126 – Die Technodizee
Wie digitale Technologie zur neuen Religion wurde – und warum das Analoge immer wiederkehrt.
Theodizee: [teodiˈʦeː] von altgriechisch θεός theós ‚Gott‘ und δίκη díkē ‚Gerechtigkeit‘) – „Rechtfertigung Gottes“: Die Prüfung der Frage, wie das Leiden in der Welt mit der Annahme zu vereinbaren sei, dass ein Gott sowohl allmächtig, allwissend als auch gut sei. Bezweifelung Gottes durch Realitätsvergleich.
Technodizee: Die Prüfung der Frage, ob und wie Technologie uns wirklich von allen Übeln der Welt erlösen kann.
“When you invent the ship, you [also] invent the shipwreck.”
Paul Virilio
Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und fünf Jahre vor meiner Geburt erfand mein Vater den ersten vollautomatischen Haushalt Deutschlands. Im vierten Stock eines Trümmerhauses in Berlin, von dem eine Fassadenseite von Bomben weggerissen war. Im anderen Teil wohnten – frisch verheiratet – meine Eltern. In einer kleinen Dreizimmerwohnung entstand dort ein Smart Home der ersten Stunde. Unter dem Titel: „Er lebt wie der letzte Mensch” heißt es in der Frauenzeitschrift Constanze vom 4. Juni 1950: „Eine Treppe hoch, dann steht man in einer großen Mansarde in einem Gewirr elektrischer Drähte und Geräte, gewärtig, mit 220 Volt hingerichtet zu werden. Wer kennt sich als normaler Sterblicher in diesem Gestrüpp elektrischer Drähte aus? 800 Meter hat der junge Mann im Laufe eines Jahres hier eingebaut, 48 Kontrollanzeigen verwirren den Außenstehenden, 200 Dübel stecken in den Wänden und halten die vielen Lampen, den Zeichentisch, den Spiegel. ‚Keine Sorge‘ lacht der junge Mann. ‚Das ist alles gut gesichert…. Hier unterm Dach wohnen fünf Parteien. Ich mag niemanden unnötig stören. Außerdem muss ich Zeit sparen. Bei mir funktioniert alles selbsttätig. Früh um 6.30 Uhr schaltet sich der Kocher ein, auf dem Kaffee und Rasierwasser stehen. 6.33 folgt das Radio, 6.36 treten meine Ventilatoren in Tätigkeit und ermuntern mich mit sanftem Morgenwind. 6.37 ertönt ein kräftiger Summerton, den ich vom Bett nicht ausschalten kann. Bevor ich zur Universität gehe, stelle ich das Suppenkochgerät ein und setze mein Mittagsbrot darauf: Kennen Sie den Schlager ‚Meine Klingel ist kaputt?‘ Bei mir nie! Wenn hier die rote Birne aufleuchtet, weiß ich, dass der Briefträger Post durchgeworfen hat. Blaue Lampe heißt: ‚Toilette besetzt‘ – die ist im Zwischenstock drei Stockwerke tiefer. Bei Grün liegt Stromstörung vor, dann schaltet sich alles auf Batterie um.’”
Werners elektrisches Gehirn erspart ihm die Frau im Hause. Er ist mit der Elektrizität verheiratet. „Der ganze Klumpatsch verbraucht höchstens 2 Mark mehr Strom als sonst.”
Die „ersparte Frau” lebte tatsächlich mit in der Wohnung. Meine Mutter, so geht die Familienlegende, fand das ganze „Elektrik-Gelump” (Sächsisch) nicht so gut. Zitat meiner sächsischen Großmutter (in waschechtem Sächsisch): „Anita hatte immer Angst, einen elektrischen Schlag zu bekommen, wenn sie sich aufs Sofa setzte. Und der Werner fummelte ja den ganzen Tag nur mit den Drähten rum.”
Mein Vater Werner Horx war ein Ingenieur, der als junger Soldat in den Krieg zog. Im Februar 1945 kam er als Leutnant der Wehrmacht in zerlumpten Kleidern nach Hause, in eine Kleinstadt in der Nähe von Dresden. Dort lagen seine Eltern tot unter den Trümmern ihres Hauses, das am Tag vor seiner Ankunft von einer Fliegerbombe getroffen worden war, beim letzten Angriff der englischen Luftwaffe. Im besonders kalten Kriegswinter 1944/1945 war die Stadtverwaltung weitgehend zusammengebrochen, Begräbnisse fanden nicht mehr statt. Mein Vater grub im steinhart gefrorenen Waldboden selbst ein Grab für seine Eltern.
Mein Vater hatte einen echten Weltuntergang erlebt.
Er war kein fanatischer Nazi. Aber ein begeisterter Jungvolkführer. Und ein fescher Unteroffizier. Von seiner Zeit in Rommels Afrikafeldzug erzählte er gerne. Wie seine Truppe in der glühenden Sonne Spiegeleier auf den Panzerrohren briet. Und mit den „Tommys” zu Weihnachten Fußball in der Wüste spielte … Das waren die Geschichten, die man erzählen konnte.
Später im Krieg verlieren sich seine Spuren in den Rückzügen der deutschen Armee im Osten.
Davon erzählte er kein Wort.
Noch später wählte er Helmut Schmidt.
In den Sechzigern konstruierte mein Vater gigantische Eisenbahnanlagen auf dem Dachboden. Mit Schaltpulten, die so schwer waren, dass vier Möbelpacker sie kaum tragen konnten. Vollgestopft mit Relais, Transformatoren und Kabelbäumen, übersät mit blinkenden Lämpchen, erinnerten sie an die Kommandopulte von Raumschiffen. An den Wochenenden zog er sich in den Keller zurück, wo er stundenlang bastelte. Für mich war das ein Paradies. Der Geruch von heißem Lötzinn als halluzinogene Duftmischung. Dort unten, im Reich von Lötkolben, Sägen und Schraubzwingen, konnte man die Welt immer neu in Ordnung bringen.
Es war ein sehr entschlossener Kontrollversuch. Wenn die Eisenbahn fuhr, lief alles vollautomatisch, und wenn mein Vater das Licht ausschaltete, sah man die Lichter der Lokomotiven unendliche Kreise ziehen, wie Glühwürmchenschwärme. Mein Vater saß an seinem Schaltpult und regelte. Ich durfte mit der Zugpfeife pfeifen, wenn die Züge in die Tunnel aus Pappmaschee einfuhren. Ich hatte eine rote Schaffnermütze auf. Durfte aber nichts anfassen, außer ein Zug fiel endlich in einer Kurve um.
Digitale Anfänge
Mein erster Computer war beigegrau.
Ich kaufte ihn im Jahr 1984 in meiner Land-Wohngemeinschaft. In einer Zeit, als alles ziemlich deprimierend war. Es regnete dauernd, mein Gemüsegarten war eine Schlammlandschaft, die Weltrebellion war irgendwie abgesagt und in einer anderen Wirklichkeit drohten Atomkraftwerke und die Atomraketen der „Nachrüstung”.
Aber da war er nun endlich, die Zukunftsverheißung aus meiner Kindheit. Ein Commodore 64, das Kultgerät des frühen Computerzeitalters. Als Aussteiger und Ökologisten waren wir zwar grundsätzlich skeptisch, was Hightech betraf. Aber diesem magischen Gerät konnten wir uns nicht entziehen. Plötzlich entstanden Computer, die von Hippies in Garagen in Amerika zusammengeschraubt wurden, für eine ganz andere Idee als die Überwachungscomputer von Orwells 1984.
1984 erschien auch der erste Apple Macintosh und setzte einen neuen Mythos in die Welt. Ein Gerät, das sie Welt verändern würde, weil man es mit einer „Maus” bedienen konnte.
