutaler Eroberungskrieg – wie soll man das jemals lösen, ob mit oder ohne schwere Waffen?

Vor zwei Monaten sah es noch so aus, als ob Europa durch die Wahl in Frankreich in den Zerfall getrieben werden kann. Morgen kann KRISE schon wieder etwas anderes sein: Preisexplosionen, Inflation, Nahrungsengpässe, Verarmung, Bürgerkrieg in Amerika, Tornados in Mecklenburg-Vorpommern…
Ach ja, und dann ist da noch die Klimakrise.
Könnte es sein, dass wir nicht einfach nur in „einer Zeit vermehrter Krisen“ leben?
Sondern in EINER Krise mit verschiedenen Ausformungen?
In einer Krise des Übergangs?

Zeitschleifen

Im Gegensatz zu „poly“ oder „multi“ meint die Vorsilbe OMNI nicht einfach „mehrfach“. Sondern Zusammenhang von Vielem. Was verbindet also Corona mit dem Putin‘schen Eroberungskrieg? Scheinbar nichts. Eine Pandemie ist ein Phänomen aus der Biologie. Ein Krieg ist eine von Menschen hergestellte Grausamkeit.

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Beide Ereignisse weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf. Es handelt sich um EINBRÜCHE der Vergangenheit in unsere Gegenwart, die unseren Blick auf die Zukunft verändern.
„Es ist schwer, sich vorzustellen, dass es in der Geschichte so etwas wie rücklaufende Wellen gibt, eine gewaltsame Rückkehr von Dingen, von denen man geglaubt hat, sie wären endgültig überwunden“, schrieb der französische Philosoph Michel Maffesoli in seinem Buch „Die Zeit kehrt wieder“ (Matthes und Seits, Berlin, S.10).

Mit der Erfindung des Penicillins, der Hygiene und der modernen Medizin glaubten wir den Kampf gegen die Seuchen endgültig gewonnen zu haben. Auch der Krieg in seinen entsetzlichen Formen schien nur noch eine Erinnerung aus barbarischer Vergangenheit (die Kriege, die trotzdem stattfanden, waren weit weg; sie berührten uns nicht). National organisierte kriegerische Gewalt passte nicht mehr zu einer Welt, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann. Oder unglücklich.

Jetzt aber scheint sich alles umzukehren, was wir über die Zukunft zu wissen glaubten. “Past becomes future becomes present. Memory becomes prophecy becomes reality.” schrieb die Kolumnistin Mary Retta in WIRED.
(Die Vergangenheit wird zur Zukunft wird zur Gegenwart. Die Erinnerung wird eine Prophezeiung, die zur Wirklichkeit wird).

Das Alte kehrt wieder.
Das Vergangene hebt sein Haupt.
Wir leben in einer Zombie-Welt voller untoter Konflikte.
Alles dreht sich im Kreis.
Hinten scheint plötzlich Vorne.
Und unter uns gähnt ein Abgrund.

Metaversen oder Das Babylon-Syndrom

Eine weitere Gemeinsamkeit der gegenwärtigen Krisen hat mit unseren Wirklichkeits-Konstruktionen zu tun. Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt nannte diese „Kognitive Krise“ in einem Essay in der Zeitschrift „Atlantic“ die „Große Wirklichkeitsverwirrung“.

Screenshot: The Atlantic

Man könnte es auch das „Babylon-Syndrom“ nennen.
„Die Geschichte von Babel“, schreibt Haidt, „ist die beste Metapher für das was in Amerika in den 2010er Jahren geschah. Etwas ging schrecklich schief, sehr plötzlich. Wir sind desorientiert, unfähig, dieselbe Sprache zu sprechen oder dieselbe Wahrheit zu erkennen. Wir sind abgeschnitten voneinander und von der Vergangenheit. Babel ist eine Geschichte über die Fragmentierung von ALLEM. Es ist die Erschütterung von allem, was stabil und solide erschien, die Entzweiung von Menschen, die eine Gemeinschaft waren. Es ist eine Metapher für das, was zwischen Demokraten und Republikanern geschieht, aber auch INNERHALB der Rechten wie der Linken, und auch in den Universitäten, Unternehmen, Vereinen, Museen, sogar Familien… Nach Babel bedeutet nichts mehr irgendetwas – zumindest nichts mehr was dauerhaft ist, und über das die Menschen sich generell einig sind.“

