Bei all den schlechten und bedrohlichen Meldungen, die uns in dieser verwirrten Zeit erreichen, gibt es manchmal doch etwas Sinnvolles, Klärendes. Etwas wird plötzlich überdeutlich, was früher nur als dunkle Ahnung vorhanden war. Oder unter einer Decke von Illusionen verborgen blieb.
Ein solcher Moment war das X-Gespräch zwischen Elon Musk und Alice Weidel. Als Alice Weidel stolpernd und unendlich unsicher, mit ständiger Buckelei zum GROSSEN MUSK und in grauenhaftem Anbieder-Englisch („yesyesyes!“), Hitler als Kommunisten umdefinierte, wurde endgültig klar, worum es in unserer Gegenwart und Zukunft eigentlich geht.
Es hat lange gedauert. Viel zu lange.
Aber niemand kann sich jetzt mehr rausreden.
Wir leben im DIGITALEN FEUDALISMUS.
Es kommt in allem, was wir politisch, gesellschaftlich oder kulturell äußern, überhaupt nicht mehr darauf an, WAS gesagt wird. Es geht auch nicht um Lügen. Weil es nämlich gar keine Wahrheiten mehr gibt. Die Kategoriensysteme und Denkweisen, in denen wir uns bewegen, haben ihre Bedeutungen verloren. Links oder Rechts? Freiheit oder Unterdrückung? Was bedeutet das noch, wenn wir längst so etwas haben wie Anarchistischen Kapitalismus? Oder Libertäre Tyrannei?
Es geht um den Klick. Sonst nichts. Um den milliardenfachen Kick im Netz, der Milliarden Hirne zu irgendetwas zusammenschaltet, was man ausbeuten kann. Wahr ist, was Aufmerksamkeit generiert. Erregung ist die einzige Ware, die im hyperdigitalen Universum zählt.
Verkauft wird uns das Ganze als Freiheit.
Und immer wieder fallen wir darauf rein.
„Digitaler Feudalismus“ ist kein neuer Begriff. Er wurde schon vor zehn Jahren vom EU-Diplomaten Ramon Blecua, einigen Journalisten oder auch dem linken griechischen Heißsporn Yanis Varoufakis benutzt. Bislang ging es dabei eher um Überwachungs-Staatlichkeit, Datenschutz und unfaire Geschäftspraktiken. Jetzt erst hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen den Begriff in einen neuen gesellschaftlichen Kontext gestellt – und siehe da, er erstrahlt in einem anderen Licht. Im Licht der aktuellen Wirklichkeit.
Es geht nicht mehr um die Gefahr staatlicher Überwachungen. Oder um irgendwelche Datenlecks. Es geht um die Verbindung von Macht, Algorithmus und narzisstischem Wahn zu einem welterobernden Irrsinn. Um die digitale Tyrannei.
Der digitalistische Kult
Wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Die Idee, dass Computer und Netzwerke die Welt verbessern, zum Guten, Demokratischen, Dezentralen, ja sogar Ökologischen, wurde in den späten 80-ern geboren. Aus dem Abklingbecken der großen Jugendrevolte und der neuen digitalen Technologie speiste sich eine digitale Graswurzelbewegung, die ihre eigenen Rituale und Denkmuster entwickelte. Eine heilige digitale Utopie entstand, die im Silicon Valley Hippies und „Techs“ zusammenführte. Und zu einer Art utopischem Super-Projekt verschmolz.
Ich weiß das, weil ich zeitweise selbst ein tiefgläubiger Jünger dieser Bewegung war. Mitte der 80-er Jahre kaufte ich mit einen Commodore 64, den ersten bezahlbaren Homecomputer. Im Krächzen und Zwitschern des Modems schien die ganze Welt zu einem einzigen Wirklichkeitsraum zusammenzuwachsen. Eine schöne neue Netzwerk-Welt entstand, in der alles Wissen geteilt und alles Wahre verbreitet wurde. Dachten oder vielmehr fühlten wir.
Als nach der Jahrtausendwende der Zusammenbruch des „Neuen Marktes“ die wunderbare digitale Anarchie beendete, in der tausende von kreativen Firmen an der neuen Welt bastelten, änderte sich jedoch der Kurs des digitalen Projekts. Aus Netzwerken wurden gesteuerte Plattformen, aus ikonischen Startups gigantische Konzerne. Der sogenannte „Plattformeffekt“ hinterließ schließlich vier, fünf Weltmonopole, die inzwischen machen können, was sie wollen. Und jetzt, im Durchbruch des anarchistischen Kapitalismus à la Musk, endgültig zu Manipulationsmaschinen werden.
In den Nuller Jahren Zweifel am Digitalen Mythos zu äußern, war so gut wie unmöglich. Und auch heute ist es noch schwer. Bis heute ist das Hohelied des Digitalismus Standardtext jeder Firmenbroschüre, jeder Digital-Beilage jeder Politiker- und CEO-Rede, jedes „Deutschland-ist-am-Ende-wenn-wir-nicht-sofort-alles-digitalisieren”-Kommentars in Wirtschaftszeitungen. Es ist erstaunlich, wie die klügsten und intellektuellsten Geister die Folgeschäden des Digitalen immer nur verharmlosten. Und bis heute in großen, wortschönen Kommentaren unentwegt die sozialen Medien verteidigen, als handele es sich um ein unveräußerliches Kulturgut …
Es fiel nicht weiter auf, dass die „Piraten“, eine einst hoffnungsvolle Partei, die sich die digitale Transformation auf die Fahnen geschrieben hatte, nach kurzer Zeit in schrillem Streit und Gemurmel verschwand.
Es fiel auch nicht auf, WER alles ins Silicon Valley fuhr. In den Zehner Jahren machten sich so gut wie alle CEOs großer mächtiger Konzerne zur Wallfahrt ins Valley auf. Schließlich sogar Springer-Chefredakteure, die mit Bart zurückkamen und einen ganz sonderbaren Tech-Speak verbreiteten, in dem es von Anglizismen und scheinprogressivem Geschwurbel wimmelte. Das Reaktionäre und das Revolutionäre fing an, sich auf einer ganz neuen Ebene zu vereinen.
Alle schimpften unablässig gegen die Googles und Zuckerbergs dieser Welt, gegen den ganzen Grusel und Horror und Müll, der unermüdlich aus dem Netz quoll. Und fütterten doch die Maschine unentwegt mit ihren eigenen Ängsten, Süchten, Meinungen und Erregungen.
In meiner rebellischen Jugendzeit gab es so etwas wie den „Boykott“. Damit konnte man erstaunliche Effekte gegen rücksichtslose oder machtgierige Konzerne erringen. Allerdings erforderte das auch einen gewissen Aufwand. Man musste dann auch mal auf etwas strategisch verzichten.
Dass die Digitalisierung womöglich auch deshalb so schleppend verläuft, nicht weil alle so „technikfeindlich“ sind, sondern weil es einen hartnäckigen (unbewussten) Widerstand gegen ihre „Errungenschaften“, eine Art stille Sabotage gibt, die durchaus ihre Gründe hat, kommt niemandem in den Sinn.
Wer hat letztlich dieses Spiel um Macht, Geld, Einfluss und Hybris gewonnen?
Es ist der Troll.
Der Troll entstand irgendwann als Randfigur aus den Subkulturen des ausgehenden 20.Jahrhunderts. Eine Mischung aus Hacker und Punk, der im Keller von Mama und Papa verharrte und nur selten nach oben kam, um Fast Food zu sich zu nehmen. Meistens litt er unter einem starken Vernachlässigungs-Syndrom bei gleichzeitigen Größenfantasien.
Wie die isländischen Trolle in den Sagen sich zu gigantischen Monstern aufblähen, wuchs der Troll im Verlauf der digitalen Expansion aus seiner Schmollhöhle heraus in einen gigantischen Aufmerksamkeitsraum. Bis er irgendwann auf dem Mars seine eigene Welt gründen wollte.
Trolle müssen ständig ihren Weltradius ausweiten, um nicht in sich zusammenzufallen. Musk ist ein Super-Troll. Trump ist ein typischer Über-Troll. Die ganze Trump-Truppe besteht aus Trolls, etwa Stephen Miller, der designierte Stabschef des Weißen Hauses. Oder Vivek Ramaswamy, der mit Musk das Department of Government Efficiency leiten wird. Ebenso wie der Spross der Kennedys, der aus der Würde einer klassischen Dynastie herausgefallen ist. Und so weiter. Und natürlich findet sich der Troll-Typus scharenweise in den europäischen Populismus-Parteien, an sein schiefes Reden haben wir uns längst gewöhnt.
Natürlich gab es Trollerei längst schon vor dem Internet. Romane und Erzählungen von Dostojewski wimmeln von Troll-Charakteren. In einer Geschichte aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „The First Troll“ in der Zeitschrift „The Atlantic“ erkannte der Autor James Parker trollische Anklänge im Werk von Thomas De Quincey, einem exzentrischen englischen Schriftsteller, der mit seinen 1821 erschienenen Memoiren über seine Sucht, „Confessions of an English Opium-Eater“, bekannt wurde.
Trollsein hat mit Drogengebrauch und Drogendealen zu tun – auch im erweiterten Sinne. Anerkennung, Reichweite, „Influence“ sind der eigentliche „Stoff“. Welches Instrument wäre dafür besser als ein Hyper-Medium, mit dem man andere Menschen verlässlich süchtig machen kann?
Um den Bannstrahl des Monstertrolls zu entkommen, müssen wir uns gleichzeitig von zwei Illusionen befreien: Dem heroischen „Digitalismus“ als Erlösungsmaschine, die ALLE Probleme der Menschheit lösen wird. Und der Vorstellung, dass die digitale Existenz in der Lage wäre, die Analogität unserer Existenz, unser sterbliches, fleischliches Leben zu ersetzen. Wir müssten verstehen, dass wir einem Opferkult zum Opfer gefallen sind, von dem wir uns schleunigst EMANZIPIEREN sollten. Im Sinne eines Humanistischen Futurismus, der die Zukunft aus der Perspektive des Menschlichen sieht. Und verteidigt.
Die Dritte Informationskrise
Betrachten wir das digitale Desaster noch einmal aus einer überzeitlichen „epochalen“ Perspektive.
Wir, die Menschheit, die menschliche Kultur, befinden uns heute in der DRITTEN INFORMATIONSKRISE.
Die erste Informationskrise fand in einem Zeitraum von 8000 bis 2000 vor Christus während der Entwicklung der Schrift statt. Wogegen in der Jäger- und Sammlerkultur Wissen nur „gegenwärtig“ verbreitet werden konnte (von Mund zu Mund, Generation zu Generation), konnte man jetzt Wissen und „Content“ speichern – und monopolisieren. Schrift diente zunächst nicht primär der Kommunikation, sondern der Registratur – in der frühen agrarischen Welt hatten sich Überschüsse entwickelt, die in Handelsprozessen gezählt und verwaltet werden mussten. Der Anfang der Schrift war die Bürokratie. Aus diesen Kulturtechniken erwuchsen die „pyramidalen“ Kulturen – die Groß-Hierarchien der Zivilisationen am Euphrat und Nil. Es entwickelte sich eine Kaste von „Schriftgelehrten“, die das informelle Wissen verwaltete und den Herrschern zur Verfügung stellte.
Die zweite Informationskrise begann mit der Erfindung des Buchdrucks um 1450. Auch hier kam es zunächst zu einer Verstärkung von Herrschafts- und Gewaltformen: Die ersten Massendruck-Erzeugnisse waren „Hetzschriften“ – Flugblätter, mit denen etwa die Hexenverbrennung angefeuert wurden. Der verheerende 30-jährige Krieg, dem ein Drittel der zentraleuropäischen Bevölkerung zum Opfer fiel, hatte eine Menge mit dem Aufkommen massenhafter religiöser Traktate zu tun, die den Konfessionskrieg anheizten. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Drucktechnik sich in der Idee der Bildung und Redaktion demokratisierte und zivilisierte.
