99-einhalb – Über den Streit

Warum unsere Zukunft davon abhängt, wie wir im Argument zueinanderfinden

In meiner Jugend wollten wir als rebellische Minderheit superkritisch sein. Mit den Eltern, den „Verhältnissen“, dem Staat. Wir wollten protestieren, provozieren gegen „die da Oben“! Schuld an Allem war immer „das System“ oder „die Gesellschaft“. Man war immer auf der richtigen Seite, wenn man grundsätzlich DAGEGEN war.

Irgendwann habe ich erschreckt festgestellt, dass das DAGEGENSEIN zur neuen Mehrheitsmeinung geworden war. Zu einer Art neuem Spießertum. Bürgerinitiativen waren plötzlich nur noch GEGEN, nie mehr FÜR etwas. Gegen „die Idioten da oben“ zu schimpfen, geriet zu einer Art Massen-Epidemie, die allzu leicht in dunkles Grölen umkippte.

Ich erinnere mich an das schöne Wort „Streitkultur“. Der Begriff hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich wie Querdenken. Querdenker waren früher Menschen, die sich bemühten, die Dinge neu im Sinne der Zukunft zusammenzufügen. Das ist lange vorbei. Heute sind Querdenker Leute, die vor allem wütend sein und provozieren wollen. Und dabei ist ihnen jeder Unsinn recht.

Wie hieß das so schön? Streitkultur ist das lebendige Wesen der Demokratie. Und deshalb müssen kontroverse Meinungen ständig heftig aufeinanderprallen, damit bessere Lösungen entstehen …
Wirklich?
Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher.

Etwa, wenn ich das Fernsehen einschalte, und deutsche Politik-Debatten verfolge.
Kennen Sie das? Den Plasberg-Kater? Die Anne-Will-Depression? Die Maischberger-Erschöpfung? Den Illner-Überdruss? Alles dreht sich im Kreis, alle sagen unentwegt das Gegenteil, und doch immerzu das Gleiche.
Aber nichts ist wirklich neu. Selten weist etwas nach vorne, in die Lösung hinein.
In einer verdrucksten Weise versucht man, dem Anderen eins auszuwischen. Bis alles in einem zähen Morast moralischer Vorwürfe und verstärkter Unmöglichkeiten steckenbleibt.

Es ist interessant, die Wandlungen unserer öffentlichen Streitkultur nachzuverfolgen. Wenn man sich alte, verqualmte Talkshows aus den 70er und 80er Jahren anschaut, wirkt alles irgendwie steif und langsam. Aber da ist auch – meistens – ein Gefühl von Höflichkeit und Respekt. Ja sogar Neugier auf die Argumente des Anderen. Von gedanklicher Kooperation. Man bezieht sich aufeinander, auch wenn man streitet.

In den 80er und 90er Jahren bekamen Talkshows manchmal sogar etwas Zauberhaftes. Nicht nur, wenn Nina-Hagen den G-Punkt vor laufender Kamera zeigte. In manchen Talkshows konnte man richtig staunen: über neue Gedanken, überraschende Gefühle. Manchmal leuchtete sogar etwas Utopisches durch. Streit war ein Abtasten des Möglichen.
Und man konnte lachen. Über sich und andere, und wie man sich selbst sah.

Seit das Internet den medialen Takt angibt, wurden politische Talkshows auf professionelle Weise ritualisiert. Im Studio werden die sorgfältig ausgewählten Teilnehmer wie in einer Art Löwenkäfig als Kombattanten drapiert. Dann werden sie von den ModeratorInnen dompteurmäßig aufeinander losgelassen:
Sind hier nicht schwerste Ungerechtigkeiten zu befürchten …?
Glauben Sie wirklich, dass …?
Aber müssen wir nicht Angst haben, dass …?

Die ModeratorInnen beharren solange auf dem Furchtbaren, Ungerechten und ganz Skandalösen, bis jeder Ansatz konstruktiver Ideen gewichen ist.