Technik, die sich an Menschen anpasste, nicht umgekehrt. Ich lernte ein wenig programmieren. Basic und ein bisschen Fortran.
For next step; file:
Rem Rem
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Next Step/2
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Mit dieser entschlossenen Sprache, die keine Zweifel zuließ, konnte ich Formen und Farben über den Bildschirm laufen lassen. Später ließ ich Raumschiffe in selbst gebastelten Spielen explodieren. Das war kindlich, fühlte sich aber bedeutsam an. Bald ging es bei den ersten pixeligen Videospielen darum, Hubschrauber unter schwierigen Bedingungen in den Höhlen von Fort Apokalypse zu landen. Und dann ging es hinaus in die Welt. Das Modem zwitscherte und jodelte, und plötzlich war man „drin”. Begeistert lasen wir Texte über die Schwarmintelligenz, über das Wesen der Computer als universelle Wissensmaschinen. Die Menschheit würde sich mithilfe des revolutionären Computers über alle Begrenzungen und Restriktionen hinwegsetzten. Würde sich verbinden, über alle Kontinente, Sprachen und Ideologien hinweg, zu einer einzigen leuchtenden, lernenden, kreativen, universellen Menschheit …
One More Thing
Im Januar 2007 trat ein hagerer Mann auf eine dunkel ausgekleidete Bühne in San Francisco. In einem schwarzen Rollkragenpullover und ausgewaschenen Bluejeans machte Steve Jobs zunächst einige Scherze über Microsoft, den alten Rivalen, der für graue Tischcomputer und Büroklammer-Technologien bekannt war. Dann sagte er diesen magischen Satz:
„WE ARE MAKING HISTORY TODAY!”
Drei neue Geräte kündigte Jobs an, „in einer nie dagewesenen Symbiose von Smartness und Kreativität”.
• A widescreen iPod with touch controls
• A revolutionary mobile phone
• A breakthrough internet communication device
THE ONE DEVICE!
Und da war es, das iPhone. Das tatsächlich unser Leben verändern sollte.
Jobs Hochamt wurde von ungefähr so viel Menschen angeschaut wie die Mondlandung (zirka 650 Millionen). Seine neuen Geräte erlösten uns von dem Übel rein funktionaler, seelenloser Technologie, die keinen „Geist” hatte, keinen Spirit, kein Design, das in Richtung Zukunft wies. Jetzt hatte Technologie eine kreative Seele bekommen. Sie folgte auf die Befehle unserer Fingerkuppen. Sie folgte unserem Bedürfnis nach Customer Centricity. Sie war für uns da, ganz allein für uns Individuen der Neuen Welt!
Gibt uns die kreative Kraft! Shake the world, baby!
Viele Jahre war das Apple-Logo in meinem Leben eine Art Glaubenssiegel. Wenn man in ein urbanes Café kam, in ein Starbucks irgendwo in einer Großstadt, wies man sich, wenn man sein PowerBook aufklappt, sofort als Mitglied der Kreativen Klasse aus. Später standen die bunten Knutschkugeln der ersten iMac-Serie auf meinem Tisch. Apple gab der Technologie die Würde zurück und uns Symbole der ästhetischen Rebellion in die Hand.
Die Zukunft konnte kommen. Sie sah verdammt gut aus.
Dass das Ganze einem Techno-Kult ähnelte (ähnlich dem Cargo-Kult, bei dem die Bewohner der Südsee nach den Reisen von Thomas Cook auf die neuesten Wunder aus der neuen Welt warteten), wurde mir erst viel später klar. Gehen Sie in einen Apple-Shop. Achten Sie auf die religiösen Insignien, die seltsame Ergriffenheit. Das mönchische Verhalten der Apple-Bediensteten. Geheiligt sei dein Gerät! Die Anbetung des angebissenen Apfels, der opak über allem schwebt, vermittelt eine asketische Sünde.
Schauen Sie sich heute einen aktuellen Apple-Werbespot an. Sie werden staunen, welche religiösen Heilsversprechungen in der Technologie stecken.
Im Jahr 2011 starb Steve Jobs an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wie bei so vielen jungen Heroen unserer Generation war sein früher Tod das Beste, was seinem Mythos passieren konnte. Eine Zeit lang hatte er mit alternativen Heilmethoden versucht, gegen den Krebs anzukommen; schließlich war er ein alter Hippie. Die harten Methoden der technischen Medizin misstraute ausgerechnet jener Heilige, der die härteste Medizin des Techniums in die Menschenwelt gebracht hatte. Auf einer seiner letzten Reden vor 500 Studenten der Stanford University zog Jobs noch einmal die große Linie von der Gegenkultur bis in die Zukunft, und er vergaß dabei nicht, dem Tod als großen Innovator zu huldigen.
Im Reich des Techniums
Was ist das überhaupt – „Technologie”?
In der ursprünglichen Form ist Technik (τέχνη, téchne, Kunst, Handwerk, Kunstfertigkeit) eine Erweiterung menschlicher Körperfunktionen. Steinmeißel, Streitaxt und Speer verlängern die Arme. Kameras, Brillen und Teleskope erweitern die Augen. Das Rad ist eine Extrapolation der Beine. Technik wird zunächst aus einer Erweiterung unserer existenziellen Körperlichkeit geboren.
So weit, so gut, könnte man meinen. Wer möchte nicht wilden Tieren entkommen und seine Sinne erweitern?
Nach Kevin Kelly, dem berühmten US-amerikanischen Zukunftsforscher, der in den Neunzigerjahren das Zukunfts-Kultmagazin Wired mitbegründete, ist Technologie aber noch etwas ganz anderes. In seinem Buch „What Technology Wants” (2010) erklärt Kelly Technologie zu einer eigenständigen Evolution. Er definiert das „Technium” als siebtes Königreich der Natur (nach den Einzellern, Mehrzellern, den Eukaryonten, Pilzen, Pflanzen und Tieren/Menschen). Eine Art Superorganismus, der nach seinen eigenen Gesetzen die Welt gestaltet. Und zwar im Unterschied zur natürlichen Evolution rasend schnell.
„Wenn wir auf die Altsteinzeit zurückblicken, können wir eine Evolutionsphase beobachten, in der menschliche Werkzeuge noch im Embryonalstadium waren. Aber da die Technologie älter war als der Mensch, müssen wir über unsere eigenen Ursprünge hinausblicken, um die wahre Natur der technologischen Entwicklung zu verstehen. Technologie war nicht nur eine menschliche Erfindung; sie wurde auch aus dem Leben geboren … Mit geringfügigen Unterschieden. Die Evolution des Techniums ahmt die Evolution genetischer Organismen nach. Die Evolution beider Systeme bewegt sich vom Einfachen zum Komplexen, von der Einheitlichkeit zur Vielfalt, vom Individualismus zum Mutualismus (gegenseitigem Vorteil). Von Energieverschwendung bis hin zu Effizienz. Die Art und Weise, wie sich eine Art Technologie im Laufe der Zeit verändert, folgt einem Muster, das einem Stammbaum der Artenentwicklung ähnelt. Aber anstatt die Arbeit von Genen auszudrücken, drückt Technologie Ideen aus. Und diese Ideen sind schnell, radikal und wütend.”
So wurde aus der Anwendungsdebatte eine Anpassungsdebatte: Wir müssen uns zwangsläufig dieser rasenden Evolution anpassen, wenn wir nicht den Anschluss an die Zukunft verlieren wollen. One more thing, forever. Das Technium nimmt uns in sein Reich auf, ohne zu fragen.