Informationskrisen markieren immer den Übergang von der einen in die andere Epoche. Vom „Alten Normal“ in ein „Neues Normal“. Ursache für diese Transformationen sind kognitiv-kollektive Prozesse, in denen Menschen lernen, anders zu denken, zu sprechen, zu fühlen. Die Welt auf komplexere Weise in sich selbst und untereinander zu konstruieren.
In der dritten Informationskrise, auf deren Höhepunkt wir heute zulaufen, steigern sich die informellen Prozesse in einer unfassbaren Weise. Information beschleunigt sich in einer „Echtzeitwelt“, in der alles nur im Moment erscheint. Alles ist nur noch Reiz, Impuls, Erregung – und morgen schon wieder vorbei. Diese Überbeschleunigung zerstört Wissenszusammenhänge, die „Frames“, mit denen die menschliche Kultur Wahrheit und Wirklichkeit, also Zusammenhang konstruiert. Der Horizont unserer Wahrnehmung wird gleichzeitig unendlich ausgedehnt und aufs Kleinste geschrumpft: den Klick.
Mit der Künstlichen Intelligenz lagern wir nun auch noch die Wissensproduktion an Maschinen aus. Zumindest glauben wir das. Die KI, so heißt es, sei ja unseren menschlichen Fähigkeiten überlegen. Sei „intelligenter“ als wir. Daraus entsteht eine ständige Selbstabwertung, eine Entkernung menschlicher Identität. Man hat bisweilen den Eindruck, viele Menschen könnten es gar nicht erwarten, sich selbst in Maschinen zu verwandeln, die nach berechenbaren Algorithmen funktionieren.
Unser derzeit amtierender Meta-Philosoph und Historiker Yuval Noah Harari schreibt im Vorwort seines neuen Buches „Nexus“:
„Über zehntausende von Jahren knüpften Sapiens ihre großen Netzwerke mithilfe von Fiktionen, Fantasien und Trugbildern – über Götter, Hexenbesen, KI und vieles mehr. Für sich genommen sind Menschen in der Regel daran interessiert, die Wahrheit über sich und die Welt herauszufinden, doch große Netzwerke arbeiten mit Fiktionen und Illusionen, um ihre Mitglieder an sich zu binden und für Ordnung zu sorgen. So kam es zu Nationalsozialismus und Stalinismus. Beides waren extrem mächtige Netzwerke, die durch außergewöhnlich verworrene Ideen zusammengehalten wurden. Wie George Orwell schon sagte: „Ignoranz ist Stärke“.
An diesem Punkt stehen wir heute. Wir bringen offensichtlich nicht genug „Ignoranz“ im Sinne einer kognitiven Autonomie auf, um uns gegen den Ansturm der Hypermedialität zu behaupten. Wir gehen den digitalen Sirenengesängen immer wieder auf den Leim.
Ist die Lage also hoffnungslos? Die vergangenen informellen Krisen zeigen, dass Menschen sehr wohl in der Lage sind, sich an neue Umwelten zu adaptieren. Die informelle Krise ist eine Anregung zur geistigen Evolution. Früher, in den guten alten Hippie-Zeiten hätte man gesagt: Bewusstseinserweiterung. Indem wir wieder lernen, informelle Technologien im Sinne von Komplexität und sozialem Fortschritt zu nutzen (etwa zwischen dem Digitalen und dem Analogen eine sinnvolle GRENZE ziehen), können wir die hypermediale Krise überwinden. Noch einmal Harari:
„Wir sollten nicht annehmen, dass auf Wahnvorstellungen basierende Netzwerke automatisch zum Scheitern verurteilt sind. Wenn wir aber ihren Sieg abwenden wollen, müssen wir einige Anstrengungen auf uns nehmen.“
Tun wir es also. Schalten wir ab. Ernüchtern wir uns ins Wahrhaftige. Kehren wir zurück in eine Wirklichkeit, in der die reale Beziehung zwischen Menschen Bedeutung hat. Bauen wir die innere Welt neu, damit die äußere sich wieder wandeln kann. Und der Troll sich endlich trollt.
Tristan Horx: „Danke Elon!“
Einst war ich ein Fan von Elon Musk – darauf blicke ich nun leicht beschämt und vor allem enttäuscht zurück.
Es braucht Menschen, die immer etwas zu groß träumen, um die Welt zu verändern. Leider kann eine Mischung aus Größenwahn und Kränkung einen Menschen völlig verändern. Vom Träumer zum Oligarchen, was für ein bitterer Werdegang. Vielleicht ist sein Verrücktwerden aber auch ein wichtiges Learning für uns.
So peinlich und befremdlich seine politischen Einflussnahmen doch sind, so zeigen sie uns auch sehr klar, wie grotesk soziale Medien geworden sind. Wenn Zustimmung so süchtig macht, dass der reichste Mann der Welt seinen Ruf und sein Vermächtnis dafür opfert, öffnet uns das die Augen. Es braucht die Zuspitzung, das Groteske, um es wirklich sichtbar zu machen. Die Degradierung von Twitter, zu was auch immer es jetzt geworden ist, wird ein Mahnmal für die Zukunft der sozialen Medien setzen – und das ist gut so.
Wir merken auch, wie veränderbar unsere vermeintlichen „Positionen“ doch sind. Auf einmal sind Elektroautos doch auch für die rechte „Fridays for Hubraum“-Fraktion cool. Wer hätte das gedacht! Es ging gar nicht darum, welcher Antrieb im Auto ist, sondern nur darum, GEGEN die anderen zu sein. Diese Erkenntnis könnte auch eine heilende Wirkung entfalten. Innovation ist keine Frage der politischen Couleur, wir haben uns nur in diese Denkrichtung manipulieren lassen. Auf der Suche nach unserem „Tribe“ haben wir die Rationalität völlig verloren.
Wir sollten Elon Musk dafür danken, dass er diesen Wahnsinn in aller Öffentlichkeit, Durchschaubarkeit und Peinlichkeit durchführt. Denn was hier sichtbar wird, geschieht schon lange – nur eben hinter verschlossenen Türen. Das beste Mittel gegen Korruption ist Licht, auch wenn es uns anfangs kurz blendet.
„Nichts kann existieren ohne Ordnung.
Nichts kann entstehen ohne Chaos.”
Albert Einstein
„What goes too long unchanged destroys itself.”
Ursula K. Le Guin
1. Der Name der Epoche
In dieser schwebenden Zeit zwischen den Jahren lese ich ein Buch, das sowohl Science-Fiction als auch raffinierte Gegenwarts-Story ist. Naomi Alderman heißt die Autorin eines Weltbestsellers mit dem schönen Titel „The Future“ (auch auf Deutsch erhältlich). Darin geht es um einen simulierten Weltuntergang, durch den der wildgewordene amerikanische Anarcho-Kapitalismus endlich zu Fall gebracht wird. Wie? Indem die Elon Musks, Jeff Bezos und Mark Zuckerbergs mit ihren Familien auf einer einsamen Insel ausgesetzt werden. Und dort in einer Simulation des Weltuntergangs gehalten werden, dem sie scheinbar in letzter Minute entkommen sind …
Ein raffinierter Plan von Frauen.
Geht es nur so? Betrug durch Betrug, Illusion durch Illusion zu bekämpfen?
Naomi Alderman formulierte neulich in einem Podcast einen denkwürdigen Satz:
„Die nützlichste Information, die du über Dein Leben haben kannst, ist der Name der Epoche, in der du lebst.“
Dieser Satz übt eine seltsame Magie aus. Zunächst klingt er banal: Ist es nicht vollkommen egal, wie eine „Epoche“ heißt? Was soll das überhaupt sein, eine „Epoche“? Wenn man den Satz aber auf der Seele zergehen lässt, entsteht eine tiefe Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Orientierung. Nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen. Nach Verbundenheit mit der Zeit, in der wir leben. Oder leben werden.
Wir sind von der Evolution geprägte Zukunftswesen. Wir können gar nicht anders, als uns die Zukunft vorzustellen. Unser übergroßes und unruhiges Hirn ist ständig mit Vor-Denken und Hinaus-Denken beschäftigt, mit Projektionen und Visionen, auch wenn wir es gar nicht merken. Diesen Future Mind hat uns die Evolution mitgegeben.
Wir wollen wissen, in welchen Kontexten wir uns befinden.
Wir wollen wissen, worauf alles „hinausläuft“.
Umso dramatischer ist es, wenn wir die Zukunft verlieren. So, wie es derzeit der Fall ist.
In unserer rasenden Gegenwart haben wir den Glauben an eine Werdende Zeit verloren. Eine solche Narration, eine „Morgen-Story“, ist aber für eine Zivilisation, eine Kultur, unabdingbar. Zukunfts-Vorstellungen synchronisieren die Gesellschaft, machen sie überhaupt erst handlungs- und konsensfähig. Heute aber hat sich die Zukunft hinter den Horizont verzogen. Von dort aus droht sie uns mit schrecklichen Katastrophen und Untergängen. Sie bietet uns nicht viel mehr als Schrecken und Ängste, Verzweiflung und endlose Talkshows, die uns immer wieder vor Augen führen, dass irgendwie nichts mehr besser werden kann.
2. Der Zukunftsbetrug
Der Publizist Tom Junkersdorf verfasste neulich unter dem Titel „Postfuture Hangover“ einen wunderbar poetischen Text in der Zeitschrift Business Punk:
„Wir alle haben offenbar einen Kater. Aber es geht nicht nur um eine Krankheit, sondern um das, was wir Leben nennen. Wir haben uns auf den Fortschritt gefreut. Die Technik. New Work. Die Chance auf Homeoffice, neue Werte und neue Wertschöpfung. Wir haben die Digitalisierung umarmt wie gute Gastgeber. Jetzt haben wir all das. Und spüren, dass es unserem Wohlbefinden nicht besser geht. Wir wollten Wellbeing und haben plötzlich Toxic Care. Wir wollten Wohlstand und haben plötzlich Notstand überall. Wie wollten Frieden und haben plötzlich Krieg. Man gibt den Menschen das Internet, das das Wissen der Jahrtausende enthält. Und sie suchen nach Katzenvideos. Oder speien ihren Hass hinein. Man gibt ihnen das Smartphone, das sie mit allem und jedem auf der Welt verbindet. Und sie inszenieren sich damit bis zur Selbstauflösung in Selfies. Oder speien ihren Hass hinein. Man gibt ihnen die Demokratie, und sie wählen Menschenfeinde, Antidemokraten (w/m/d, aber oft dann nur noch m). Speien also ihren Hass hinein.“
Man kann dieses bittere Lamento leicht weiterführen. Sind wir nicht alle zutiefst enttäuscht vom Gang der Dinge, vom „Wesen der Welt“, wie es sich heute darstellt? Klafft da nicht ein riesiger Enttäuschungs-Spalt zwischen unseren Erwartungen, unseren legitimen Wünschen, und der Realität?
Aber was ist das überhaupt, „Realität“?
Und wie kommen wir aus dieser Jammerspirale hinaus?
Der zukunftslose Zustand ist relativ neu. Vor Corona war die Zukunft noch ziemlich klar am Horizont erkennbar: Sie bestand aus einer Verlängerung des „Immer besser, immer mehr“, die wir im Großen und Ganzen in 80 Jahren Frieden und Wohlstandsgewinn erfahren durften. Man musste nur die bestehenden Groß-Trends, die MEGATRENDS, weiter nach vorne verlängern: Mehr Globalisierung – die Welt würde zu einem einzigen Kultur- und Wirtschaftsraum zusammenwachsen. Mehr Handel und Wandel, wodurch die Demokratie ihren Siegeszug fortsetzen würde. Aus der alten Industriegesellschaft mit ihren Klassenkämpfen und Schichtenspaltungen entstand die Wissensgesellschaft, in der hohe Bildung für alle die Ungleichheiten der Gesellschaft auflösen würde. Segensreiche Digitalität würde alle weiteren Probleme lösen, der Fortschritt würde sich immer weiter beschleunigen (Innovation! Disruption!), bis unsere Straßen von Robotern bevölkert sein würden, die uns die dumme Arbeit abnehmen und alle Züge pünktlich fahren ließe. Und alles wäre nachhaltig! So sah die Zukunft aus. Nur klingt das heute wie das Rattern und Quietschen eines schon längst aus den Gleisen gesprungenen Zuges.