Politische Interviews ähneln immer mehr Verhören, in denen Politiker von den Journalisten mit Fragen am Rand der Unverschämtheit traktiert werden. Es geht vor allem darum, jenen „Sager“ zu generieren, mit dem sich ein dauerhafter Shitstorm lostreten lässt. Es geht darum, einen Konflikt loszutreten, mit dem man dann wieder die nächste Talkshow bestreiten kann …

Vor ungefähr sechs Jahren, Mitte der 10er Jahre, als der Trend zur Polarisierung und Polemisierung richtig losging, habe ich mir einmal die Mühe gemacht, die Titel der größten deutschen Talkshows mit den Titelthemen der rechtsradikalen Zeitschrift „Compact – Magazin für Souveränität“ zu vergleichen. Raten Sie mal, welche Überschrift von welchem Medium stammt:

  1. „Wie politisch ist die Sprache? Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“
  2. „Wozu brauchen wir noch ARD und ZDF?“
  3. „Lachnummer SPD: Von der Volkspartei zur Kasperlebude.“
  4. „Mächtig ohnmächtig? Wie geschwächt ist Angela Merkel?“
  5. „Trump oder Putin – Vor wem müssen wir mehr Angst haben?“
  6. „Bildungsmisere – Wollt ihr die totale Einheitsschule?“
  7. „Kampfzone Klassenzimmer“
  8. „Kalifat BRD – Feindliche Übernahme durch Erdogan und Co?“
  9. „Islam ausgrenzen, Muslime integrieren – kann das funktionieren?“
  10. „Chaos beim Asyl: Warum hat der Staat versagt?“ – Marietta Slomka

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In diesen Formulierungen liegt bereits die Rhetorik des Populismus. Alles wird zugespitzt. Von vorne herein negativiert. Unmöglich gemacht.
Könnte es sein, dass unser mediales System den Populismus geradezu gezüchtet hat – im vermeintlichen Geiste des Kritischen?
Könnte es sein, dass es so etwas wie Polarisierungsunternehmer (Steffen Mau in der ZEIT) gibt, die aus unterschiedlichen Perspektiven – politischen, ökonomischen, aufmerksamkeitsheischenden – Ängste und Übertreibungen regelrecht bewirtschaften?

Was sich in der heutigen „Streitkultur“ auch zeigt, ist die Verwandlung des Bürgers zum Konsumenten, zum „Verbraucher“. Das Reklamationsdenken durchzieht viele gesellschaftliche Debatten. Wir fordern von der Politik, von „denen da oben“ mehr Sonderangebote, garantierte Dienstleistungen, sofortige Perfektion! Wenn nicht, werden wir sehr, sehr wütend!

(Siehe hierzu das interessante Buch: “CITIZENS – Why the key to fixing everything is all of us”, Jon Alexander and Ariane Conrad, leider nur auf Englisch)

Wie schrieb Bernd Ulrich in der ZEIT so schön?

„Genuss ist die letzte Instanz.
Verwöhntheit der Lebensmodus.
Quengelei ein legitimes Stilmittel.
Wut die latente Drohung.”

Die Semantik des Streits

Es gibt drei Arten von Streit:
– kindischen Streit,
– bösartigen Streit
– konstruktiven Streit
Und manchmal sogar: wunderbaren Streit.

Kindischer Streit ist der Streit um Nichts. Wenn Kinder sich gegenseitig Sand in die Augen schmeißen und dabei brüllen: „Du hast angefangen!“. Das erinnert an den Streit um die Gender-Sprache, oder „Darf man Winnetou verbieten?“. Das, worum gestritten wird, hat eigentlich keine Substanz. Aber es ist hochsymbolisch und wird zu einem Weltdeutungskrieg aufgebläht.