Um die Jahrtausendwende gaben die Brüder Andrew und Laurence Wachowski mit ihrer Matrix-Triologe dieser Vision kräftiges Futter – allerdings in dystopischer Form. In der Matrix dienen die Menschen den Maschinen als Energiequelle, das Technium hat sich komplett über das Humanum gestülpt – im Austausch von unendlichen Simulationen dürfen die Menschen weiterträumen, sie lebten im Raum der Wirklichkeit.
In seinem Buch The Inevitable: Understanding the 12 Technological Forces That Will Shape Our Future listet Kelly das Unvermeidliche auf, das die digitalen Technologien mit sich bringen:
- Beginning: Alles beginnt immer wieder von Neuem.
- Flowing: Alles gerät unentwegt in Fluss.
- Screening. Alles wird ständig auf Bildschirme gebracht.
- Accessing: Alles wird zugänglich, nichts bleibt Geheimnis.
- Sharing: Alles kann und muss geteilt werden.
- Filtering: Alles kann durch Filter eingegrenzt werden.
- Remixing: Alles wird immer neu zusammengesetzt.
- Interacting: Alles agiert ständig mit allem in Echtzeit.
- Tracking: Alles wird ständig verfolgt und &bdqo;monitort”.
- Cognifying: Alles wird ständig in Erkenntnisse eingepasst.
- Questioning: Alles wird ständig infrage gestellt.
- Becoming: Alles ist ständig im Werden und Wandeln.
Man könnte diese Liste der Metamorphosen auf einen einzigen Satz bringen: Nichts bleibt, wie es war. Oder frei nach Karl Marx: Alles Stehende (Analoge) wird verdampft! Spätestens hier war die Technologiedebatte an einer Grenze angelangt. Dass all diese &bdqo;Auflösungen” in Wirklichkeit ein ziemlicher Horror waren, fiel in der allgemeinen Technik-Euphorie kaum auf. Der technische Fortschritt ähnelte nun einer deterministischen Ideologie, die dem Marxismus des 20. Jahrhunderts ähnelte.
Und wer auf einer Bühne auftrat, um Einwände zu wagen, um Technologie vom Menschlichen aus zu befragen, wurde höflich, aber bestimmt durch den Hintereingang wieder hinausgeführt.
Die Zukunft herbeibrüllen
Mitte der Zehnerjahre wurde aus der digitalen Zukunft immer mehr ein hysterischer Kult. Manager und Unternehmer, mit denen wir Zukunftsarbeit betrieben, kamen mit glänzenden Augen (und manchmal mit Hipster-Bärten) aus dem Silicon Valley zurück, wo sie angeblich die wahre Zukunft gesehen hatten. Vergesst alle Businesspläne und Innovationen! Vergesst die Trends und die Kunden (die jetzt User hießen, eine Bezeichnung, die man sonst nur aus der Drogenbranche kannte). Vergesst das ganze Zeug über neue Firmenkultur und Work-Life-Balance! Das große Geld macht man mit Daten, Daten, Daten!
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari nannte das treffend &bdqo;Dataismus” oder &bdqo;Die Daten-Religion”. In Homo Deus schreibt er: „Dataismus invertiert die traditionelle Pyramide des Lernens. Daten wurden früher als der erste Schritt in einer langen Kette geistiger Aktivität gesehen: Aus Daten destilliert man Information, aus Information Wissen, aus Wissen Weisheit und sinnvolle Handlung. DATAISTEN glauben, dass das alles überflüssig ist. Die Daten SELBST sollen die geistige Aktivität ersetzen, weil sie die Prozessoren die Kapazität des menschlichen Hirns überschreiten. In der Praxis bedeutet das, skeptisch gegenüber den humanen Fähigkeiten zu sein und alles in die Hände von Computeralgorithmen zu geben.”
Ich erinnere mich an einen Digital-Event in München, der auf mich wie eine schwarze Messe wirkte. Für die Keynote war einer der angesagten Digital-Gurus eingeladen, der auf der Bühne ein öffentliches „Chipping” anbot. Es handelte sich um einen rasend schnell redenden Menschen mit einem „digitalen Zugang” im Oberarm; eine mechanische Öffnung, an die man ein UBS-Kabel anschließen konnte. Zu meinem Erstaunen fand das niemand lächerlich. Er bezeichnete sich selbst als Cyborg und hatte auf der Bühne ein kleines Labor aufgebaut, mit einen mit rotem Leder bezogenen Zahnarztstuhl. Er selbst hätte dieses „geniale Teil” eines Chips in seiner Hand implantiert, mit dem er – Simsalabim! – Türen öffnen und alle möglichen „Devices“ steuern konnte.
Er brüllte das Publikum regelrecht an, ihm auf dem diesem Weg zu begleiten: „SIE KÖNNEN IHRE INTELLIGENZ um tausend Prozent erhöhen! ALLES WIRD IMMER SCHNELLER! WIR LEBEN IN EINEM ZEITALTER DER AKZELERATION! Wir MÜSSEN UNS AN DIE NEUE ZEIT ANPASSEN! ALLES WIRD DIGITAL! ROBOTER KOMMEN! ARBEIT WIRD ABGESCHAFFT! ALLES IST VERNETZT!”
Die jungen Businesstypen aus dem Publikum – die sehr wenigen Frauen wirkten eher distanziert – klatschten frenetisch Beifall. Dann stellten sich die jungen Männer brav in einer Reihe an, um sich einen Mikrochip unter die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger implantieren zu lassen. Dorthin, wo’s richtig wehtut. Ihr Stöhnen, wenn das Implantationsgerät ein metallenes Klacken von sich gab, machte den Saal zu einer skurrilen und irgendwie perversen Folterkammer.
Mich erinnerte diese Szene an einen Satz von Big-Bang- Theory-Serienheld Sheldon Cooper in der finalen Staffel: „Als ich ein Kind war und man mich gefragt hat, was ich werden will, wenn ich groß bin, habe ich immer gesagt: ein Gehirn in einem Glas.”
Es war unmöglich, gegen das Zukunfts-Brüllen Einwürfe zu erheben. Das ständige Müssen-Müssen-Müssen prägte bald die ganze öffentliche Zukunftsrhetorik. Zukunft wurde von einer Richtung, einem Geheimnis, einer Sehnsucht nach Wandel zu einer Zwangsvorstellung.
Wir müssen uns anpassen!
Die digitale Welt wartet nicht auf uns!
Der Zug könnte bald abgefahren sein!
Wir brauchen mehr radikale Innovationen! MEHR! MEHR! MEHR!
Immer schneller! Die Zukunft wartet nicht! Drück aufs Gas, Idiot!
Rauschen, Knacken …
Das Future Evolution House
Ende 2010 bauten wir als Zukunftsforscher-Familie unser Zukunftshaus am Stadtrand von Wien. Es war eine analoge Schlacht von Bauschlamm, Koordinationsproblemen und endlosen Handwerker-Nervereien, die meine Frau Oona heldenhaft meisterte. Als das Haus nach achtzehn Monaten Bauzeit endlich stand, waren wir erschöpft, aber glücklich. In Oonas Buch Wir bauen ein Zukunftshaus. Ein Familiendrama in drei Akten (2015) ist die Wahrheit über das Bauen von Zukunftshäusern verewigt. Zukünftig ist daran wenig.