3. Das Kafka-Gefühl
Wer war die wahre Kultfigur des vergangenen Jahres 2024? Britney Spears? Chat GPT? Ich glaube es war Franz Kafka. Kafka lebte Anfang des vergangenen Jahrhunderts, er stolperte durch eine Welt, in der nichts zusammenpasste. Überall sind die Türen zu groß, man wird nicht vorgelassen und schon gar nicht angehört. Man wacht morgens als Käfer auf und kann nichts dagegen tun als zappeln. Im Haus wohnt ein Wesen namens Odradek, ein sprechendes Wesen in Form eines Zwirnsterns (einer Spule, auf die ein Faden gewickelt ist – das kennen wir nur allenfalls noch aus der Nähkiste unserer Großmutter).
(In der Kafka-Erzählung „Die Sorgen des Hausmeisters“)
Wer würde hier nicht an die Künstliche Intelligenz denken, die alles besser weiß, aber jeden Sinn sabotiert?
Ein antiislamistischer Mediziner und Psychologe aus Saudi-Arabien, AfD-Sympathisant, überfährt mit seinem Auto 200 Menschen und tötet 5 auf einem Weihnachtsmarkt. Er benutzt dabei die Flucht- und Rettungswege, die für Notfälle vorgesehen sind. Was die AfD nicht daran hindert, mit dieser Monstrosität rechtsradikalen Wahlkampf zu machen.
Kafka hätte nur sein leeres Lächeln gezeigt.
Frank Kafka lebte in einer Epoche, in der die alten Ordnungen brüchig geworden waren – ähnlich wie heute. Er beschreibt dies als den Zustand „unhaltbarer Existenz“. Da die Welt im Großen nicht mehr stimmig erscheint, lebt jeder in einer eigenen Wahrnehmungsblase. Jeder hat irgendwelche Meinungen, ohne dass daraus ein Gesamtbild entsteht, auf das wir uns beziehen können. Nichts kommt zusammen, um ein tragfähiges Neues zu bilden.
Man kann diesen Zustand aber auch als ein deutliches Anzeichen für einen Epochenwechsel sehen.
Das Alte hat noch nicht aufgehört, es zappelt und rumort besonders laut. Aber längst klopft etwas Neues an die Tür. Ein neuer Zusammenhang.
Die Frage ist nur, ob wir das überhaupt hören. Ob wir die Tür öffnen. Oder vor lauter Angst gleich wieder zuschlagen.
Vielleicht wachsen die Monster nur, solange keine frische Luft hereinkommt.
4. Die Omnikrise
Der Langzeit-Futurist Ari Wallach nennt in seinem Buch „Longpath“ – Becoming the Great Ancestors of our Future Needs“ den Übergang von einer Epoche zur anderen einen „Gezeitenwechsel“:
„Viele Menschen fragen mich, was einen Gezeitenwechsel so besonders macht und warum er sie interessieren sollte. Wir erleben ständig kleine Paradigmenwechsel innerhalb einer bestimmten Branche oder einer Kultur. Das Aufkommen des Internets, das Fallen der Geburtenraten, den Anti-Grün-Trend oder die Veränderung der Gesetzgebung zugunsten von Minderheiten. Das Leben scheint trotzdem normal weiterzugehen. Ein echter Gezeitenwechsel tritt ein, wenn sich die Paradigmenwechsel verschärfen und miteinander verflechten, wenn der Grad der Komplexität und Verwirrung den Rahmen sprengt. Und was am wichtigsten ist: Wenn die zugrunde liegenden Ideen, Narrative und Regeln dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, in Frage gestellt werden.“ (S. 38)
Wir haben dieses Phänomen die OMNIKRISE getauft. Omnikrisen unterscheiden sich von „normalen“ Krisen dadurch, dass in ihnen nicht nur irgendein Bereich eine vorübergehende Störung hat. Etwa der Finanzsektor oder das Gesundheitswesen oder die Ökonomie, die nicht wachsen will, wie wir es erwarten. In einer Omnikrise wirken viele krisenhafte Erscheinungen aufeinander ein, verstärken sich gegenseitig, werden zu einem krisenhaften Gesamt-Erleben, bei dem „die Welt aus den Fugen“ gerät.
Die Omnikrise unserer Tage ist vor allem eine kognitive Krise. Wir erkennen die Welt nicht mehr. Wir leben in einer „radikalen Medialität“, die unsere Wahrnehmungen in lauter Bruchstücke zerfallen lässt. Ist nicht ALLES inzwischen Fake, Lüge, Simulation, Betrug und Selbstbetrug? Alles scheint plötzlich gegeneinander zu stehen, auseinanderzufallen in Paradoxien, Unlösbarkeiten, Gegnerschaften: Ökonomie GEGEN Ökologie. Individualität GEGEN Gemeinschaft. Technologie GEGEN Erfahrung. Kommunikation GEGEN Verbindung und Verbindlichkeit …
Henne gegen Ei …
Daraus kann ja nichts werden.
Omnikrisen entstehen, wenn die Systeme, die uns umgeben, in einen Zustand der Übersättigung geraten. Nichts lässt sich mehr steigern, muss aber um jeden Preis gesteigert werden. Aus dem „Immer mehr“ wird das „Viel zu viel.“ Zu viel Billiges. Zu viel Information, die wir nicht zu Wissen (das Verstehen von Zusammenhängen) verarbeiten können. Zu viel Marmeladesorten, Gleichzeitiges, Ungünstiges, Peinliches, Banales.
In einer Omnikrise verwandeln sich die Systeme unserer Zivilisation in „Molochfallen“. „Moloch“ ist die Bezeichnung für einen archaischen Opferritus, bei dem Kinder geopfert werden mussten. In einer Molochfalle wird jeder und jede zum Zwangsteilnehmer eines Systems, das sich von innen zersetzt. Man wird gezwungen, etwas zu tun, was man eigentlich vermeiden will, aber nicht vermeiden kann, wenn man weiter mitspielen will. Radfahrer müssen dopen, weil sie sonst gar nicht erst bei der Tour de France antreten können. Politiker müssen ständig populistische Rhetorik raushauen – das Söder-Syndrom – weil sie sonst nicht mehr gewählt werden (zumindest fürchten sie das, was schon ausreicht, um den Effekt zu erzeugen). Im Internet müssen Frauen einen digitalen Schönheitsfilter benutzen, was unentwegt Hässlichkeits-Reflexe erzeugt und Menschen in Puppen verwandelt. Wir alle müssen haufenweise Müll und CO2 erzeugen, damit wir konsumieren oder mobil sein können. Jeder Journalist muss in Sachen Sensation, Zuspitzung, Übertreibung noch einen draufsetzen, sonst wird er von KI ersetzt.
So entsteht eine Wirklichkeit, in der man nicht mehr wirken kann. Man muss immer schneller rennen, so wie es die Rote Königin in Alice im Wunderland verlangt. Und bleibt noch nicht mal auf der Stelle.
Der amerikanische Kinderarzt und Pharmazeut Jonas Salk (1914-1995) schenkte der Menschheit Anfang der 50er Jahre den Impfstoff gegen die Kinderlähmung, eine der schrecklichsten Infektionskrankheiten überhaupt. Auf die Frage, warum er sein Impf-Patent einfach an die Weltgesundheitsbehörden verschenkt hatte, antworte er in einem Interview:
„You can’t patent the sun.“
(Man kann die Sonne nicht patentieren.)
Neben seiner medizinischen Forschertätigkeit war Salk ein universalistischer Humanist. Dabei griff er auf philosophische Konzepte wie Tikkun Olam zurück. Das hebräische Wort stammt aus der judäischen Philosophie und heißt „Welt-Reparatur“ oder „Konstruktion für Dauer“.
Salk beschäftigte sich – wie später der Unternehmensberater Charles Handy – intensiv mit der Dynamik von Kurven-Systemen. In ihnen sah er die Grundmatrix jeden Wandels: Sigmoide oder „Schwanenhalsfunktionen“, beschreiben Absatzentwicklungen, Populationsverläufe, Konjunkturzyklen, das Auf und Ab von Lebenszyklen. Mit ihnen lassen sich die Dynamiken von Liebesbeziehungen oder Unternehmensbilanzen ebenso modellieren wie die Zyklen von Sternen und Galaxien. Mit Sigmoiden lassen sich vor allem die Übergänge von Gesellschaftsformen und Zivilisationen darstellen.
Salk sah bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts voraus, dass die globale Populationskurve im 21. Jahrhundert ihren Zenit erreichen würden. Schon zu seiner Zeit sanken die Geburtenraten in den Industrieländern. Salk konnte als Immunologe und Kinderarzt die Zusammenhänge zwischen Kindersterblichkeit, wachsendem Wohlstand und Geburtenrate prognostizieren, weil er in Zusammenhängen dachte. Seine Prognose, dass die Bevölkerung der Erde gegen Mitte dieses Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichen und die Menschheit danach wieder schrumpfen wird,
Wenn eine Kurve nach oben strebt, kann die Illusion entstehen, es ginge immer so weiter, ins Exponentielle. Aber das Universum kennt keine Exponentialität (jedenfalls keine, die die umlegende Komplexität nicht zerstören würde, Beispiel Krebs). Die Kurve neigt sich also wieder. Entweder entsteht dann ein neues Äquilibrium – Selbststabilisierung auf einem neuen Niveau. Oder die Kurve „stürzt ab“, nachdem sie einen „Tipping Point“ erreicht hat.
Nach Salk haben Sigmoidkurven zwei Phasen, es handelt sich eigentlich um ZWEI Kurven: Die aufsteigende und die abschwächende Phase. In der Mitte einer Sigmoidkurve existiert ein inflection point, ein Wendepunkt, an dem sich „die Richtung ändert“. Dieser trennt den ersten Teil der Kurve vom zweiten.
Im acceleration growth herrschen expansive Erwartungen: Optimismus, Euphorie, Aufbruch – alles passt irgendwie zusammen. Das Denken ist erwartungsvoll und optimistisch – zukunftsorientiert eben. Die Haltungen und Handlungen der Menschen sind expansiv, vorwärtsstrebend, „progressiv“. Wie sang die Band Fehlfarben in den neunziger Jahren? – „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht – ES GEHT VORAN!“.
Wenn die Kurve sich wendet (deceleration growth), dreht sich der Erwartungshorizont der Kultur: Man spürt, dass es „so nicht mehr weitergehen kann“. Aber man will es nicht so gerne wahrhaben. Ängste breiten sich aus, Bezichtigungen wuchern. Kommende Knappheiten werden vermutet – und durch gesteigerte Furcht regelrecht hergestellt. Unruhen und Hysterien häufen sich. Die Gesellschaft spaltet sich in jene, die um jeden Preis noch schneller voran wollen – in die rasende Exponentialität. Und einen Teil, der eher auf die Bremse treten möchte. Um sich neu orientieren zu können, mit dem Blick auf eine mögliche Stabilisierung.
Man kann den Epochen-Übergang auch in einer „Zitterkurve“ darstellen, zwischen ansteigender und absteigender Kurve liegt eine Phase der chaotischen Turbulenz. Wie lange diese Turbulenz dauert, ist schwer vorherzusagen. Es hängt von der Reife einer Bevölkerung ab. Von der Weisheit von Leitpersonen. Von der Wandlungsfähigkeit, der Future Fitness der Gesellschaft – der Fähigkeit, in veränderten Umständen adaptiv zu werden.