Das Phänomen der Wirklichkeits-Spaltung verbindet Putin, Pandemie und Populismus. Die eigentliche Ungeheuerlichkeit des Ukraine-Krieges besteht ja weniger in der Gewalt (die hat sich nie wirklich aus der Welt verabschiedet). Sondern in einer Auflösung einer gemeinsamen Wirklichkeit, über die man kommunizieren, oder wenigstens verhandeln kann. Es macht schlichtweg fassungslos, dass ein ganzes Land mit großer kultureller Tradition (oder jedenfalls große Teile seiner Bevölkerung) sich in eine diktatorische Paranoia hineinlügen ließ. Dass im 21. Jahrhundert fast ein ganzes Land in die Überzeugung verfallen kann, „Russland“ befände sich in einem Abwehrkampf gegen blutrünstige Faschisten, die mit allen Mitteln, notfalls auch atomaren, „eliminiert“ werden müssen?

Das wirft monströse Fragen auf:
Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit?
Oder ist alles nur Illusion?
Sind wir nicht alle brainwashed?
Ist die Wahrheit die Erfindung eines Lügners?
Das Gefühl, nicht mehr in einem konsistenten Universum zu leben, aus der Wirklichkeit herauszufallen, ähnelt dem Verrückt-Werden.

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Alles scheint auf eine zähe, verfilzte Weise miteinander in Konflikt geraten zu sein. Wir ahnen, dass das mit unserer völlig neuen hypermedialen Umwelt zu tun hat, der unser humanoides Hirn womöglich nicht gewachsen ist. Es scheint so etwas zu geben wie ein zivilisatorisches Erschöpfungs-Syndrom.

Der Terrorismus der Aufmerksamkeiten

In „The Organized Mind: Thinking Straight in the Age of Information Overload“, beschreibt der Kognitionspsychologe Daniel Levitin das Phänomen des „cognitive overload“, der kognitiven Überforderung des vernetzten Menschen.
Jeden Tag werden wir mit Millionen Entscheidungs-Anforderungen konfrontiert. Die meisten davon erscheinen irrelevant, müssen aber dennoch „abgearbeitet“ werden. Sollen wir die Zahnpasta für besseren Schmelz oder die für blutendes Zahnfleisch kaufen? Sollen wir ein neues iPhone erwerben, den Strom-Provider ändern?
Müssen wir jetzt Klopapier bunkern? Oder Sonnenblumenöl?
Was ist die „richtige“ Kindererziehung?
Sind Männer und Freuen beliebige Kategorien?
Wer hat recht in der unentwegten Meineritis?

In der modernen Medienwelt wird unsere Welt-Wahrnehmung von einer Äußerungsform geprägt, für die Sascha Lobo das schöne Wort „Shitposting“ geprägt hat. Dabei ist nicht etwas Fäkales gemeint, sondern die Art und Weise, wie in einer hypervernetzten Welt Aufmerksamkeits-Spitzen generiert werden. „Holy shit! – hast du DAS das gesehen?“
„Geiler Scheiß“, reine Erregungs-Impuls, ersetzen die Zusammenhänge, in denen wir die Welt als Konsistenz erfahren können.
Sascha Lobo bezeichnet die dazugehörige mediale Diskurs-Form als IRRITAINMENT.
Alles Schrille ist interessant.
Alles Absonderliche wird in einer Echokammer verstärkt.
Jede Talkshow wird zur Freakshow.
Das Extreme wird angeklickt.
Blödsinn häuft sich auf Blödsinn.
Befürchtung stapelt sich auf Befürchtung.
Streit wird zum Wahrnehmungsschlüssel.
Die Hysterie wuchert.
Und übernimmt die Realität.