Aber was zum Teufel ist ein Zukunftshaus? Eigentlich ist es ein Oxymoron. Wohnen kann man ja immer nur in der Gegenwart, und ein Zukunftshaus ist normalerweise eher eine Skizze, ein Prototyp, oder bald schon ein Museumsstück. In der Tat hatten wir mehrere der futuristischen Laborhäuser besichtigt, die in den Empfangshallen von Technologiekonzernen standen oder auf Messen gezeigt wurden. Es lief immer auf dasselbe hinaus: Panels, mit denen man alle Funktionen bedienen konnte, einschließlich des Herdes aus dem Wohnzimmer. Und mit Servern vollgestopfte Keller, mit denen man das ganze Haus hätte heizen können. Die unbewohnbaren feuchten Träume von Elektroingenieuren, die alles, was nicht niet- und nagelfest war, automatisieren wollten.
Ich musste ständig an meinen Vater denken.
Das Erste, was wir an Smart Tech einbauten – gesponsert durch eine Firma –, war eine Haussteuerungsanlage. Mit vielen Steuerungsmodulen in den Wänden und einem eleganten mobilen Panel, mit dem man alle Funktionen des Hauses steuern konnte. Das Ganze war sündhaft teuer, aber wir konnten selbst die Gartentür von der Ferne aufschließen, die Jalousien im ganzen Haus nicht nur hoch- und runterfahren, sondern auch unregelmäßig oder regelmäßig hoch- und runterfahren LASSEN. Je nachdem, ob wir die Stimmung „Convenience” oder „Energy” wollten (die Beleuchtung wechselte dann zu grün oder rot) oder bei Abwesenheit mögliche Einbrecher abschrecken wollten (heftig wechselnde Lichtstimmungen).
Das Ganze war gekoppelt mit einer ausgefuchsten Alarmanlage, die per Raumdrucksensoren gesteuert wurde. Es dauerte drei Wochen, das System zu programmieren. Die nächsten Wochen waren erschöpfend, weil zu allen unregelmäßigen Zeiten die Alarmanlage plötzlich losheulte, Alarm- E-Mails an alle Familienmitglieder schickte und an die Polizei, die jeweils 150 Euro berechnete.
Wir fanden schließlich heraus, dass das System auf Winddruck reagierte, der ab und zu unsere großen Glasscheiben zum Schwingen brachte. Sie auszutauschen, hätte ein Vermögen gekostet. Also wurde die Alarmanlage stillgelegt. In der Haussteuerungsanlage selbst traten immer wieder seltsame Bugs auf, die Reprogrammierungen erforderten. Der Schalter für das obere Seitenlicht im Flur ließ plötzlich die Jalousie im Wohnzimmer herunter. Oder das Steuerpanel war abgestürzt und ließ sich nicht mehr hochfahren, was nur durch einen Softwarewechsel behoben werden konnte. Nach einem Jahr ging der Programmierer des Systems, ein freundlicher älterer Herr, in Rente. Der neue, den uns die Firma schickte, hatte keine Ahnung und fuhr kurz darauf in Urlaub. Er ließ sich am Smartphone nie mehr erreichen.
Die Firma, die unser Haussystem geliefert hatte, ging pleite. Oder wurde an die Chinesen verkauft.
Wir lernten: Futuristische Haustechnik ist schwierig, wenn sie die Gegenwart betrifft.
Irgendwie war es praktischer, einfach zum Lichtschalter zu gehen, der tatsächlich noch „Klick” machte.
Ein paar Monate später empfahl uns die Polizei bei einer Einbruchsberatung, einen Hund anzuschaffen. Das wäre das beste Mittel gegen Einbrecher (die in unserer Gegend am Waldrand häufig ihr Wesen trieben). Seitdem haben wir unsere wunderbare Bubbles, eine leicht neurotische, aber sehr selbstbewusste und eigensinnige Maremmano-Hündin.
„Wo immer das Wort ›smart‹ oder ›smartness‹ auftaucht, sollte man es als freundliche Metapher für digitale Ausbeutung verstehen”, so die Managerin Marie-Luise Wolff in ihrem Buch „Die Anbetung”. Über eine Superideologie namens Digitalisierung.
Das Amish-Prinzip
Im Jahr 2010 lernte ich Alexa Clay kennen, die aus der US-amerikanischen Amish-Sekte kam und sich „The Amish Futurist” nannte. Sie trat auf unserem großen Zukunftstag in der Tracht dieser Volksgruppe auf und erklärte den Zugang ihrer Glaubensgemeinschaft zur Technologie. Sie war bei den Amish eine Art Tech-Agentin, die neue Technologien testete, bewertete und ihren Gebrauch empfahl. Oder eben nicht.
Mitten im hyperkapitalistischen Amerika hat eine traditionelle Lebensweise überlebt, die das Verhältnis zwischen Technium und Sozium, zwischen Technologie und Alltagswelt, völlig anders regelt als die Mainstream-Gesellschaft. 300.000 Menschen in sechsunddreißig Bundesstaaten leben einen Lebensstil der radikalen „Low Tech”. Das ist erstaunlich. Wie konnte sich diese Enklave bewahren?
Die Amish-Bevölkerung wächst immer noch, was vor allem an der hohen Geburtenziffer liegt – chemische Verhütungsmittel sind verpönt. Amish-Familien haben im Durchschnitt sechs Kinder, die ganze Soziostruktur ist auf Großfamilien eingestellt, die exzellente Sozialstruktur einschließlich gemeinsamer Kinderbetreuung bietet eine echte Alternative zur Konsum-Moderne. Obwohl viele Mitglieder die Sekte im jungen Erwachsenenalter verlassen, behalten sie ihre Bindungen, und viele kehren auch zurück. Existenzieller Stress, wie er heute die US-amerikanische Kultur quält, ist bei den „Amischen”, die vom Schweizer Wiedertäufer-Prediger Jacob Amann vor 300 Jahren gegründet wurden, so gut wie unbekannt.
Aus Amish-Sicht ist Technologie nicht generell böse oder teuflisch. Sie ist aber zum großen Teil überflüssig. Sie stört die Gemeinschaft. Technik, so wissen die Amish, kann die Bindungen und Seelen beschädigen. Und das ist für einen Amish das Schlimmste.
Genutzt wird nur Technik, die das Gemeinsame fördert und keine übertriebenen Eitelkeiten oder Ablenkungen erzeugt. Amish arbeiten gerne. Sie sind begeisterte Handwerker, die den Prozess des Schöpfens schätzen. Amish nutzen bisweilen Autos für längere Strecken – für den Alltag reicht die Pferdekutsche. Sie lassen sich motorisiert meistens von Chauffeuren fahren. Die Amish nutzen in ihren Werkstätten Drucklufttechnik und für manche Teile der Buchhaltung einfache alte PCs, begrenzen aber deren Gebrauch zeitlich und funktional auf den eigentlichen Zweck. Sie verwenden sogar genetisch veränderten Mais, weil sich die Resistenz gegen den Maiszünsler und andere Schädlinge als existenzbewahrend erwiesen hat. Sie nutzen Plastiktüten, die sie wiederverwenden – sehr oft. Ihre Kutschen sind aus Fiberglas. Bis sie sich für den richtigen Gebrauch einer Technologie entschieden haben, dauert es manchmal Jahrzehnte.
Die Amish haben Zeit, viel Zeit. Generationen Zeit.
Die Amish verzichten auf gar nichts. Und freuen sich an der Fülle, die uns die Technik bietet. Es ist ihre Souveränität gegenüber der Technik, ihre selbstbewusste Wahl, die sie faszinierend und auf gewisse Weise progressiv erscheinen lässt. Sie selektieren den sozialen Nutzen der Technologie, aber gehen den technischen Superversprechen nicht auf den Leim.