Der Gesamtverlauf von Epochen lässt sich auch in einer oszillierenden Linie darstellen. In den Anfangsphasen eines „Zeitalters“ (einer Zivilisationsform/Lebensweise/Kultur) stabilisieren sich die Verhältnisse durch ständige kleine Aufs und Abs von selbst. Danach nehmen die Schwingungen und Amplituden fortlaufend zu – bis zu jenem Entscheidungspunkt, an dem das System entweder auf eine höhere oder eine niedrigere Komplexitäts-Ebene springt. Nach den Sprungpunkten verzweigen sich die Verläufe weiter – in einen unruhigen Abstieg in weniger komplexe Zivilisationsformen. Oder einen weiteren Aufstieg in höhere Komplexität und Integration.
Wenn neue Epochen entstehen, synchronisieren sich die verschiedenen Elemente, die zu einer Gesellschaft gehören. Sie ordnen sich zu einer neuen Dynamik (Alignment).
Wenn Zivilisationen zerfallen, verwirren sich die einzelnen Stränge der Komplexität, die Ebenen unserer Lebensweise, die Elemente unserer Gesellschaftsform (Resolution).
Salks Überlegungen zur Kurvendynamik waren nicht im strengen Sinn mathematisch. Sie basierten auf einer intuitiven Wahrnehmung von Komplexität und Chaos, Wirkung und Rückwirkung. Salk dachte in seinen Modellen kein bisschen moralisch, oder „idealistisch“. Er wandte die Gesetze der Evolutionstheorie auf den menschlichen Kulturzusammenhang an. In der aufstrebenden Phase werden bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Individualität, Machtpräferenz, Wettbewerb, Autonomiestreben, Tendenz zu Extremen sozusagen „ausgelesen“ – sie entsprechen der evolutionären Fitness, die in dieser Phase notwendig ist. Nach dem „Inflection Point“, wenn die expansiven Kräfte nachlassen, werden jedoch andere Parameter wirksam. Verbesserte Kooperation in Arbeitswelt und Politik, Kompromissfähigkeit, „Coopetition“, also eine milde Konkurrenz, mit der Unternehmen untereinander UND mit der Gesellschaft kooperieren. Sensibilität für Andere und das Streben nach Balance statt Dominanz wird nun evolutionär erfolgreicher.
„Wir stehen an einer Grenze“, schrieb Salk in seinem Buch „A New Reality“. „Aber sie ist weder territorial noch technologisch, sie ist menschlich und sozial. In dieser Zeit sich verändernder Bedingungen und Werte kommen Zweifel auf, ob wir diese Grenze überschreiten und den Anforderungen der Zukunft gerecht werden können … Wenn uns das gelingt, werden wir aus der gegenwärtigen Zeit nicht nur als Überlebende hervorgehen, sondern als Menschen in einer neuen Realität.“
Ein späteres Buch von Jonas Salk hieß „Survival of the Wisest“. Hier definierte er den Gang der Humangeschichte als Bewusstseinsprozess, in dem Menschen, Kulturen, Gesellschaften durch Krisen lernen. Hier lag der Kern seines evolutionär-humanistischen Optimismus. Und dort findet sich auch der Schlüssel zum wahren Hoffnungs-Horizont unserer Zeit: Nach Zeiten der Verwirrung und Chaotisierung entstehen immer auch neue Ordnungs-Systeme. Die meisten von ihnen auf einer höheren Ebene der Komplexität.
Jonas Salk und Jonathan Salk: A NEW REALITY – Human Evolution for a sustainable Future. City Pint Press 2018, S. 22
Wie also lautet der Name des „Next Age“, des nächsten Zeitalters? Das können wir nicht wissen, aber wir können unsere Ahnungen entwickeln. Neue Epochen entstehen nicht durch Planung, sondern durch Reaktionen auf Krisen. Sie stabilisieren sich sozusagen „rückwärts“, durch Neuanfänge, aus denen irgendwann Kontinuität wächst.
In Zeiten der Omnikrise sollten wir zunächst Enttäuschungskompetenz üben. Ent-Täuschung, mit Bindestrich geschrieben. Damit wir nicht innerlich am Alten kleben bleiben, und immer nur Verluste bejammern, ist es wichtig, nutzlose Illusionen loszulassen.
Wir gewinnen die Zukunft, wenn wir wieder zu Staunen beginnen. Was alles trotzdem möglich ist. Was alles noch werden kann. Chaotische Zeiten müssen nicht immer nur Zeiten des Leidens und des Niedergangs sein. Nicht alles muss so schlimm kommen, wie befürchtet. Man denke an Syrien, ein Land, das wir, wenn überhaupt, noch bis vor Kurzem als toten Fleck auf der Landkarte wahrgenommen haben. Plötzlich wird ein Tyrann vertrieben. Eine erstaunliche Positiv-Energie entsteht. Und schon reagieren wir mit einem selbstgerechten Belehrungs-Pessimismus: Das kann ja gar nicht gutgehen! Das böse Ende kommt bestimmt!
Es geht um Würde. Eine Art Zukunfts-Würde die uns aus der ewigen Jammer-, Angst- und Beschwerderoutine herausführt. Nicht ins Abseits, sondern ins Doing Future.
Doing Future meint: Mit der Zukunft im Jetzt beginnen. „Die Zukunft ist keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen.“ (Florence Gaub. Eine neue Epoche beginnt immer im Kleinen, im Provisorischen, im Zwischenmenschlichen. Neue Lebensformen zu entwickeln. Neue Ökonomien zu probieren. Durch neue Gedanken über sich selbst hinauswachsen. Der Verunsicherung eine „Protopie“ entgegenzusetzen – ein Handeln über den Tag hinaus, mitten in der Praxis des Lebens.
Wenn wir die Zukunft höflich nach ihrem zukünftigen Namen fragen, verwandelt sich unser Bewusstsein durch die Frage selbst. Wie sagte der Neurowissenschaftler Anil Seth so schön? „We predict ourselves into the future!“
„Erst wirbeln wir Staub auf, dann beklagen wir uns,
dass wir nichts sehen können.”
George Berkeley, Theologe, Sensualist und
Philosoph der Aufklärung, 1740
„Die eigentliche Ursache des Leids liegt in unserer Unwilligkeit, Tatsachen als reelle Tatsachen und Ideen als bloße Ideen zu sehen, und dadurch, dass wir ununterbrochen Tatsachen mit Konzepten vermischen. Wir tendieren dazu, Ideen für Tatsachen zu halten, was Chaos in der Welt schafft.”
Paul Watzlawick
Welches ist das wichtigste Gefühl aller menschlichen Gefühle?
Die Angst, sagen jetzt viele. Die Angst frisst alles auf.
Die Liebe, behaupten manche. Die Liebe kann, nein muss uns retten.
Aber vielleicht ist es doch eher die Sehnsucht. Die Sehnsucht ist mehr als ein Gefühl. Sie beinhaltet die Liebe und absorbiert die Angst. Sie ist eine innere Spannung, die uns lebendig hält. Sie verbindet uns gleichzeitig mit dem Morgen, als Möglichkeits- und Hoffnungsraum. Aber auch mit uns selbst, mit unseren Wünschen, Ängsten, Vor-Stellungen, die aus unserem tiefsten Inneren entspringen.
Menschen sind Zukunftswesen. Wir sind von der Evolution dazu geschaffen, ja dazu designt, uns die Zukunft vorzustellen. Und aus diesen Vorstellungen Pläne, Handlungen, Erneuerungen zu erschaffen. „Having a future is part of what being human is about.“, schrieb der amerikanische Zukunftsforscher Kevin Kelly. „When you take away the future for humans, you take a lot of their human-ness.” (Eine Zukunft zu haben, ist Teil des Menschseins. Wenn man den Menschen ihre Zukunft nimmt, nimmt man ihnen viel von ihrer Menschlichkeit.)
Wenn wir die Zukunft verlieren, verlieren wir uns selbst. Nur als hoffende, sehnende Wesen können wir wachsen und gedeihen. Und weil das so ist, sind wir derzeit in einer dramatischen, ja tragischen Situation.
Denn wir leben in einer Zeit der Zukunftslosigkeit. Des Verlustes von Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Endzeit einer Fortschritts-Epoche, die sich als eine Illusion zu erweisen scheint. Die Zukunft hat sich hinter den Horizont zurückgezogen. Von dort aus droht sie uns. Mit schrecklichen Katastrophen und endlosen Weltuntergängen. Mit entsetzlicher Öde (wir verwandeln uns alle in Maschinen). Oder mit einem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation. An deren Zivilisiertheit wir mehr und mehr zweifeln.
Es ist Zeit, unsere Zukunfts-Sehnsucht wieder zu beleben. Dafür müssen wir zunächst unterscheiden, auf welche Weise wir die Zukunft in unserem Inneren konstruieren. Auf welche Weise SEHNEN wir die Zukunft herbei? Wie setzen wir uns mit ihr in Verbindung? Unsere Vorstellungskraft stellt uns viele Möglichkeiten zur Verfügung: utopische, protopische, dystopische, meta-visionäre und hyper-halluzinative. Wir „zukünften“ die Welt durch unsere inneren Wahrnehmungen, geben ihr eine Gestalt, die dann unseren MIND in eine bestimmte Richtung zwingt.
Wie wir die Welt imaginieren, so kann, so wird sie in gewisser Weise auch werden …
Brauchen wir nicht in einer Zeit der zunehmenden Zukunfts-Losigkeit mehr UTOPIEN? Das fordern viele. Aber Vorsicht! Utopien haben schwere Nebenwirkungen.
Die Utopie ist ein Idealzustand am Horizont, den man nie erreichen kann. Denn wenn man sich ihm nähert, erweist er sich als unwirklicher „Nichtort“. Utopien scheitern an einer Festlegung, die keinen Raum mehr für wirklichen Wandel lässt. Alles ist von vornherein festgelegt. Deshalb gehen die Utopien immer an einem Akt der Verzweiflung zugrunde: Wenn wir eine Utopie zu verwirklichen versuchen, geraten wir in eine verengte Form der Wahrnehmung, die immer alles am Perfekten misst – und dadurch negativ beurteilt. Schnell suchen wir nach den Verrätern, die den hehren Traum verderben. Schnell zerfällt alles in Fraktionen, die um Ideologien streiten statt Wirklichkeit zu schaffen. Statt Aufbau entsteht Verfolgung. Statt Freiheit beginnt Tyrannei. Auf diese Weise sind schon so viele Utopien tragisch gescheitert, so viele Revolutionen an sich selbst zerbrochen, dass wir zum Utopischen lieber eine kluge, ironische Distanz halten sollten.
Die Dystopie ist die Rückfallposition des Utopischen. Wenn wir von der Zukunft nichts mehr erhoffen, wenden wir uns einer negativen Utopie zu, in der wir eine ganz eigenartige Form von Genuss finden können (der Antipsychiater Lacan nannte das die „jouissance“). In der endzeitlichen Phantasie überhöhen wir uns selbst und kompensieren unsere Schuldgefühle und Aggressionen zu lustvollen Straf-Emotionen. Die Menschheit ist selbst schuld! „Der Mensch“ ist so blöd, dass er endlich aussterben muss! Im Weltuntergang wird eine negative Gerechtigkeit wieder hergestellt: Alle sterben, niemand überlebt, niemand kann Besseres erschaffen. Läuterung durch Zerstörungsphantasie. Die Dystopie ist in Wahrheit ein narzisstischer Größenwahn, in dem wir uns vorstellen, so mächtig zu sein, dass wir die ganze Welt zerstören können. Allerdings wird auch das nicht gelingen.
Der Begriff der PROTOPIE wurde vom Zukunftsforscher Kevin Kelly geprägt – als Gegenentwurf zu den hypertrophen Visionen und Utopien der High-Tech-Zeit. Eine Protopie ist ein Entwurf. Ein aufrichtiger Versuch des Besseren. Sie ist ein Provisorium, ein Prototyp, den wir verbessern können, in kleinen, graduellen Schritten, die sich dann durch Lernprozesse weiterentwickeln lassen. In der Protopie verzichten wir auf den Perfektionswahn des Utopischen; wir wissen, dass auch Scheitern und Unglück zum Leben dazugehören. Anders als die Utopie lässt uns die Protopie die Freiheit der Wahl, die Würde des Experiments. Daraus entsteht Zukunft als ständige Verwandlung.