Wir haben trotz der erstaunlichen Eigenschaften unseres Hirns eine limitierte neuronale Kapazität. Zwar können wir sehr viele Informationen aufnehmen und speichern – sinnliche Inputs, Bilder, „Eindrücke“, Gedächtnisinhalte von vielen Terabyte. Aber die AUFNAHME-Kapazität, mit der wir diese Informationen zum DENKEN verdichten, ist erstaunlich gering. Um eine Person zu verstehen, benötigen wir eine Verarbeitungsgeschwindigkeit zwischen 60 und 120 Bits pro Sekunde. Wir können kaum zwei Leute verstehen, die gleichzeitig reden. Wir können uns nur schwer auf mehr als einen Informationsstrom konzentrieren (mentales „Multitasking“ ist eine Illusion). In der informellen Überfülle der Internet-Welt entsteht so eine Art Überdruck in unserem Hirn, der sich leicht zu kognitiven Verwirrungen aufschaukelt. Und aufgrund der sozialen Struktur des Menschen auch noch ansteckend wirkt.

Johann Hari nennt in seinem Buch „Stolen Focus“ sechs Gründe, warum wir kaum noch klar denken und sinnvolle Entscheidungen können:

  • Die Geschwindigkeits-Zunahme von Aufmerksamkeitswechseln.
  • Die Verkrüppelung unserer Flow-Zustände, in dem wir uns auf etwas Bestimmtes konzentrieren – und dabei wirkend mit der Welt in Verbindung treten (Wirklichkeit = die Realität, in der wir wirken können).
  • Den Anstieg physischer und mentaler Erschöpfung.
  • Den Kollaps des Lesens linearer Texte.
  • Die Disruption von „Mind-Wandering“, jenes freien Assoziierens, in dem unser Hirn sich neu vernetzt.
  • Die rapide Ausbreitung von Technologie, die uns tracken und manipulieren kann.

Die Omnikrise ist über weite Strecken eine BEDEUTUNGS-Krise. Sie handelt vom Zerfall mentaler Bezüge, in denen sich menschliche Kultur vermitteln kann. Daraus entsteht auch die Krise der Demokratie, die ja nichts anderes ist als eine Vermittlungstechnik menschlicher Interessen. (Vermittlung braucht Langsamkeit, Be-Denken, Institution und Intuition). Die Strategien der bösartig- populistischen Mobilisierung zielen auf die innere Erschöpfung der Menschen in einer „babylonischen“ Welt. Donald Trump betreibt politisches Irritainment par excellence. Autokraten nutzen diese zivilisatorische Erschöpfung geschickt für ihre despotischen Zwecke.

Hannah Arendt formulierte schon vor einem halben Jahrhundert:

„Es entsteht erst ein Meinungschaos, das sich fern aller Vernunft unter dem Druck eines außerordentlichen Notstands in eine Reihe miteinander in bitterster Feindschaft stehender Massenhysterie kristallisiert, die alle nur auf den „starken Mann“ warten, der sie endlich erlösen wird., indem er aus ihren Elementen über Nacht jene nicht minder hysterische einstimmige Meinung fabriziert, die der Tod aller Meinungen ist.“
Hannah Arendt, Über die Revolution

Psychohistorik oder das Spiral-Dynamik-Modell

Es lohnt sich, in dieser Situation auf ein holistisches Zukunfts-Modell zurückzugreifen, das von dem amerikanischen Entwicklungspsychologen Clare Graves schon in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurde. „Spiral Dynamics” (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Rückengymnastik) ist ein „soziopsychisches” Stufen-Modell, in dem sich Individuen/Gruppen/Organisationen/Gesellschaften von Stufe zu Stufe in höhere Komplexität evolutionieren.

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Dabei wachsen die BEZÜGE, in denen Menschen denken und agieren, in einen immer höheren Radius hinein – vom Clan / der tribalen Kleingruppe, über den Stamm bis zum Nationalstaat, schließlich hin zum „Weltbewohner“ (Earthling) oder Kosmopoliten.