Bösartiger Streit nutzt die Trigger-Punkte, die sich im Meinungskrieg zeigen, um Keile in das Denken hineinzutreiben. Es geht um Umdeutung. Die Leute sollen so verzweifelt und verwirrt werden, dass sie jede Übersicht über die Zusammenhänge verlieren. Aus Faschismus wird so irgendwann Freiheit. Aus Unterdrückung Befreiung. Aus Demokraten, die die Verfassung schützen, werden „Feinde der Demokratie“, aus Wahrheiten „Fake News“ (die Trump-Putin-Methode; drehe einfach alles um, was einem selbst zu Recht vorgeworfen wird!).
Wer die Begriffe umdrehen kann, hat den Kognitiven Krieg gewonnen. Deshalb hat es keinen Sinn, mit bösartigen Populisten zu streiten.

Konstruktiver Streit ist hingegen immer verletzlicher Streit.
Konstruktiver Streit geht davon aus, dass es keine feststehenden Wahrheiten gibt. Dass die Wahr-Nehmungen, die wir von der Welt haben, ebenso im Fluss sind wie die Welt selbst. Deshalb sind wir auf ANDERE angewiesen, um unsere Anschauungen zu erweitern, unsere Differenzen zu differenzieren – und die Komplexität der Welt zu verstehen.

In einem konstruktiven Streit befragt sich jeder Teilnehmer beim Sprechen auch selbst: Kann man das nicht auch anders sehen? Der Streit hat nicht das Ziel, den anderen zu widerlegen, sondern mit ihm in eine Art Tanz einzutreten. Etwa so: „Ich finde, Sie benennen da einen wichtigen und richtigen Punkt. Ich möchte noch hinzufügen, dass… und daraus könnte man einen neuen Gedanken entwickeln, der …“

The test of a first-rate intelligence is the ability to hold two opposed ideas in the mind at the same time, and still retain the ability to function.
F. Scott Fitzgerald (1896 – 1940)
Ein Zeichen von Intelligenz ist es, zwei sich widersprechende Gedanken gleichzeitig im Kopf zu haben, und dabei funktionsfähig zu bleiben.

Um konstruktiv zu streiten, ist es wichtig, den Unterschied zwischen „Meinung“ und „Argument“ zu verstehen. Meinungen basieren überwiegend auf Affekten; sie werden „rausgehauen“ als Urteile, die man durchsetzen will, weil man wahrgenommen werden will. Meinungskriege sind prinzipiell narzisstisch. Argumente hingegen sind ergänzende ASPEKTE eines größeren Ganzen, das gemeinsam zu erforschen ist. Die Wurzel des Begriffs Argument liegt in argu „weiß sein, glänzen“, oder auch „Erhellung, wahrhafte Klärung“.

Licht in die Dinge bringen. Nicht Dunkelheit.
Dazu braucht es Feingefühl. Sorgfalt der Worte. Und vor allem: Beziehung untereinander.
Wenn all das gelingt, leuchtet manchmal durch den Streit das Licht der Zukunft. Wenn die Dinge sich auf überraschende Weise neu zusammenfügen, entsteht Lösung. Der Beginn der Lösung ist immer das Loslassen von verkrampften Gedanken. Von Konstrukten, die die Welt auf irgendein Prinzip reduziert, in das sie nicht reinpasst.

Zusammendenken oder Die letzte Provokation

Vielleicht müssen wir erst einmal aus dem Streitzirkus aussteigen.
Ich gehe nur noch zu Diskussionen, in denen über LÖSUNGEN gesprochen wird. Ich schalte sofort den Ton aus, wenn in einer Talkshow das übliche MIMIMI aufkommt. Ich habe schon vor Jahren die „sozialen Medien“ verlassen.

Ich höre auf, Texte zu lesen, in denen nur noch mit Schreckensworten operiert wird. Abstiegsangst, Wohlstandsverlust, Gasnotstand… Heute ist die Angstmache überall, auch auf dem Titelbild des SPIEGEL.