Wer eine Vision hat, soll zum Arzt gehen. Schon hunderttausendmal ist dieser Satz durch die Behauptung des Gegenteils widerlegt worden. Aber auch das Gegenteil ist falsch. Visionen können tatsächlich pathologisch werden.
Hypervisionen sind Trugbilder, die uns in täuschende Wahrnehmungen der Wirklichkeit zwingen. Sie sind übertriebene, verzerrte Wunschbilder. In ihnen sehen wir die Zukunft ausschließlich durch unsere Ego-Projektionen und konstruieren sie als das Zerrbild der Gegenwart. Wir geraten in Übertreibungen und Halluzinationen, die uns einsam und hilflos werden lassen. Aber gleichzeitig fühlen wir uns ungeheuer mächtig, denn WIR allein wissen über die Welt Bescheid. Das Elon-Musk-Syndrom.
Der polnische Philosoph Zygmunt Bauman taufte mit diesem Begriff die Rückwärts-Utopie. Retrotopien sind immer dann angesagt, wenn der Weg in die Zukunft versperrt scheint und wir uns dem Wandel, der mit Schmerzen verbunden ist, verweigern. Retrotopien scheitern auf vielfältige Weise: Erstens, weil man die Vergangenheit nicht einfach wieder„herstellen“ kann – sie sähe, wenn wir sie betreten würden, vollkommen fremd und anders aus, wie ein Puppentheater oder ein schreckliches Museum. Zweitens war die Vergangenheit nie „besser“. Unsere „Retro-Bias“ lässt uns vielmehr in der Illusion, Erinnerung wäre eine Speicherung des Früheren. In Wirklichkeit KONSTRUIEREN wir die Vergangenheit durch Erinnerung als Illusion.
Der einzige Weg, in dem wir „die Zukunft erreichen“ können, ist die (Selbst-)Verwandlung. Wie eine Raupe, die sich beim Verpuppen in einen Schmetterling umformt, müssen wir die alte Form auflösen, um eine neue Wirklichkeit zu gewinnen (Wirklichkeit ist die Realität, in der wir wirken, also existieren können). Es ist ratsam, eine neue Atmosphäre atmen zu lernen, wenn wir einen neuen Planeten betreten. Nur indem wir uns beim Übergang in eine neue Welt selbst verwandeln, erzeugen wir die Zukunft.
Daniel Görtz und Emil Ejner Friis alias Hanzi Freinacht gehören zu den interessantesten Vordenkern der Jetztzeit.
Hanzi Freinacht hat einen imposanten Bart und einen coolen Glanz in all seinen Gesten und Aktionen. Sein Stil ist elegant und immer auch ein bisschen ironisch. Er hat etwas Aristokratisches, oder sagen wir: Post-Aristokratisches.
Hanzi Freinacht ist ein Privatgelehrter unserer Zeit. Er lebt hoch in den Bergen Mitteleuropas, womöglich in der Schweiz, wo er ausgiebige Spaziergänge in der Natur macht. Er lebt in freiwilliger Enklave, ist aber verbunden mit vielen Andersdenkern, Aktivisten und Zukunfts-Geistern dieser Welt. Ein intellektueller Alm-Öhi, der konservativ und progressiv zugleich ist.
Es wird Sie womöglich nicht überraschen, dass Hanzi Freinacht nicht existiert. Freinacht ist eine künstliche Figur, die auf eine gewisse Art trotzdem sehr real ist. Er wurde von zwei jungen soziologischen Philosophen (oder philosophischen Soziologen) aus Schweden und Dänemark erfunden. Sie heißen Daniel Görtz und Emil Ejner Friis, und sind nicht die einzigen, aber die derzeit bekanntesten Vertreter einer neuen Denkweise, von der wir in Zukunft noch viel hören werden: Dem Metamodernismus.
What the fuck ist METAMODERN?
„Bitte nein!“, – könnte man jetzt schreckhaft ausrufen. Nicht schon wieder eine von diesen Super-Theorien, mit denen wir seit Jahr und Tag aus den Hochburgen des Intellektualismus belästigt werden!
Ich bitte um etwas Geduld. Vielleicht bietet sich hier tatsächlich eine Gelegenheit, unser Welt-Bild, die Art und Weise, wie wir über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken, mit einer konkreten Philosophie zu vermitteln. Die dänische Futuristin Lene Rachel Anderson schreibt in ihrem Buch Metamodernity – Meaning and Hope in a Complex World:
„Die Metamoderne bietet uns einen Rahmen, um uns selbst und unsere Gesellschaften auf eine viel komplexere Art und Weise zu verstehen. Sie ist eine Möglichkeit, das lokale, nationale, kontinentale und globale kulturelle Erbe zu stärken. Sie enthält sowohl indigene als auch vormoderne, moderne und postmoderne kulturelle Elemente und bietet somit gleichzeitig soziale Normen und ein moralisches Gefüge für Intimität, Spiritualität, Religion, Wissenschaft UND Selbsterforschung.“
Ganz schön hoher Anspruch, oder?
Aber fangen wir von vorne an. Mit einer Begriffsklärung.
Woran denken Sie, wenn Sie „Moderne“ hören? An skandinavische Möbel vielleicht. Den Grand-Comfort-Sessel von Corbusier oder die Bauhaus-Architektur. Wie wäre es mit abstrakter Kunst, modernen Einbauküchen, Astronauten-Anzügen oder Flugzeugen, die „pfeilschnell“ und silbern durch die Luft fliegen, mit immer fröhlichen und glücklichen Passagieren an Bord (kann sich noch jemand an die Concorde erinnern –, ein Flugzeug, das wie nichts anderes die Neue Zeit repräsentierte, bevor sie verschrottet wurde?)?
Die Moderne ist die Zeit, das Lebensgefühl unserer Kindheit, in den Jahrzehnten, bevor alles kompliziert wurde. Als alles immer geradeaus lief, und irgendwie immer besser wurde. Werden musste. Ging gar nicht anders.
Man kann die Metamoderne als eine Art Bewusstseinsmutation begreifen. Wir fangen an, die Welt neu zu begreifen, indem wir sie aus den Bruchstücken der vergangenen Zukünfte neu zusammensetzen.
Die Moderne war eine Zeit, in der alles zusammenpasste – im Sinne eines euphorischen Fortschrittsgedankens, der die Zukunft mit SINN erfüllte. Ein ständiger Strom von Innovationen, Sensationen, Neuigkeiten veränderte die Welt zum Besseren, Komfortableren. Das Neue war immer sensationell, und ausschließlich positiv: Modern waren Supermärkte, Autobahnen, Strukturen aus Beton. Computer, Roboter, all das, was man uns auch heute noch als Zukunft verkauft, und vor dem es kein Entrinnen gibt. Modern waren Kleinfamilien, Autos mit immer mehr „Pferdestärken“, alles, was die Welt beschleunigen konnte, einschließlich Öl, Kohle, Gas (man spricht auch von der „fossilen Moderne“).
Die „Moderne“, wie man diese Episode nennt, hat die letzten 200 Jahre der menschlichen Geschichte tiefgreifend geprägt. Und zwar weit über jenen Kulturkreis hinaus, den wir „den Westen“ nannten.
Typische Grund-Ideen der Moderne waren oder sind:
Die Wissenschaft ist objektiv und gestaltet die Zukunft.
Fortschritt und Entwicklung gehen immer schneller immerzu weiter.
Vernunft bringt alle Menschen zusammen; Demokratie verwandelt die Welt überall zum Besseren.
Freiheit ist der allerwichtigste Wert, wenn er verwirklicht wird, ist alles gut (es gab auch eine kommunistische Moderne, in der alles anders war – eine Art spiegelverkehrte Moderne, die schnell an sich selbst scheiterte).
Die Menschen können, müssen die Natur beherrschen und formen.
Was die Moderne vor allem auszeichnete war, dass sie als Erwartungs- und Lebensgefühl konsistent und konsequent war. Die Moderne, verbunden mit den Produktionsweisen des Industrialismus (in Ost und West), vereinte die Gesellschaft in einer eschatologischen Erwartungshaltung. Jenseits von Klassen-, Bindungs- und Kulturschichten markierte sie die Grundperspektive einer Welt, die an die Zukunft glaubte.
Doch genau diese Gewissheit ist heute grundlegend zerstört und verwüstet.
Die Postmoderne: Rebellion, Zweifel, Sinnzerfall, immerwährende Kritik
Der Zweifel an der Moderne begann bereits in ihrer kraftstrotzenden Zeit. Schon mitten im Nachkriegs-Boom mit seinen überwältigenden Konsum- und Wohlstandsversprechen geriet der Fortschritt irgendwie ins Stolpern. Die Ölkrise, der Vietnamkrieg, eine zunächst marxistische, dann hedonistische Jugendrevolte, die ALLES infrage stellte… Die beginnende Ökologiefrage, die Kritik an der „Technokratie“, die den Menschen immer mehr als Teil einer einzigen (Fortschritts-)Maschine sah – das erzeugte eine andauernde Turbulenz, einen Sinn-Riss inmitten der Gesellschaft. Die Skepsis klopfte laut an die Mauern des rasenden Fortschritts. Und dahinter klang es plötzlich hohl.
Im Jahr 1973 erschien der erste große postmoderne Roman: „Die Enden der Parabel“ (Gravity’s Rainbow). In Thomas Pynchons Kunstwerk wurde die Welt nicht mehr synchron, sondern zufällig und gnadenlos dargestellt. Nicht die geraden Linien des Fortschritts bestimmten die Zukunft, sondern die gekrümmten Bahnen von Raketen (kommt uns das heute nicht wieder bekannt vor?). Das Leben erweist sich als ständiger Einschlag, der nicht zu berechnen ist, als permanente Verstörung, Zumutung, Verunsicherung. Die Zukunft lag in dieser Erzählung nicht mehr geradeaus, in den Linien der steten Verbesserung und Beschleunigung. Sie überfiel uns plötzlich von hinten, narrte uns, verwirrte unsere Menschlichkeit.
Wie die Moderne entwickelte auch die Postmoderne ihre eigene Ästhetik. Sie löste die Stromlinien-Formen wieder ins Barocke und Widerspenstige auf. Da war die nihilistische Fröhlichkeit des Punks, der an nichts glaubte – aber mit viel Gefühl rebellierte. Die verschobenen Fassaden und Formen der postmodernen Architektur, eines Designs, das fröhlich alles zitierte und dekonstruierte. In der Kunst entstanden postmoderne Superstars wie Andy Warhol oder Jeff Koons. Postmodernismus lebte von Übertreibung, Zuspitzung, Sarkasmus, rebellischen Posen, die aber immer schnell in Affirmation umschlugen. Wir sind Kunstwesen, alles ist nur Pose – lasst uns wenigstens DAS feiern!
Typische postmoderne Ideen sind:
Misstrauen gegenüber ALLEN Narrativen, die einen größeren Zusammenhang ausdeuten wollen.
Moral entwickelt sich immer nur aus dem Subjekt oder bestimmten Interessen heraus. Es gibt keine allgemeine Ethik.
Be against it! Dagegensein, Verneinung, als Weltprinzip.
Es gibt nur Zitate, keine „reale Wirklichkeit“.
Die Menschheit hat die Biosphäre zerstört und muss büßen – recht so!
Zynismus als Lebenskonzept.
Auf eine komplementäre Weise passten Moderne und Postmoderne wunderbar zusammen. Während die Moderne immerzu bejahte, aber das, was nicht in ihr Konzept passte, einfach ignorierte, verneinte die Postmoderne von vornherein alles, stellte alles infrage und gefiel sich in Kritik. Dabei verlor sie ihren spielerischen Charme, wie er noch im Punk, in den Noir-Filmen oder in den verspielten Designformen vorhanden war.