Die Grundfigur dieses Welt-Modells ist die nach oben offene Spirale. Die einzelnen Stufen der Human-Entwicklung pendeln zwischen dem ICH und dem WIR, den beiden Grundpolen der menschlichen Existenz. Dabei werden von Stufe zu Stufe die inneren Konstruktionen, die mindsets, den äußeren Verhältnissen angepasst – in immer neue Integrationen von Welt und MIND.
Übergänge von Epochen und Zivilisationsformen finden, wenn diese Integrationen im Sinne erhöhter Komplexität gelingen.
„Omnikrisen“ finden statt, wenn zwischen den Ebenen Brüche/Regressionen entstehen.

Die jeweiligen Phasen lassen sich mit Farbcodes zusammenfassen:

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Beige: Der Urzustand des Überlebens: Kindlichkeit, Bedürftigkeit.
Purpur: Magie, die Verbündung mit magischen Kräften, Naturglaube, Religion.
Rot: Macht, Aggression, Dominanz, Kampf.
Blau: Ordnung, Organisation, Hierarchie.
Orange: Leistung, Meritokratie, Vermehrung, Logik.
Grün: Gemeinschaft, Naturverbundenheit, Solidarität
Gelb: Konnektivität, Komplexität, Ambiguität, Systemdenken.
Türkis: Spirituelle Einheit, Verbindung von Allem, Planetares Bewusstsein.

Diese SUPER-MEME sind aber keine Anleitungen für Supermenschen, Sie bilden lediglich Repräsentationen ab, in denen Menschen ihr Denken, Fühlen und Handeln neu konfigurieren. Das Modell funktioniert nonlinear: Ältere MEME kehren immer wieder zurück – sie bleiben TEIL unseres inneren Kosmos, auch in jedem Individuum. Gesellschaftlicher Wandel, oder „Fortschritt”, gelingt immer dann, wenn sich ein „Future Mind“ bildet – eine geistige Strömung, die den dominierenden mindset in Richtung einer gemeinsamen Zukunftsvision verändert.

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Die Zukunft als Narrativ

Wie enden Krisen, Omnikrisen, Lebenskrisen?
Sie „enden“ gar nicht. Sie lösen sich aber irgendwann auf, wenn ein neues magisches Narrativ entsteht. Eine Erzählung, in der sich die Paradoxien der Gegenwart „aus der Zukunft heraus“ zu neuen Möglichkeiten fügen.

Früher hatten diese Aufgabe die Religionen. Eine Zeitlang waren es politische Ideologien, die aber in schrecklichen Verheerungen enden konnten. Die industrielle Konsum-Gesellschaft erzeugte in den letzten 50 Jahren ein breites Narrativ des „Wohlstands durch Fortschritt“, das heute deutlich an seine Grenzen gekommen ist.
Das Tragische an der Entwicklung Russlands ist, dass es dieser Kultur, nie gelang, eine stimmige Zukunfts-Erzählung zu entwickeln. Die russischen Narrative basieren auf den Unterdrückungen, Illusionen, Demütigungen, den Traumata und Kränkungen der Vergangenheit.

Siehe das Buch „Die Macht der Kränkung“, von Reinhard Haller. Hier wird geschildert, wie Kränkungen in Gesellschaften, Kulturen, Individuen als pathogene Keime der Gewalt wirken. Kein Verbrechen (mit wenigen Ausnahmen), das nicht einen Kränkungs-Hintergrund hätte.

So brechen Gewaltpotentiale auf, die ihre eigenen Halluzinationen schaffen.
Das Tragische an unseren Konsumkulturen hingegen ist, dass sie immer noch glauben, durch ein ewiges MEHR, eine unablässige lineare Steigerung, vorankommen zu können. Die damit verbundene Frustration treibt uns in eine babylonische Schwäche. Und viele Menschen in Wut und Verzweiflung.

Welches Narrativ könnte uns aus den Krisen der Gegenwart einen Weg in die Zukunft weisen?
Eine solche Zukunfts-Erzählung, die die Paradoxien auf höherer Ebene erlöst, steht wie ein Elefant mitten im Raum der Möglichkeiten. Es ist das, was wir als „postfossilen Übergang“ oder „Dekarbonisierung“ bezeichnen. Oder etwas verschüchtert als „ökologische Wende“.