Die letzte Provokation, (provocare, lat. hervorrufen, herbeirufen), die uns in dieser Situation übrigbleibt, ist womöglich, etwas GUT zu finden.
Ich finde die Bemühungen der Regierung gut, unser Land durch die Krise(n) zu manövrieren. Dabei gibt es keine von vornherein „richtigen“ Maßnahmen. Echte Krisen erfordern immer ein Abwägen in Paradoxien, ein Navigieren im Ungewissen. Fehler werden gemacht, weil die Situation sehr komplex ist, nicht weil die Politiker „unfähig“ sind.

Ich finde Europa gut. Auch wenn ich nicht ALLES, was in Brüssel beschlossen wird, gutheißen muss (ich WEISS ja auch gar nicht alles, und WILL auch gar nicht alles wissen). Ohne Europa wären wir ziemlich aufgeschmissen, besonders jetzt.

Ich finde, dass es in allen Parteien, CDU und SPD und Liberalen und Grünen, sogar bei den Linken, gute Ideen und wunderbar engagierte Menschen gibt. Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, diese Ideen quer zu den alten Lagern zu realisieren. Vielleicht müssen wir uns endlich von diesen Links-Rechts-Rastern verabschieden, die Politik immer zu einer Art Kabuki-Theater machen (Kabuki ist ein altes hochritualisiertes Tanzspiel in Japan).

Ist das nicht das Experiment der Ampel-Koalition – die Aspekte des Politischen zusammenbringen? Ich finde, das verdient Kredit.

In einer komplexen Welt ist das Dagegen-Denken reaktionär. Wenn die Dinge auseinanderzufallen drohen, brauchen wir umso mehr einen Denkstil des Zusammendenkens.
Es geht darum, sich vom Entweder-Oder zu befreien.
Staat ODER Gesellschaft.
Wirtschaft ODER Ökologie.
Ich ODER wir.
Da ist zum Beispiel der dumme Streit um den „Verzicht“. Worum geht es dabei eigentlich? Man darf nichts „verbieten“, also darf jeder Fleisch Essen, SUV-fahren, frauenverachtende Lieder singen wie er will. Na gut. Aber es geht ja eigentlich gar nicht um Verbote. Erfahren wir nicht alle in unserem Leben, dass Verzicht auch oft eine positive Gegenseite hat – nämlich den Genuss? Wenn man auf das Rauchen verzichtet, kann man endlich wieder frei atmen. Wenn man weniger Fleisch ist, schmeckt alles viel besser. Warum also den Verzicht gegen die Freiheit auszuspielen, statt die Räume für konstruktiven Verzicht auszudehnen, mit denen es uns allen besser gehen kann?

Oder die Debatte „Waffen ODER Verhandlungen“? Soll man der Ukraine Waffen liefern oder Friedensverhandlungen versuchen? BEIDES ist notwendig. Diplomatie braucht allerdings Diskretion, und zum Verhandeln braucht man eine Verhandlungs-Position.
So einfach ist es, wenn man es zusammenbringt … statt es zu spalten.

Guter Streit soll, kann und muss uns klüger machen in Bezug auf unsere eigenen blind spots. Unsere Konstrukte, mit denen wir die Welt (und uns selbst) in Schubladen zu stecken versuchen. Auf der Website CHANGE MY VIEW kann man lernen, seine felsenfesten Sichtweisen, Ansichten, Gewissheiten zu verändern. Mit Hilfe von erfahrenen Moderatoren.

Sind – zum Beispiel – folgende Annahmen „wahr“ oder „richtig“?

  • Wir leben nicht in einer Simulation.
  • Ich will zu meinem Kind nicht über den Weihnachtsmann lügen.
  • Zoos sind unmoralisch.
  • Cannabis sollte legalisiert werden.
  • Digitalisierung ist prinzipiell gut.
  • Die Gesellschaft ist gespalten!

Versuchen Sie es einmal, Ihre Dogmen zu kitzeln. Im Hinterfragen lernen wir viel über die wahre Komplexität der Welt. Und etwas darüber, wie wahres Streiten – auch mit sich selbst – uns vorwärtsbringt. In die wahre Zukunft.