Der Spätmoderne fehlt jede Sehnsucht, jede Vision, jede Ferne. Sie ist daher ganz ohne Aura. Ohne Zukunft.
Byung-Han, Die Krise der Narration
Karl Hosang, einer der wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Metamoderne, bringt es so auf den Punkt: „Die Postmoderne blieb letztlich gelähmt; sie buddelte die Untaten der Fortschrittsmoderne aus und fand das Schlechte im Menschen. Sie dekonstruierte den Fortschritt – aber ließ auch keine Lösungen übrig. Sie wurde ob der ökologischen und sozialen Probleme zynisch und träge.“ („Der Methodenkoffer der Metamoderne”, in „Die Metamoderne”, hrsg. v. Maik Hosang, Gerold Hüther, S. 301).
METAmoderne – ein Neubeginn der Aufklärung?
„Meta“ bedeutet ursprünglich eine übergeordnete Ebene, eine höhere Stufe der Betrachtung (dass Mark Zuckerberg an der Umbenennung seines Konzernes in META scheiterte, lag wohl daran, dass er das nicht verstand). In der Spieltheorie meint META eine Regel-Einigung zwischen Spielern, die nicht von vornherein festgelegt ist, sondern sich im Spiel als Übereinkunft bildet. Und schließlich ist META auch ein griechischer Vorname. Er bedeutet LICHT.
Die METAmoderne ist eine Position, von der aus wir die Dinge in einem anderen Licht betrachten können. Dem Licht der Zusammenhänge.
Kennen Sie das Gefühl, dass in einer Talkshow eigentlich ALLE recht haben? Dass alle Teilnehmer auf ihre Weise eine wichtige Sichtweise, einen notwendigen Aspekt einbringen? Dass sie aber durch irgendeine Verhexung, angeheizt durch affektgeile Moderation, nur blödsinnig durcheinanderreden? Und das Problem, um das es geht, nicht lösen, sondern immer weiter aufspalten, bis keine Wahrheit mehr übrig bleibt?
Ein wesentlicher Begriff der Metamoderne ist Oszillation. Das klingt schon wieder nach einem Klugscheißer-Begriff aus dem Arsenal des französischen Poststrukturalismus. Aber übersetzen wir es einmal mit Variabilität. Mit Flexibilität der Wahrnehmung. Die amerikanische Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin nannte es Denken in Rundungen. In einer METAmodernen Sicht können wir anerkennen, dass die Wirklichkeit komplex, vielschichtig, widersprüchlich und gerade dadurch „real“ ist. Wie sagte der dänische Physiker Niels Bohr so schön? „Wie wunderbar, dass wir auf ein Paradoxon gestoßen sind. Jetzt haben wir die Chance, Fortschritte zu machen!“
Die Metamoderne führt uns ins kulturelle DAZWISCHEN, ins politische DANACH und ins mystische DARÜBERHINAUS.
Jonathan Rowson, schottischer Schach-Großmeister
Typische metamoderne Denkmuster sind:
Das Unlösbare unserer Gegenwart lässt sich womöglich „aus der Zukunft heraus“ in Zusammenhänge verwandeln.
Die Zukunft entsteht durch Synthesen, Verbindungen, Re-Kombinationen.
Aktuelle Probleme kann man nicht mit den Betrachtungswinkeln der Vergangenheit lösen.
Die Wirklichkeit entsteht in der BEGEGNUNG (Enaktivismus).
Mindestens so wichtig wie die Weltveränderung ist die Selbstveränderung.
Metamodernes Denken verabschiedet sich von der ENTWEDER-ODER -Logik, jener Binarität, in der die Welt in lauter Einzelstandpunkte, „Meinungen“, Fraktale zu zerfallen droht. Es geht um ein beherztes SOWOHL ALS AUCH. Nicht einfach nur „Kompromiss“. Oder „Nachgeben“. Sondern ERGÄNZUNG zu einem Neuen Ganzen.
Innenwelt und Außenwelt.
Individualität und Bindung.
Natur und Technologie.
Ökonomie und Ökologie.
Gefühl und Verstand.
Romantik und Effizienz.
Produktivität und Gemeinwohl.
Intensität und Distanz.
Verbundenheit und Freiheit.
Alle diese Begriffe, so behauptet der Metamodernismus, sind nur durch ihre Begrenzungen und Ergänzungen verstehbar. Im Ganzheits-Denken macht plötzlich alles wieder Sinn.
In REDDIT bin ich kürzlich auf folgende feine Überlegung gestoßen:
„Modernistischer Optimismus und postmodernistische Kritik sind zwei gegensätzliche Pole, zwischen denen wir hin- und herschwanken müssen. Wir müssen Dinge schaffen, die kritisiert werden können, und wir müssen Kritik als kreativen Akt erlernen. Indem wir gleichzeitig konstruieren und dekonstruieren, können wir Kreativität ohne Dogma und Fortschritt ohne Agenda erreichen.“
(Reddit, „Can someone explain metamodernism like I’m 5? Especially how it related to post-modernism and modernism.”)
Akzeptanz und Vergebung
Neben dem Zusammendenken ist ein weiterer Aspekt metamoderner Mentalität die Bereitschaft, das Gewordene zu akzeptieren. Und damit weiterzuarbeiten.
Nehmen wir den Fortschritt selbst: Gibt es nicht alle Gründe, die Idee des Fortschritts selbst in Bausch und Bogen zu verdammen? Sich einfach von diesem Lügengebäude des Kapitalismus, Kolonialismus und der scheinbaren Rationalität zu verabschieden?
In seinem Essay „Relative Utopia“ schreibt Hanzi Freinacht: „In gewisser Weise leben wir in der Utopie unserer Vorfahren. Wenn sie unser heutiges Leben hätten miterleben können, hätten sie ihren Augen wahrscheinlich kaum getraut: So viel Essen wie man essen kann, ein Minimum an harter körperlicher Arbeit, die Erwartung, dass alle Kinder erwachsen werden, nur selten betrunkene Herren, die einen misshandeln – wirklich ein Paradies im Vergleich zu dem, was die meisten von ihnen ertragen mussten. Die Moderne mit all ihren technologischen und sozialen Fortschritten hat gewissermaßen alle Probleme früherer Gesellschaften gelöst: Hungersnot, Krankheit, Unterdrückung, Krieg, Armut, mangelnde Bildung, langsame und gefährliche Transportmöglichkeiten, Aberglaube, ja sogar Krieg; selbst wenn wir die Weltkriege und die aktuellen Kriege mitzählen, war das Risiko, von einem anderen Menschen getötet zu werden, nie geringer als heute.“
Hanzi Freinacht teilt die Probleme, die durch die Moderne entstanden sind auf in:
Restprobleme: Überbleibsel aus der Zeit vor der Moderne, also Armut, die IMMER NOCH existiert. Krankheiten, die nicht besiegt wurden. Ungerechtigkeiten, die nicht überwunden werden konnten.
Emergente Probleme: Unerwartete Probleme, die durch die Moderne selbst verursacht wurden, etwa Entfremdungseffekte in Konsumgesellschaften, Stress-Epidemien, Folgeschäden digitaler Kommunikation etc.
Verlorene Schönheiten: Bewundernswerte Eigenschaften früherer Gesellschaften, die in der Moderne verloren gegangen sind.
Neue Höhen-Probleme: Probleme, die vorher einfach nicht „erreichbar“ waren, jetzt aber in unsere Reichweite gerückt sind, etwa Langlebigkeit, Besiedlung anderer Planeten, KI.
Im metamodernen Denken kann man die Moderne als PROTOPIE betrachten &ndashM; eine unfertige Utopie, die viele ihrer Versprechungen einlöste – aber eben viele auch nicht. So wie das Leben selbst. Das uns ja auch immer wieder enttäuscht. Aber Ent-Täuschung ist wichtig, damit wir uns von Illusionen verabschieden können.
Auch die Postmoderne hatte ihren Sinn, ihren Charme. Indem sie den Furor, die Ignoranz der Moderne infrage stellte.
Bei alledem hat die Metamoderne ein zentrales Anliegen: Die eigene Verantwortung für die Zukunft anzunehmen. Im Kern geht es darum, sich von der Jammerei der Postmoderne ebenso zu verabschieden wie von der Arroganz des Modernismus. Sich wieder in Beziehung zu setzen zur Wirklichkeit, zum Wandel. Zum Unfertigen, aber noch Werdenden.
Was der Metamodernismus der Moderne hinzufügt, ist eine neue Dualität … Königsweg einer guten zukünftigen Entwicklung ist persönliche Entwicklung und seelisches Wachstum.
Hanzi Freinacht, „Die Metamoderne“rdquo;, S. 275
Eine poetische Metapher dazu findet sich im Märchen „Der Zauberer von Oz“ von 1939. Am Ende ihrer Reise auf der Yellow Brick Road trifft das tapfere Mädchen Dorothy den bösen Zauberer in seinem Schloss. Dorothy ist mit ihren „unfertigen“ Freunden unterwegs – der Vogelscheuche, die statt Stroh im Kopf gerne mehr Verstand hätte, dem mutlosen Löwen und dem Zinnmann (Roboter), der kein Herz hat. Der Zauberer erweist sich als schwebender Kopf, der auf einer Rauchsäule erscheint (ein moderner Illusionstrick). Es stellt sich heraus, dass der Zauberer in Wirklichkeit ein Jahrmarktschauspieler ist, der sich nur getarnt hat.
Dorothy: „Warum bist Du so böse, Zauberer?“
Zauberer: „Ich bin gar nicht böse. Ich bin nur ein sehr schlechter Zauberer!“
Der Zauberer verleiht dem Löwen eine Medaille für Mut, der Vogelscheuche ein Diplom für Verstand und dem Zinnmann eine Uhr in Form eines Herzens. Von hier aus ist wieder Wandel möglich. Die Macht gesteht ihre Schwäche ein. Die Wahrheit kommt ans Licht. Und alles kann neu beginnen.
Meta-Religion: Das spirituelle Darüber-hinaus
Metamodernismus ist keine fixe Theorie, die „alles richten soll“. Sie ist, ein Gedankenexperiment, ein bestimmter Modus, mit der Welt umzugehen. Eine Struktur des Hineinfühlens in die Welt.
Während sich Moderne wie Postmoderne im scharfen Gegensatz zum Religiösen entwickelten, sucht die METAmoderne wieder den Weg ins Metaphysische. Sie stellt ohne Scheu die Frage nach den höheren Bezügen des Menschen (ohne dabei immer nur das Gehalt zu meinen). In der Metamoderne traut man sich (wieder) Wörter wie „Geist“, „Seele“ „Kosmos“, „Spiritualität“ auszusprechen. Und zwar IM Sinne der Aufklärung, nicht gegen sie.
Die spirituelle Verbindung mit der Zukunft beginnt mit der Entwicklungs-Psychologie, die den Menschen als Wesen definiert, das sich seelisch, geistig und emotional entwickeln kann. Wir existieren nach den Worten des Systemforschers Heinz von Foerster nicht als „human beings“ (als feste statische Entitäten), sondern als „human becomings“ – als Möglichkeitswesen, die fähig sind, sich selbst zu überraschen. Von da aus ergeben sich Anknüpfungspunkte mit holistischen Weltbildern wie der „Integralen Theorie“ von Ken Wilber, die die Vereinigung von Philosophie, Wissenschaft, Religion und spiritueller Erfahrung zum Ziel hat. Weiter hinauf geht es in die verschiedenen Versionen der „Spiral-Dynamic“-Modelle. Mensch-Welt-Co-Evolutionen in einer in die Komplexität hinein offenen Spirale.