Das Problem an diesem Narrativ ist jedoch, dass es immer noch als eine Vermeidungs-Erzählung begriffen wird. Im ökologischen MEM geht es sehr viel um Angst; es findet sich wenig Lustvolles, Attraktives, im eigentlichen Sinne Zukunftsweisendes. Die Dekarbonisierung wird als eine Veränderung begriffen, die wir „leider“ machen müssen, um „das Schlimmste“ zu verhindern. Die alleinige Drohung mit der Katastrophe kann jedoch niemals echte Wandlungkräfte freisetzen. Sie führt nur zu sinnlosem Streit, Schuldzuweisungen und apokalyptischem Zynismus.

Eine echte Zukunfts-Erzählung benötigt, was Aristoteles als Pathos, Eros und Logos bezeichnete (die Grundpfeiler der Rhetorik). Ein Faszinosum, eine Energie, die nicht nur Verstand und Angst-Vernunft anspricht, sondern auch die visionäre Sehnsucht in uns allen.

Die Vision einer BLAUEN Transformation – Blau steht für Wasserstoff, Technologie, die Atmosphäre der Erde, die Hoffnung selbst – könnte der ökologischen Wende eine entscheidende Kraft verleihen. Eine „blaue” Vision würde nicht nur unser Energie- und Produktionssystem umfassen. Ihr Ziel wäre nicht primär die „Nachhaltigkeit” – ein steifes Wort für Stagnation. Sondern eine neue gesellschaftliche Dynamik, die auch unsere Wünsche, Träume, Freiheiten, Schönheiten einbezieht. Es geht um die die Hinwendung zu einem neuen Wohlstandsbegriff entlang der Frage, wie wir zusammen besser leben, lieben und arbeiten können.

Wolf Lotter, der Zusammenhangsdenker, formulierte:
„Klimapolitik ist, richtig verstanden, eben genau das, was ohnehin in der Transformation von der Industrie- in die Wissensgesellschaft gemacht werden muss: neue Arbeit, neue Organisationen, Ablösung der Routinen, eine andere Führung und Selbstführung. Mehr selbst gut machen statt bloß gut finden. Aufklärung statt Apokalypse. Ändern statt Angst haben.“

“Nature is a self-regulating ecosystem of awareness.” formulierte Charles Darwin.
Von der Zukunft aus gesehen wird die heutige Omnikrise als Zeichen eines zivilisatorischen Übergangs erscheinen, der das alte Modell des fossilen Fortschritts beendete. Putins Krieg könnte sich als der letzten „fossile“ Krieg erweisen. Das NEUE NORMAL entsteht aus dem Durchbruch der ökologischen Frage zur Welt-Bewegung. Was könnte für den neuen Frieden, die „Völkerverständigung“, die nun notwendig ist, besser geeignet sein als die Integration von Ökonomie und Ökologie, von Biosphäre, Technosphäre und Humanosphäre?

Multiverse statt Metaverse

Im neuen Fantasy-Film „Dr. Strange and the Multiverse of Madness“ kämpft unser wackerer Benedict Cumberbatch gegen Monstren aus diversen Parallelwelten, die unserem wirren Gegenwarts-Universum ähneln. Die Transitionen zwischen den Universen funktionieren nur durch persönliche Katharsis. In einem weiteren aktuellen Multiversum-Film, „Everthing Everywhere All at Once“, (Alles überall zugleich) gerät eine ganz normale Waschsalonbesitzerin (Mittelschicht, kleines Unternehmertum) in einen Zeitstrudel, in dem sie mit den unzähligen Möglichkeiten ihres Lebens konfrontiert wird. Alles kollabiert gleichzeitig – die Ehe, die Tochter, das Geschäftsmodell. Omnikrise total.
Der Film hat einen positiven Schluss. Die Protagonistin entscheidet sich für die konstruktive Hingabe zum Chaos der Welt. Für die Liebe zu sich selbst und zu anderen. Aus den Myriaden von Möglichkeiten formt sich auf diese Weise wieder eine konsistente Wirklichkeit.