Das Technotüm
Siri und Alexa gingen den Weg der meisten Smart-Home- Anwendungen in unserem Haus. Sie wanderten in die große Kiste im Keller mit entschlafener Technik, die jedes Jahr größer wurde, bis sie zu einem echten Monster heranwuchs. Wir nannten es das „Technotüm”. Es stapelten sich Lautsprecher aller Bluetooth-Generationen, abgewrackte Module und Modems, drei Generationen von Internetradios, verblichene Drucker, Stapel von alten iPads und iPhones, Alarmanlagen mit Bewegungsmeldern, umwunden von einem Wust von Netzteilen und Kabeln, die alle miteinander Sex zu haben schienen und sich dauernd vermehrten. Dazu tausend verblichene Tastaturen, ganze Schaltschränke für komplizierte Haustechnik, Gadgets in schrillen Farben, die uns irgendwelche Freunde geschenkt hatten, weil das irgendwie „Future” war.
Wir standen vor diesem Monster und wunderten uns, wie es so weit kommen konnte. Und wie man das recycelt. Wie viel Geld und Zeit wir für sinnlose Technik verballert hatten! Technik auf der Suche nach Problemen, die angeblich das Leben erleichtern würde, aber genau das Gegenteil taten. Aus dem großen Gewirr vermeinten wir manchmal ein sanftes „Womit kann ich helfen?” zu vernehmen.
Was unser Haus wirklich „zukünftig” macht, sind dagegen die Design-Aspekte, die in der Architektur stecken. Wir haben versucht, das Gebäude nach den Bedürfnissen einer individualistischen, multimobilen, also heute ganz normalen Familie zu gestalten.
Unser Haus ist ein Multihaus. Ein gelandetes Raumschiff mit vier Segmenten: Kin, Lounge, Love und Work. In „Kin” (von englisch „kinship”) wohnen die Kinder, wenn sie zu Hause sind. Dass sie auch bis in ihr dreißigstes Lebensjahr immer wieder bei uns leben, war nicht vorauszusehen, aber beabsichtigt. Sie haben ihr eigenes kleines Bad und eine Teeküche und verschwinden tatsächlich manchmal tagelang in ihrem Raumschiffmodul, dass man lautdicht vom Rest des Hauses „abkoppeln” kann (allerdings habe ich noch nie Boxenlärm aus ihrem Trakt gehört, mit dem ich meine Eltern ständig genervt habe. Sie sind eingestöpselt, und es ist mucksmäuschenstill). „Lounge” ist die große Wohnküche, in der sich die Familie trifft, wenn sie Lust dazu hat (leckere Currys von Oona helfen). „Love” ist das autonome Wohlfühlreich von Oona und mir. Und „Work” ist unser Homebüro, das fünfundzwanzig Meter entfernt auf der Wiese steht. Dort arbeiten wir mit zwei Angestellten und empfangen manchmal Kunden (wenn Bubbles uns lässt).
Wohnen ist und bleibt Entschleunigung im Bleibenden. Höhlendasein. Wohnen ist sinnlich, körperlich und bis zu einem gewissen Grad notwendigerweise chaotisch. Häuser sind Ordnungssysteme – oder sagen wir: Ordnungsvorschläge. Funktionen müssen flexibel sein, im Lauf der Zeit wechseln können. Das Bad kann ein Leseraum werden. Das Wohnzimmer mutiert zur Küche, Computerraum ist überall, auch auf dem Klo. Gerade weil wir in einer elektronischen Welt leben, in der wir alle beruflich in Bildschirme starren müssen, sind wir auf das Sinnliche, das Haptische, das Fühlbare angewiesen, das mit uns altert. Warum unser Kühlschrank mit der Kaffeemaschine vernetzt sein soll, damit endlich das „Internet of Things” entsteht, will uns einfach nicht einleuchten.
Unser Haus ist ein Versuch, den Unterschied zwischen „Zukunft” und dem „Zukünftigen” zu verdeutlichen. Zukunft ist ein fixierter Endzustand, eine konstruierte Utopie, die meistens einer Ideologie folgt, einem fixen Set von Regeln und Normen, die schon vorher festgelegt werden. Das Zukünftige hingegen entwickelt sich im Leben selbst, als Praxis und Routine, die funktioniert und ins Kommende weist. Es ist, evolutionsfähig, es steht in lebendigem Kontakt mit unseren Bedürfnissen, es wandelt sich durch unsere veränderten Wünsche.
In der Architektur des Wandelbaren und Gewordenen entsteht eine Schönheit, die man sofort spüren kann: Alte Englische Landhäuser haben so etwas oder französische Chalets oder niederländische Grachtenhäuser oder alpine Lofts der neuen Generation. Selbst gut renovierte Beton-Brutalismen können Wandelhäuser sein. Auch Stadthäuser aus der Gründerzeit haben sich als wandelfähig erwiesen; in ihnen kann alles Mögliche gegründet werden, von Firmen über Dynastien bis zu WGs. Sie verweisen auf die Vergangenheit, aber sie erzählen auch ein zeitloses Morgen. Ein zukünftiges Haus gewinnt in der Dauer an Würde, auch seine Technologien „reifen”, wie man an alten Öfen oder Möbelklassikern sehen kann.
So soll es sein zwischen dem Humanum und dem Technium. Vornehme Distanz bei gleichzeitiger Kooperation.
Der Nettogewinn der Technologie
Der US-amerikanische Medienprophet Neil Postman formulierte es einmal so schön: „Sobald die Maschine gebaut ist, entdecken wir immer zu unserer Überraschung, dass sie eigene Ideen hat; dass sie nicht nur unsere Gewohnheiten verändert, sondern … auch die Gewohnheiten unseres Geistes verändert.”
Jede Technologie verändert das Denken. Sie spaltet dabei zuerst die Wahrnehmungen. Nutznießer und Verlierer, Fans und Skeptiker bilden ein Spannungsfeld, in dem menschliche Möglichkeiten und Grenzen neu ausverhandelt werden. Technik disruptiert gewachsene menschliche Fähigkeiten, das erzeugt Verlustängste ohne Ende. Sie schafft gleichzeitig neue Optionen, die sich erst zu Nutzungsweisen entwickeln müssen, die immer mit Kulturtechniken zu tun haben.
Beim Prozess der „Adaptation”, der gegenseitigen Veränderung von Technik und Mensch, geht es zunächst primär um Sicherheitsaspekte, um die „Entschärfung” der Risiken. Automobil und Flugzeug brauchten Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, um von einem mörderischen Risiko zu einem sicheren Fortbewegungsmittel zu werden. Es waren immer grauenhafte Unfälle, Abstürze, die zu den entscheidenden Verbesserungen führten – etwa der große Doppelcrash auf Teneriffa im März 1977 mit 583 Toten, der weltweit eine völlig neue Flugsicherheitsarchitektur etablierte. Lebensgefahr führt bei vielen Technologien zu schnellen Adaptionen. Dass uns heute jedes Auto unentwegt übergriffig anpiept und Verhaltensänderungen verlangt, ist wohl der Preis, den wir für einen niedrigen Blutzoll des Verkehrs zahlen müssen. (In Deutschland lag der „Peak Car Death” im Jahr 1973 bei 23 000 Todesopfern; eine unvorstellbar hohe Zahl, wenn man berücksichtigt, dass die Fahrzeugdichte heute das Vierfache beträgt; heutige Todesopferzahl: jährlich ungefähr 3000.)
Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem eine Technologie sich weitgehend „humanisiert” hat – eingepasst in die menschliche Umwelt. Ihr Nutzen ist dann größer als ihre Gefahren, ihr Beitrag zu menschlichen Möglichkeiten größer als die Sabotage alter Gewohnheiten. Sie haben einen humanen Nettogewinn. Das Mensch-Technik-Spiel ist dann ein Win-Win-Spiel. Ein Nicht-Nullsummenspiel.