Übersetzung:
?X? = Das Mysterium
Selbst-Bewusste Narration
Der postmetaphysische Gott
Metarationalität überwindet den Nihilismus
Planetarische Regierung
Allseits-Berücksichtigung
Kosmopolitischer Schamanismus
Selbstbestimmte Gemeinschaften
Ökologien der Praxis
Metamoderne Spiritualität
Eine dem Metamodernismus nahstehende neue Organisation ist die „Inner-Development-Goals-Initiative“ (IDG), die einen gut besuchten jährlichen Kongress in Stockholm veranstaltet. „Inner Development Goals“ setzt den Global Goals, den 17 Zukunfts-Zielen der Vereinten Nationen 23 ergänzende Innere Ziele gegenüber – Grund-Elemente der (Selbst-)Entwicklung des Menschen. Die Grundthese lautet: Wir können die Rettung des Planeten, die Heilung der Demokratie, die humane Transformation nicht erreichen, wenn wir es nicht schaffen, uns als EIGENE (nicht Einzelne) VON INNEN HERAUS zu verwandeln.
Spiritualität ist das Gefühl von tiefer Verbundenheit mit anderen Menschen, und zwar allen Menschen aller Kulturen (der humanistisch-kosmopolitische Aspekt).
Spiritualität ist die Erfahrung der Größe und Weite, zu der wir uns in Bezug setzen (der kosmische Aspekt).
Spiritualität handelt von Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft, unserer Verbundenheit mit der langen Zeit, deren Teil wir sind.
Wir können gemeinsam versuchen, über uns selbst hinauszuwachsen.
Das ist der Kern einer neuen Moderne.
Gerald Hüther, Neurobiologe
Ironie der Zukunft
Schließlich führt uns metamodernes Denken in eine bestimmte Art des Humors hinein. Eine leichte Ironie der Freundlichkeit, die mit den Augen zwinkert.
Zum Schluss hat sich Hanzi Freinacht noch eine kleine Gemeinheit ausgedacht: die „umgekehrte Christlichkeit“ (Reverse Christianity):
„Umgekehrtes Christentum ist die Idee, dass uns beigebracht wurde, dass es einen Gott gibt, der uns unsere Sünden vergeben kann. Aber es ist andersherum: WIR sind es, die Gott vergeben sollten, ob wir nun an einen persönlichen Gott glauben oder nicht. Wenn wir uns die Unvollkommenheiten der Realität ansehen, all den verrückten Scheiß, der passiert – je besser wir darin sind, dieser Totalität zu vergeben, desto mehr Seelenfrieden werden wir finden. Vergebung steht an der höchsten Stelle in den Geboten, dies ist das höchste Ziel, das es zu erreichen gilt, denn dann entspringt alles, was wir tun, nicht mehr aus Groll, sondern vielmehr aus Fürsorge und Liebe oder der Suche nach der Wahrheit.“
ANHANG: Vier poetische Welthaltungen der Metamoderne
Informierte Naivität
Kinder sind auf eine unverstörte Weise mit der Wirklichkeit verbunden. Die Metamoderne ist auch die Wiederentdeckung des Zaubers der Welt, die sich im Kindlichen erschließt. Bleiben wir neugierig im Sinne der Überraschungsfähigkeit, ohne dabei „kindisch“ (regressiv) zu werden.
Pragmatischer Idealismus
Metamodernisten sind Romantiker, aber die Welt muss auch in der Praxis, im Konkreten funktionieren. Zu viel Idealismus führt uns auf Abwege, deshalb muss das Idealisierende durch Vernunft und Maß gezähmt werden. Es lohnt sich, Ziele zu setzen, Visionen zu verfolgen. Aber diese Visionen dürfen uns weder den Kopf verdrehen noch zu einem starren Blick führen. Ideale bewähren sich, wenn sie in der Realität überprüfbar und „er-lebbar“ werden.
Verbundenes Selbstsein
Wir alle wollen uns als Individuen entfalten, aber der „Individualismus“ züchtet das EGO und vernachlässigt das Selbst, das nur im Gemeinsamen existieren kann. „Die Tür der Zukunft geht nach Innen auf. Wer hindurch will, muss erst einen Schritt zurück tun.“ (Martin Kornberger, Philosoph).
Ironische Ernsthaftigkeit
Humor ist nicht, wenn man trotzdem lacht, sondern wenn man ein liebevolles Verhältnis zu den Paradoxien der Wirklichkeit entwickelt. Zynismus verengt uns ins Dunkle, im Gegensatz dazu hält die Ironie unseren MIND offen für immer neue Bezüge und Erkenntnisse. „Die zentrale Motivation der Metamoderne ist es, unsere inneren, subjektiv erfahrenen Erfahrungen vor der zynischen Distanz der Postmoderne, dem wissenschaftlichen Reduktionismus der Moderne und der blinden Trägheit der Traditionen zu schützen.“
Greg Dember, („Die Metamoderne, hrsg. v. Maik Hosang, Gerald Hützer, S. 275)
Maik Hosang / Gerald Hüther: Die Metamoderne – Neue Wege zur Entpolarisierung und Befriedung der Gesellschaft
Eine gute Einführung in den Kosmos der METAmoderne in deutscher Sprache
With every tightening of the screw, the tyrant makes our hope more precise.
Anne Micheals
Let’s imagine that we are looking back on our present from the year 2050. We are seeing a strange figure who once called himself „Trump“? What would the result be? What would we most likely say and feel about his legacy?
Well done, we would say.
He managed it.
The T. phenomenon as I will henceforth call it, did its job.
Well someone had to do it.
Excuse me?
Let’s jump back to the present. The messy, annoying, disturbing present. I know many lovely people who are desperate. Who can no longer bear the morning news that announces the end of the world as we know it. They are despairing in the face of the T. – phenomenon. Despairing about life, meaning, themselves. And above all about the future.
It is a deep, deep pain that affects the whole world.
Mister T. has long been living in our heads as a rowdy squatter. He occupies our attention, he has bewitched us. It is time to deport him (without an asylum procedure). But how?
Many still try to understand the T phenomenon through causal reasoning and „causes.“ Was it the terrible social neglect of the people of the Midwest? Excited WOKE supporters exaggerating their concerns? What caused so many women, minorities, Latinos, to vote for the one who despises them? Who the hell is to blame for this disaster? Kamela? The Fed? Wall Street? The Internet? The infinite evil and stupidity of man?
No matter how much we twist and turn and ponder, the T phenomenon cannot be explained by means of causality. It simply doesn’t make sense. It’s like a black hole in space, a negative singularity that just sucks everything into itself.
But perhaps an answer can be found. An answer from the future.
The demon
First of all we can get closer to the phenomenon of T. by studying old myths and mythologies. Especially, demons.
Trump is a demon. In almost all human cultural systems there are demons. They that testify to humanity’s ancient way of dealing with complexity, time and chaos. In animistic, agrarian, feudal, pastoral, religious and secular societies, demons exist as incarnations of existential terror. They suddenly emerge from the darkness and corrupt the world. They represent the power of negativity and despair.
There are such demons in the modern world too. For example, in the Harry Potter world, where they suck the life energy out of people as Dementors. In ancient times, demons were bound to divine powers. One such myth is that of the ancient Greek Hydra. The eight-headed snake creature grows two new heads every time one is cut off. Does that sound familiar? Every time Mister T. revealed an unbelievable mess, a moral monstrosity, a stupid lie, he triumphantly gained even more followers?
In Hindu mythology there are no real gods, but rather „deities“ who do not represent fixed entities, but rather depict universal – and contradictory – forces of evolution. In the Hindu world, „The God of Chaos“ plays a central role. There are several of them, and they are always the strongest. The deity Kali (Sanskrit, f., काली, lit. „The Black“) is a force of death, destruction AND renewal. At her birth, Kali is said to have filled the universe with terrible roars that shook everything and threw it into disorder. In Tantrism, Kali is called Shakti, it is the basic female energy of the universe. Kali is considered one of the few goddesses who actually grants wishes. Next to it sits the elephant god Ganesha (Sanskrit गणेश ‚entourage‘, or ‚lord of the hosts‘). His ears are huge, his eyes small, his gaze piercing. A round belly represents wealth and the ability to absorb all experiences. And finally there is SHIVA, the gender fluid dancer of destruction (Vedic entities are gender diverse). The deity with the snake heads and many arms who dances for destruction, chaos AND renewal.
Trump is the god of chaos.
A dancing eight-armed elephant god of destruction.
And that is exactly his job.
His goddamn job!
He really does it pretty well, doesn’t he?
He can dance, yes he can!
Chaosmosis
Chaosmosis, a word invented by Félix Guattari, one of the poststructural heroes of good old Parisian intellectualism, whos texts nobody ever understood but pretended to do so (an by the way the name of the 11th Album of the Scottish band Primal Scream) describes the „process of becoming“, where order is created by chaos.
The physical chemist Ilya Prigogine worked out how far new structures emerge spontaneously from thermodynamic equilibrium. This is also called emergence, or new life. A living organism is an informed, autocatalytic, non-equilibrium organisation. And this is how social systems, civilisations, nations and cultures function. They balance „on the edge“, in the spaces between structure and chaos. At some point paradoxes arise, excesses of complexity that can no longer be integrated. Then chaos arises to make renewal possible.
This transformation need „agents“, which can manage the discontinuity and bring a new cycle to life. It`s hard to find Facharbeitskräfte for this job.
Deconstructing America
As the super elephant of chaos, the T-phenomenon has an important job. It must deconstruct US society. Plunge it into chaos so that it can regenerate.
The American cultural and social system has long been stuck in deep contradictions, paradoxes that have hardened into pathologies. The basic American narrative, the „American dream“, has turned into a paradoxical nightmare that is literally driving its inhabitants crazy.
There is, for example, the paradox between the heroic American ideal of freedom and the longing for community that is also part of the American myth. We, the people versus everyone, must be allowed to do everything. Or the security obsession – the fear of violence – in the paradox of rampant gun ownership. Or the gaping contradiction between the casual idea of equality that is deeply rooted in the constitution and culture and the extreme inequality that is created by hyper capitalism and is now being taken to extremes by anarchic capitalism à la Musk.
A society that lives to a large extent from the exploitation of cheap labor wants to make this very labor illegal – and in the process increase the gross national product at the expense of the partners to whom America also owes its wealth. And the central narrative of the dishwasher who becomes a millionaire collapses lwhen it becomes clear that not EVERYONE can becomes a millionaire, but only a tiny elite of super billionaires who threaten to emigrate to Mars or to tax-free islands if everyone doesn’t dance to their tune.
America was always „great“ and fascinating when it was generous. When it represented its values universally, as an offer to the future of the world. The T phenomenon will dwarf America. There is no easier way to dismantle a civilisation than to ruin its dignity and reputation. The T phenomenon is extremely successful in this respect.
„America First“ was a hopeful slogan of progress in the founding days of the USA: America should be the spearhead of freedom in the world, of human progress. „MAGA“, or „America Home Alone“, tips the whole thing into the next paradox. Into a retrotopia in which everything should be like it was yesterday, but as it never was.
The Renaissance Principle
According to the Italian holistic thinker Giambattista Vico (1668-1744), civilisations go through heroic, decadent and „human“ cycles at cyclical intervals. Through a process of „waves and counter waves“ (Corsi et ricorsi) and the process of „dissolution and merging“ (solve et coagula, the original formula of the alchemists), a stabilised new arises from a fusion of the old, the proven, WITH the emergent, the innovative.
New eras always arise from recombinations. In order for such recombinations – or renaissances – to arise, the old paradoxes must first be taken to the extreme and thereby resolved. Then the wisdom of balance, the patience of reconstruction, and the art of healing, of integration into a new whole are needed.
People, civilisations, cultures can do this. History has proven this. For example in Germany.
And here we are. At that tragic, inevitable, exciting point in history. When the old disintegrates and a NEXT AGE emerges from the fog of chaos in the distance. A new planetary civilisation that still has a long way to go. It hurts a lot, that’s true. It hurts, because the future is now so far away, that it is barely visible. It hurts in every limb and in the soul. But the prospects are strong.
So: what would we say if we looked back from 2050, in regnostic wisdom? Thank you, T., that was a real achievement. Dismantling America was something we had to do first.