Die schwarze afrikanische Science-Fiction-Autorin Octavia Butler wurde einmal gefragt, wie man das Elend, das Leiden auf der Welt überwinden kann.
„Es gibt keine Antwort“, sagte Butler.
„Also sind wir verloren! Doomed!”“
„Nein. Es gibt keine Antwort, die ALLE unsere Zukunfts-Probleme lösen wird. Es gibt keine magische Kugel. Es gibt vielmehr tausende von Antworten. Du kannst eine von ihnen sein, wenn Du dich dafür entscheidest!“
Entscheiden wir uns. Hören wir auf, zu jammern und uns zu fürchten. Verbünden wir uns mit der Wahrheit der Zukunft.
Es lohnt sich.


Nachwort: Eine kleine Kriseologie

„Veränderung entsteht nicht durch Wandel, sondern Wandel entsteht durch Veränderung“, formulierte der Soziologe Armin Nassehi. In diesem seltsamen Satz steckt eine nüchterne Erkenntnis: Alle „Change“-Parolen, die man in Unternehmen oder politischen Parteien oder öffentlichen Diskursen seit vielen Jahren hört, sind in Wahrheit Schall und Rauch. Individuen, Systeme, Unternehmen, Gesellschaften, ändern sich kaum, wenn alles komfortabel ist. Wandel geschieht eher, wenn wir auf äußere Veränderungen reagieren – sprich: auf Krisen eine Antwort finden.

Der Philosoph Leibnitz sprach von der „Prä-Stabilisierung“ der Welt, die sich durch die menschliche Vernunft und den Willen immer mehr den Verhältnissen annähert, die Gott „vorgesehen“ hat (die Vorsehung eben). Aber so ist es eben nicht. Sondern umgekehrt. Durch Re-Stabilisierung, durch Reaktion, nicht durch Planung, Strategie und gute Vorsätze entstehen die neuen Verhältnisse.
Das zu erkennen, ist frustrierend, weil es unser grandioses Selbstbild stört, immer „alles im Griff“ zu haben. Doch die menschliche Grundkompetenz ist nicht stetiger Wandel, sondern ADAPTION (Was nicht heißt, dass nicht auch in der Adaption Kreatives geschehen kann und muss).

Eine Krise wird zum Wandel, wenn wir die Angst vor dem Selbstwandel überwinden.
Wenn wir endlich aufhören, zu jammern und uns ständig darüber zu beschweren, was die Welt und zumutet.
Eine Krise wird zum Wandel, wenn wir unsere Resilienz zu würdigen wissen. Der heroische Widerstand der Ukrainer zeigt, wie Menschen auch in schrecklichen Situationen zu erstaunlichen Wandlungen fähig sind. Schon die Corona-Krise hat uns Ähnliches gelehrt (wenn wir ihr richtig zuhören).

Der Krieg könnte sogar zu mehr Frieden führen. So paradox das klingt. Es waren oft grausame, unsinnige Kriege, die Imperien beendeten, aus denen neue Ordnungen entstanden, die eine Phase des Friedens brachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die heutigen globalen Organisationen wie die UNO, deren Rolle und Funktion durch den Ukraine-Konflikt am Ende gestärkt werden könnte. Dieser Konflikt kann nicht unterhalb der Ebene der Weltgemeinschaft gelöst werden, siehe auch das Buch von Christopher Blattmann: Why we fight – The Roots of War and the Paths to Peace.

Eine Krise wird zum Wandel, wenn sie uns hilft, uns von Illusionen zu verabschieden. Eine Illusion, die sich derzeit still verabschiedet, ist der Glaube, dass man einfach ALLES mit „Digitalisierung“ lösen kann. Aber weder Krieg noch Corona funktionieren so. Der Hyperdigitalismus hat uns eher in einen Darwinistischen Illusions-Kapitalismus geführt, in der neue Monopolisten und jede Menge toxischer Geschäftsmodelle entstanden sind. In der nächsten Schleife wird sich das Digitale mit dem Analogen zu einem neuen HUMAN-DIGITAL verbinden müssen.