Das ist der Moment, an dem wir tatsächlich Fortschritt vermelden können. Allerdings ist dieser Punkt nie ganz einfach auszumachen.
Für echten Fortschritt sind viele kleine Schritte nötig. In den Organisationsformen, den Rechtsformen und Regularien, den Normen und Normierungen, den Infrastrukturen, Zugangsrechten, den alltäglichen Verhaltensformen. Jede Technik braucht eine Soziotechnik, die auf sie in einer günstigen Art und Weise reagiert.
Allerdings sind diese sozialen Reaktionsweisen für unterschiedliche Interessengruppen unterschiedlich nützlich. Für Betreiber digitaler Netzwerke ist es vorteilhaft, wenn möglichst viele Menschen möglichst lange vor dem Bildschirm kleben. Für die menschliche Kultur und Lebensweise ist das eher fatal.
Die Drucktechnik musste erst Regeln des Verlegens und Veröffentlichens, der Strukturierung geschriebenen Wissen, der Kuratierung hervorbringen – Verlage, Autorenrechte, Verantwortungen etc. (was heute durch das informelle Internet plus KI prompt wieder eingerissen wird). Die Eisenbahn als Alltagsvehikel erforderte mehr als nur den Verzicht, im Bahnhof lautstark auf den Boden zu rotzen (was vor 100 Jahren noch gang und gäbe war). Sie erzeugte auf Dauer eine Kultur des höflichen Reisens, daraus erwuchs auch die Herausforderung, vernünftige Regeln ebenfalls an ihren Zielorten einzuhalten. Wo das nicht gelang, führten die Gleise ins Nichts.
Menschliche Adaption gegenüber Technik ist ziemlich großzügig. Ich wundere mich immer wieder, was uns dazu bringt, uns in eine enge Flugzeugröhre zu pressen, in der der wir so nahe nebeneinandersitzen, dass wir Geruch und Geräusche eines Unbekannten im wahrsten Sinne hautnah erleben. Und uns im Klo um uns selbst winden müssen. Es scheint uns wirklich ungeheuer viel daran zu liegen, uns durch die Luft schießen zu lassen. Dafür akzeptieren wir anscheinend alles, sogar Ryanair.
Warum das Alte wiederkehrt
Die letzten Jahrzehnte der Technologieentwicklung waren von einer Rhetorik der Abschaffung geprägt. Der Begriff „Hightech” markierte einen Technikbegriff, der das Alte radikal überwinden und durch „überlegene Technik” vollkommen ersetzen wollte. Das gelang bisweilen. Aber dadurch entstanden auch dauerhafte Leerstellen menschlicher Natur. Und erstaunliche muntere Comebacks.
Warum kehrt das Vinyl zurück, die Schallplatte, die wir in unserer Jugend auf den heiligen Plattenteller legten, um das leiste Knistern als Vorfreude zu genießen? Warum werden heute in einem Presswerk nahe des Müritz-Sees bei Berlin wieder jährlich vierzig Millionen Schallplatten hergestellt, obwohl doch jeder, aber auch jeder Musiktitel mit einem winzigen Klick auf all meinen Lautsprechern abgespielt werden kann, per Stream?
Eine Antwort lautet vielleicht: genau deshalb. Eben weil das Auflegen einem Ritual, einer kleinen Inszenierung ähnelt, mit der wir unseren Mind auf Musik einschwingen – während der Klick im Netz zu einer „Breibildung” führt, einer inneren Beliebigkeit, bei der die Musik zu einem Geräuschteppich wird. Kunden von neuen Vinylplatten sind über fünfzig Jahre alt; es finden sich aber auch viele Jugendliche im Alter zwischen achtzehn und zweiunddreißig Jahren darunter.
Warum verschwinden die Bücher nicht, diese Anhäufungen von Papier, in denen man nur von vorne nach hinten lesen kann, anstatt überall hineinzuklicken, wo man will? Eben deshalb. Man will nicht immer klicken. Denn das Klicken führt einen immer häufiger in ein Rabbit Hole, in gedankliche Abwege. Die weltweiten Buchproduktionen sind durch das Internet kaum geschrumpft, jedenfalls weitaus weniger, als wir es noch vor zwanzig Jahren voraussagten. Bücher haben gerade den Vorteil, dass sie uns zur Linearität zwingen, zur Immanenz des Gelesenen in der eigenen Fantasie.
Warum erlebt Schach plötzlich eine Rückkehr als eine Art Kultsport, wo doch Computer inzwischen unbesiegbar Schach spielen können, viel besser als Menschen? Vielleicht gerade deshalb. Man will ein zauberhaftes Spiel nicht den Maschinen überlassen, die nicht besser, sondern nur datenstärker, also brutaler Schach spielen. Schach hat auch eine ästhetische, soziale, mentale Komponente, die nichts mit dem Gewinnen allein zu tun hat.
Der US-amerikanische Tech-Kritiker Ian Bogost schrieb in einer Besprechung der neuen Apple-Vision-Pro-Cyberbrille im Februar 2024: „Was aber, wenn die Kluft, die Apple überbrücken will, eine grundlegende Grenze der Technologie darstellt? Eine Zeit lang, auf dem Höhepunkt der Macht des Internets, wurde es populär, so zu tun, als ob die digitale und die materielle Welt zusammenhängend wären – dass die ›reale‹ Welt keine besondere Bedeutung hätte, weil der Cyberspace ein Teil davon geworden sei. Das stellte sich als falsch heraus. Wir leben in Autos und auf Sofas und getrennt davon auch auf Telefonen. Apple glaubt, dass es diesen Konflikt lösen kann – dass die digitale und die materielle Welt miteinander verschmelzen können –, aber es hat den Konflikt nur in eine höhere Auflösung gebracht. Ein Headset ist eine Brille. Aber ein Headset ist auch eine Augenbinde.”
Technik als Trost
Wenn der Futurist Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google LLC, auf leisen Gummisohlen einen Saal betritt, der immer voll besetzt ist, dann herrscht jene tief erwartende Stille, die man in Kirchen hören kann, wenn der Heilige Geist nicht fern ist.
Ein Heiliger, der das nahende Reich verkündet.
Ein Prophet.
Ein erleuchteter Erlöser aus dem Technium.
Kurzweil berichtet uns von der bevorstehenden Singularität. Dieser Begriff wird normalerweise für jenen Zustand benutzt, an dem der Event Horizont eines Schwarzen Lochs in die Raumzeit kollabiert. Kurzweil verwendet den Begriff allerdings anders: Singularität benennt für ihn jenen „einmaligen” Zeitpunkt, an dem sich die rasende technische Beschleunigung zu einem einzigen Event verdichtet, einem Urknall oder Neuknall, in der die Maschinen hyperintelligent werden und der Mensch unsterblich. Unser Bewusstsein wird dann auf Quantencomputern laufen, wir können alle Krankheiten heilen; ob wir überhaupt noch einen Körper brauchen, ist dann eher zweitrangig. Vielleicht entscheiden wir uns für einen, vielleicht nicht, je nach Bedarf.
Um 2045 soll es nach Kurzweils Berechnungen so weit sein, dass sich der Mensch mithilfe der ungeheuren Maschinen-Intelligenz aus seinem fleischlichen Jammertal erhebt. Um bis zum Event fit zu bleiben, nimmt er selbst einen täglichen Cocktail von 200 Tabletten. Als absoluten Beweis für das Nahen der Singularität zeigt Kurzweil auf seinen Vorträgen Grafiken mit exponentiellen Kurvenverläufen. Linien, die immer steil nach oben weisen: die Taktbeschleunigung von Chips, die Kapazität von Rechnern, die installierte Rechenkraft der Computer auf der Erde, Fortschritte bei der Nanotechnik. Im Grunde sind diese linearen Aussagen völlig leere Aussagen. Sie geben einzig kund, dass Computer immer schneller rechnen können. Dass Partikel ständig kleiner manipuliert werden können. Nur was folgt daraus? Kurzweil ist ein Linearist, der sich einen Traum gestaltet hat. Der aber eigentlich ein Alptraum ist.
In der Natur ist Exponentialität meistens fatal. Sie reißt Systeme auseinander. Zum Beispiel die Vermehrung von Populationszahlen von Spezies in einer Umgebung mit begrenzten Ressourcen. Oder Krebszellen im menschlichen Körper.
Wie viele große Mystiker ist Ray Kurzweil von einer existenziellen Melancholie durchdrungen. Man spürt, dass es sich um einen enorm verletzlichen Menschen handelt. Kurzweil hat mit zweiundzwanzig Jahren seinen Vater verloren, den er sehr liebte. In zahlreichen Interviews spricht er über die Hoffnung, seinen Vater wiederzubeleben. Ray Kurzweils Vater Frederic (”Fritz Friedrich”), geboren 1912 in Wien, war offenbar ein wunderbarer Mensch. Ein Autor, Komponist, Dirigent, Philosoph. Ein seelentiefer Humanist. Kurzweil hat in seinem Haus in Massachusetts Kisten von Briefen, Dokumenten und Fotos von seinem Vater gesammelt. Er ist sich sicher, dass die Technik schon demnächst in der Lage ist, aus diesem Material einen authentischen Avatar zu formen. „Ich werde in der Lage sein, mit seiner Re-Kreation zu sprechen”, sagt Kurzweil. „Am Ende würde diese Repräsentation vielleicht sogar realistischer sein als mein Vater selbst, wäre er noch am Leben.”
Kurzweil ist der bekannteste Vertreter des Transhumanismus. Mit seinem Konstrukt der Singularität hat er ins Herz einer Gemeinde getroffen, die in der Technologie endlich die Erlösung sucht. Diese Gemeinde möchte die leidende menschliche Existenz durch Hypertechnologie auflösen. Und damit beenden. Das „Aufgehen” in den superintelligenten Maschinen würde menschliche Existenz ja nicht einfach transportieren, sondern terminieren. Im Inneren des Megacomputers wären wir keine Menschen mehr, sondern allenfalls noch Programme, irrlichternde Muster, wabernde Strukturen. Nicht-Wirs. Un-Ichs.
Was möchten Sie lieber sein? Tot oder ein Irrlicht in einem Quantencomputer?
Man braucht keinen allzu großen Menschenverstand, um zu spüren, dass Kurzweil trauert. Dauerhaft um seinen Vater trauert. Beziehungsweise nicht trauern kann.
Was uns in die Vision einer erlösenden Technologie treibt, ist die Angst vor dem Tod. Oder besser: die Angst davor, nicht mehr existieren zu können. Verlassen zu werden. Um dieser Angst entgegentreten zu können, versuchen wir alles. Sogar den Tod in den Datenströmen der Quantencomputer würden wir womöglich in Kauf nehmen.
Der Soziologe Stefan Selke zeigt in seinem Buch „Technik als Trost” den Verheißungscharakter der KI auf. In ihr spiegelt sich die schwarze Anthropologie, der Mensch als Mangelwesen, der durch die „Übertechnik” überwunden werden muss. „Eine demoralisierte, erschöpfte und entfremdete Gesellschaft kann am Ende nur durch die Re-Zentrierung des gesellschaftlichen Gravitationszentrums stabilisiert werden. Und genau diese Stabilisierung oder auch ›Heilung‹ ist das Kernversprechen von KI, deren Verheißungen zwischen exorbitanten funktionalen Aspekten und prognostizierten Wundern changieren.” In der Verwirrung unserer Zeit sehnen wir uns nach einer unfehlbaren Instanz, die uns die Richtung zeigt.
Und wünschen und befürchten Dinge und Phänomene, die mit der Menschen-Welt nicht in Einklang gebracht werden können. Wir fürchten und erhoffen das Falsche. Weil wie alle Kategorien in diesem Spiel ständig durcheinanderwerfen.
Das Menschliche bewahren
Was bleibt zu bewahren, womöglich sogar gegen das Technium zu verteidigen? Der britische Kognitionspsychologe Graham Lee listet in seinem Buch „Human Being: Reclaim 12 Vital Skills We’re Losing to Technology” zwölf menschliche Kompetenzen auf, die uns kostbar sein sollten. Es sind jene Eigenschaften, die wir uns von der Technik nicht erset-zen lassen sollten. Diese zwölf Kompetenzen sind:
- Bewegung
- Konversation
- Alleinsein
- Lesen
- Schreiben
- Kunst
- Handwerkliche Fähigkeiten
- Gedächtnis
- Das Träumen
- Das Denken
- Die Zeit
- Navigation
Wieso Navigation? Warum ist das eine wichtige, eine zu verteidigende Fähigkeit? Wir haben doch längst Navigationssysteme, die uns diese „Arbeit” abnehmen …
Ich bin ein Kind des Kartenlesens. In meiner Jugend waren Landkarten, Mondkarten, Sternenkarten etwas Wunderbares, weil sie in einem irritierenden Universum Orientierung gaben. Ich bin aufgewachsen mit Karten, die auf meinen Knien im Auto meines Vaters lagen und mit denen ich ihn dirigierte. Damals ließ man seine Hand am Steuer und die Augen auf der Straße, und trotzdem krachte es dauernd. Auto lagen brennend links und rechts der Fahrbahn, wenn wir zu Urlauben an die Ostsee fuhren. Man sah die Rauchwolken schon von Weitem. Die Karten gaben einem ein seltsames Sicherheitsgefühl. Ein Fluchtgefühl. Man würde einen anderen Weg finden.
Ich finde mich heute in rund hundert Städten einigermaßen zurecht. Ich habe noch virtuelle Drahtgittermodelle in meinem Kopf, virtuelle Stadtpläne, die ich aufrufen kann, um mich orientieren. Weil ich mich so oft verirrt habe, habe ich das Navigieren gelernt.
Es ist wichtig, sich zu orientieren. Nicht nur, um vor Räubern und wilden Tieren weglaufen zu können. Sondern auch, um die Richtung zu finden, in die man gehen will.
Sind wir mobiler geworden, weil wir nicht mehr mit Karten herumfummeln müssen? Unser Weltverständnis ist auf Punkte zusammengeschnurrt. Ich finde das traurig. In der Nacht weiß ich, wo ich den Nordstern finde. Ich empfinde das als großes Glück – zu wissen, wo die Richtung sein könnte. Im Zeitalter digitaler Navigationssysteme bewegen wir uns jedoch immer nur von Punkt zu Punkt. Und dieser Punkt hat keine Verbindung mehr; er ist ein Finitum in einem infiniten Universum. Er erzeugt in unserem räumlichen Gedächtnis keine Spur.
Das hat Auswirkungen auf unseren Mind. Unseren Future Mind. Die äußeren Karten werden im Inneren reflektiert. Das erklärt vielleicht auch einen Teil der Dimensionslosigkeit unserer Zeit. Wir sind desorientiert, weil wir glauben, auf jeden Fall irgendwie rauszukommen, an einem anderen Punkt.
Navigation als Fähigkeit ist eine Metapher für Zukunfts-Kompetenz. Und ein erwachsenes Welt-Verhältnis, das wir brauchen, um mit dem Leben klarzukommen.
Die Welt navigieren
Die Polynesier, die Bewohner des pazifischen Inselraums, navigieren in den 165 Millionen Quadratkilometern des Pazifiks seit Jahrtausenden von Insel zu Insel, von Archipel zu Archipel. Sie überwinden dabei Entfernungen von bis zu 4000 Kilometern. Und egal ob es stürmt oder still ist, ob Strömungen oder Winde den Kurs verändern oder nicht – sie finden immer (so gut wie immer) ihre Zielinsel.
Die Polynesier haben ein System der Orientierung entwickelt, das sie Etak nennen. Etak ist eine bestimmte Art, die Zeichen der Welt in dynamischer Weise zu lesen. Und dadurch dynamisch seine Position verändern zu können.
An Bord der Endeavour, James Cooks Expeditionsschiff, das von Tahiti aus den polynesischen Seeraum erforschen sollte, befand sich im August 1769 ein Priester der Bevölkerung Tahitis namens Tupaia, der über besondere Navigationskenntnisse verfügte. Er brachte den britischen Seefahrern zumindest ein paar Elemente dieser Fähigkeit bei. Graham Lee:
„Navigatoren wie Tupaia konnten genau die Form von Wellen im offenen Meer beurteilen, um die Richtung von Strömungen festzustellen, Schichten, die innerhalb von Wellen oder unterirdischen Strömungen auftreten, zusammen mit den Serpentinenlinien von Treibgut, die sich am Zusammenfluss entgegengesetzter Strömungen sammeln. Navigatoren mussten sich mit wesentlichen Teilen des Nachthimmels vertraut machen, sich ausreichend Sterne und Konstellationen merken und beobachten, wie sie sich von der Abenddämmerung zur Morgendämmerung verändern.”
Die polynesischen Navigatoren integrierten ihre Beobachtungen in eine dynamische Repräsentation der Welt. Im Etak-System verborgen ist die Weisheit, dass alles unentwegt in Bewegung ist und dass der Kurs des eigenen Kanus nur eine von unendlich vielen Bewegungen ist, also niemals eine gerade Linie von A nach B bilden kann. Alles blieb immerzu in Relation: die Wellen, die Winde, die Inseln, das Boot, die Vögel, Ein ewiger Tanz, in dem sich ständig Wandlung vollzieht, die Sinn macht.
So wie das ganze Leben, die Welt.
Die verlorene Revolution
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht in unserer digitalen Welt. Mir geht es dort derzeit nicht besonders.
Wenn ich morgens meinen Computer hochfahre wie Abermillionen andere Menschen oder mein Smartphone anschalte, das ja irgendwie sowieso nie wirklich ausgeschaltet ist, sondern auf Standby immerzu auf mich wartet, um mir Botschaften zuzuflüstern, auf die ich reagieren muss, wenn, ja wenn – ich nichts verpassen will. Ich bin dann ziemlich schnell auf eine seltsame Weise erschöpft und genervt. Aber gleichzeitig kann ich dieser Erschöpfung gar nicht mehr richtig empfinden. Sie ist zu normal geworden. Es ist eher ein Taubheitsgefühl.
Ich gehe mit meinen digitalen Tools nicht mehr raus in die Welt wie in den Zeiten des zwitschernden Modems. Vielmehr geht das Netz in mich hinein. Bevor ich überhaupt anfangen kann, etwas zu tun, muss ich erstmal einmal für die Maschine arbeiten. Etwas wegklicken. Etwas hinklicken. Etwas umklicken und ausklicken. Etwa uploaden aktualisieren, bestätigen, und downloaden. Ich bestätige Codes. TANs. Anfragen. Abfragen. Hinfragen, Herfragen.
Ich bin ein ewiger Bestätiger.
Ein Akzeptierer.
Ein Systempfleger.
Ich bin ein Bittsteller, der um Zugang bittet. Ich klicke, dass ich kein Roboter bin. Klicke wie ein Kleinkind auf Felder mit Bussen, Ampeln oder Vögeln (sollten das nicht wirklich eher die Maschinen tun – wie blöde bin ich eigentlich?).
Klicke, dass ich die AGB gelesen habe. Und mit irgendetwas, was mich nicht interessiert, einverstanden bin.
Consent!
Consent!
Consent!
„Ihr Update ist zum Download verfügbar.”
Und wo zum Teufel ist das verfluchte Ladekabel? Haben die Kinder es geklaut?
Geht das nur mir so? Ich habe das Gefühl, dass das Netz, das so etwas wie unser Lebensraum war, anfängt, auseinander zu bröseln. Es gibt jetzt die These (die ich ganz plausibel finde), dass das kommunikative Internet im Jahr 2026 gestorben ist. Vertreten wurde sie 2021 von einem User namens Illuminati-Pirate, nachdem er festgestellt hatte, dass ein großer Teil der Kommunikation im Netz nur noch von Bots betrieben wurde.
Das Netz, mit dem wir in die große weite Welt starten wollten, hat sich in eine schreckliche Aufmerksamkeitsfalle verwandelt. Es hat – seien wir ehrlich – einen umfänglichen Teil der menschlichen Kommunikationsfähigkeit in unserer komplexen Gesellschaft zerstört. Das Netz verbindet uns nicht mit der Welt und den Menschen. Es zerschneidet vielmehr die lebendigen Resonanzen, die leibhaftigen, gewachsenen Verbindungen. Es erzeugt unentwegt Schnittstellen, um dann alles neu zusammenzufügen – im Sinne monopolitischer Algorithmen, die vor allem Werbung verkaufen wollen. Werbung, die alles, was wir am Bildschirm lesen und aufnehmen, ständig verrückt und verschiebt. Und damit Sinn dekonstruiert.
Besonders betrügerisch arbeitet das Netz, wenn es die berühmte „Schwarmintelligenz” organisieren soll: Bewertungen von Restaurants, Filmen, Büchern (die mit den möglichen fünf Sternen) sind zu einem großen Anteil gefälscht oder gekauft. Meinungen werden durch Echoeffekte ins Unendliche verstärkt, obwohl nur ein paar wenige Wütende irgendetwas „meinen”. Events, die gar nicht stattfinden oder stattgefunden haben, bekommen die höchsten Klickzahlen. Die Karte hat das Gebiet längst in sich aufgefressen, sie überschrieben. „Irgendwo kichert schadenfroh Jean Baudrillard”, schrieb Titus Blome in der „Süddeutschen Zeitung”.
Das Internet ist ein dunkler Wald, in dem wir verloren gegangen sind, ohne es überhaupt zu merken. Wer ist der Wolf? Wer ist die Großmutter? Oder gibt es gar keinen Unterschied mehr zwischen Wolf und Großmutter?
All diese Missverständnisse öffnen die Tore zu einem hyperaktiven Techno-Feudalismus mit religiösen Zügen. Einer Pseudo-Religion, die uns immerzu das Blaue vom Himmel verspricht, aber am Ende scheitern muss.
Wir befinden uns am Ende eines technologischen Zyklus, der jetzt seinen Tipping Point erreicht hat. Daraus entsteht eine neue Sehnsucht, ein humanistischer Aufstand. Der US-amerikanische Extrembergsteiger und Unternehmer Yvon Chouinard formuliert die Richtung dieser neuen Revolte so: „Ich glaube, der Weg zur Beherrschung jedes Unterfangens besteht darin, auf Einfachheit hinzuarbeiten; ersetzen Sie komplexe Technologie durch Wissen. Je mehr Sie wissen, desto weniger brauchen Sie. Durch meine schwachen Versuche, mein eigenes Leben zu vereinfachen, habe ich genug gelernt, um zu wissen: Sollten wir einfacher leben müssen oder wollen, wird es kein verarmtes Leben sein, sondern ein reicheres Leben in all den Dingen, die wirklich wichtig sind.”