It was also not so easy to maneuver Europe, which still had a tendency to cheaply quarrel, into a self-confident unity.
Or to finally end the fossil age after a phase of unsavory drilling.
What does Goethe say so beautifully? „I am the force that always wants evil…“
Someone had to do it. You were, literally, great!
PS: A few more words of comfort
Of course, that doesn’t answer the question of how we can survive this demonic time unscathed. But perhaps a wise old pop icon can offer us some comfort. Patti Smith, the grand old lady of Punk wrote in a short post-election note titled „A Few Words“:
There are times in our lives when we must go underground. Not to retreat, but to heal ourselves. To rebuild our community in the spirit of good. Not out of partisanship, not out of self-interest, but as a mobilising energy fuelled by goodness. This is not rhetoric. It is a plan. I started with my offspring this morning and then slowly with friends.
Don’t feel cornered, constricted. Don’t let others dictate your mental and emotional space. Navigate the world around you as best you can and live in the world of your world. That’s what I wrote today. Back to work.
In the language of humanist futurism: Our job is now Doing Future. Preserving and developing the future in the present. Let’s get started. Let’s get to work.
Mit jedem Anziehen der Schraube macht der Tyrann unsere Hoffnung präziser.
Anne Micheals
Stellen wir uns vor, wir würden aus dem Jahr 2050, also in 25 Jahren, auf unsere Gegenwart zurückblicken. Auf eine seltsame, ja bizarre Figur, die sich einmal „Trump“ nannte? Was wäre die Bilanz? Was würden wir aus der Zukunft heraus sehr wahrscheinlich über das Erbe von T. (den Namen wollen wir von jetzt an nicht mehr nennen) formulieren?
Gut gemacht, würden wir sagen.
Er hat es irgendwie hingekriegt.
Das Phänomen T. hat seinen Job erfüllt. Und irgendjemand musste es ja machen.
Wie bitte?
Springen wir zurück in die Gegenwart. In die unordentliche, nervende, verstörende Gegenwart. Ich kenne viele liebe, wunderbare Menschen, die angesichts der „Zeitläufe“ auf eine regelrecht tragische Weise verzweifelt sind. Die die morgendlichen Nachrichten, die vom Ende der Welt as we know it künden, einfach nicht mehr aushalten können. Die angesichts des „Phänomens T.“ zutiefst verzweifeln. Am Leben, am Sinn, an sich selbst. Vor allem an der Zukunft.
Er ist ein tiefer, tiefer Schmerz, der die ganze Welt betrifft.
Viele versuchen immer noch, das T.-Phänomen durch kausale Begründungen und „Ursachen“ zu verstehen. War es die schlimme soziale Vernachlässigung der Leute des mittleren Westens? Aufgeregte Anhänger von WOKE, die ihre Anliegen übertrieben? Was führte dazu, dass viel Frauen, Minderheiten, Latinos, auch noch denjenigen wählten, der sie verachtet? Wer ist, verdammt nochmal, schuld an diesem Unglück? Kamala? Die Fed? Wallstreet? Das Internet? Die unendliche Bösartigkeit und Dummheit des Menschen?
So sehr wir es auch drehen und wenden und grübeln. Mit den Mitteln der Kausalität lässt sich das Phänomen T. nicht erklären. Es macht einfach keinen Sinn. Es ist wie ein Schwarzes Loch im All, eine negative Singularität, die alles in sich hineinsaugt.
Aber vielleicht findet sich gerade aus dieser Betrachtungsweise eine Antwort, die in die Zukunft reicht. Und von dort wieder zu uns zurückkehrt.
Der Dämon
Vielleicht kommt man dem Phänomen T. näher, wenn man sich mit alten Mythen und Mythologien beschäftigt. Zum Beispiel mit Dämonen.
T. ist ein Dämon. In so gut wie allen Kultursystemen der Menschheit gibt es Dämonen. Diese Figuren künden vom uralten Umgang der Menschheit mit Komplexität, Zeit und Chaos. Sie tauchen plötzlich aus dem Dunkeln auf und zerstören den Sinn – die innere Kohärenz der Welt. Sie sind Emanationen negativer Metaphysik.
Auch in der modernen Welt gibt es solche Dämonen. Zum Beispiel in der Harry-Potter-Welt, wo sie als Dementoren die Lebensenergie aus den Menschen saugen. In der Antike waren Dämonen an göttliche Kräfte gebunden. Zum Beispiel die altgriechische Hydra. Dem vielköpfigen Schlangenwesen wachsen jedes Mal zwei Köpfe nach, wenn man einen abschlägt. War es nicht genau so – dass jedes Mal, wenn eine unfassbare Schweinerei von Mister T. zum Vorschein kam, eine moralische Monstrosität, eine dumme Lüge, er triumphal NOCH mehr Anhänger gewann?
In der christlichen Mythologie mit ihren Heiligen und eschatologischen Rettungsmythen ist das Böse, Dämonische in einen mystischen Teufel gebannt, der „in den Dingen steckt“ und ständig zur Sünde verlockt. Dabei handelt es sich meistens um gefallene Engel. Aber das eigentliche Problem ist womöglich, dass das Phänomen T. noch nicht einmal zur Sünde fähig ist.
In der hinduistischen Mythologie, die womöglich viel besser zu unserer turbulenten Jetztzeit passt als das Christentum, gibt es keine echten Götter, sondern eher „Gottheiten“, die keine festen Instanzen darstellen, sondern universelle – und widersprüchliche – Kräfte des Evolutionären abbilden. In der hinduistischen Welt spielt „Der Gott des Chaos“ eine zentrale Rolle. Es gibt gleich mehrere davon, und es sind immer die stärksten. Die Gottheit Kali (Sanskrit, f., काली, wörtl. „Die Schwarze“) ist eine Kraft des Todes, der Zerstörung UND der Erneuerung. Bei ihrer Geburt soll Kali das Weltall mit schrecklichem Brüllen erfüllt haben, das alles erschütterte und in Unordnung brachte. Im Tantrismus heißt Kali Shakti, es ist die weibliche Grundenergie des Universums. Kali gilt als eine der wenigen Göttinnen, die tatsächlich Wünsche erfüllen.
Daneben thront der Elefantengott Ganesha (Sanskrit गणेश „Gefolge”, oder „Herr der Scharen“). Seine Ohren sind riesig, seine Augen klein, sein Blick stechend. Ein kugelrunder Bauch steht für Reichtum und die Fähigkeit alle Erfahrungen zu absorbieren. Und da ist schließlich SHIVA, der genderfluide Tänzer/Tänzerin der Zerstörung (vedische Entitäten sind geschlechtlich divers). Die Gottheit mit den vielen Armen, der für Zerstörung, Chaos UND Erneuerung tanzt.
T. ist der Gott des Chaos.
Ein tanzender achtarmiger Elefantengott der Zerstörung. Und genau das ist seine Aufgabe.
Sein gottverdammter Job!
Er macht das wirklich ziemlich gut, oder?
Er kann gut tanzen.
Die Chaosmose
Chaosmose benennt eine Verbindung von Chaos und Osmose, also Verbindung – oder Symbiose. Jenen Zustand, in dem aus dem Chaos das Neue als Formung entsteht. Nach Felix Guattari, Paul Strathern und dem elften Studioalbum der schottischen Band Primal Scream. Thank you, Paul!
Ordnung, Komplexität, erzeugt immer auch ein intrinsisches Chaos, das sich irgendwann Bahn bricht. Weil Komplexität – die Ordnung des Vielfältigen – irgendwann an ihre Grenzen stößt. Einen Überschuss erzeugt, der zur Kompliziertheit wird, die sich nicht mehr stabilisieren kann, weil sich die Paradoxien ins unvereinbare Steigern.
Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Es ist nur das Ende einer Epoche.
Der Physikochemiker Ilya Prigogine arbeitete heraus, wie fern von thermodynamischen Gleichgewichten spontan neue Strukturen entstehen. Man nennt das auch Emergenz, oder neues Leben. A living organism is an informed, autocatalytic, non-equilibrium organization….
Ilya Prigogine, What is life? Part 1: Dissipative Structures and Catalysis.
Und so funktionieren auch gesellschaftliche Systeme, Zivilisationen, Nationen, Kulturen. Sie balancieren „on the edge“, an den Zwischenräumen zwischen Struktur und Chaos. Irgendwann kommt es zu Paradoxien die nicht mehr „eingeholt” also integriert werden können. Dann entsteht Chaos, um Erneuerung möglich zu machen.
Diese Transformation braucht „Agenten“, die die Diskontinuität bewältigen und einen neuen Zyklus ins Leben rufen können. Es ist schwer, Fachkräfte für diese Aufgabe zu finden.
Amerika dekonstruieren
Als Superelefant des Chaos hat das T.-Phänomen eine wichtige Aufgabe. Es muss die US-amerikanische Gesellschaft dekonstruieren. Ins Chaos stürzen, damit sie sich regenerieren kann.
Das amerikanische Kultur- und Gesellschafts-System steckt seit langem in tiefen Widersprüchen fest, die sich zu Pathologien verhärtet haben. Das amerikanische Grundnarrativ, der „american dream“, hat sich in einen paradoxialen Albtraum verwandelt, der seine Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt macht.
Da ist etwa die Paradoxie zwischen dem heroischen Freiheitsideal und der Gemeinschafts-Sehnsucht, die ja auch tief im amerikanischen Mythos steckt. We, the people gegen jeder Einzelne muss alles dürfen. Oder der Sicherheitswahn – die Angst vor Gewalt – im Paradox zum grassierenden Waffenbesitz. Oder der klaffende Widerspruch zwischen dem lässigen Gleichheitsgedanken, der tief in Verfassung und Kultur verankert ist, und der extremen Ungleichheit, die durch den Hyperkapitalismus erzeugt und jetzt durch den Anarchokapitalismus à la Musk auf die Spitze getrieben wird.
Eine Gesellschaft, die zu einem großen Anteil von der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte lebt, will eben diese Arbeitskräfte illegalisieren – und dabei noch das Bruttosozialprodukt rasend steigern. Das zentrale Narrativ vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, bricht spätestens dann zusammen, wenn deutlich wird, dass eben nicht ALLE Millionäre werden, sondern nur eine winzige Elite von Quadrilliären, die ständig damit drohen, auf den Mars oder auf steuerfreie Inseln auszuwandern, wenn nicht alle nach ihrer Pfeife tanzen.
Amerika war immer „groß“ und faszinierend, wenn es großzügig war. Wenn es seine Werte universalistisch vertrat, als Zukunfts-Angebot an die Welt. Seine Botschaft, seine Message war die Gleichheit der Verschiedenheit.
„America First“ war in den Gründerzeiten der USA eine hoffnungsvolle Parole des Fortschritts: Amerika sollte die Speerspitze der Freiheit in der Welt, im humanen Fortschritt bilden. „MAGA“, also „Amerika allein zu Haus“, kippt das Ganze in eine nächste Paradoxie. In eine Retrotopie, in der alles wieder so werden soll wie gestern, aber wie es nie war.
Das Prinzip Renaissance
Nach dem italienischen Gesamt-Denker Giambattista Vico (1668-1744) gehen Zivilisationen in zyklischen Abständen durch heroische, dekadente und „menschliche“ Zyklen. Durch einen Prozess der „Wellen und Gegenwellen“ (Corsi et ricorsi) und den Prozess der „Auflösung und Zusammenfügung“ (solve et coagula, die ursprüngliche Formel der Alchemisten) entsteht das stabilisierte Neue – aus einer Verschmelzung des Alten, Bewährten, MIT dem Emergenten, Innovativen.
Neue Epochen entstehen immer aus Rekombinationen. Damit solche Rekombinationen – oder Renaissancen – aufblühen können, müssen zunächst einmal die alten Paradoxien auf die Spitze getrieben und dadurch aufgelöst werden.
Danach entsteht eine neue Epoche, in der sich das Neue zusammenfügt. Sie entsteht aus der Weisheit des Ausgleichs, der Geduld des Wiederaufbaus, und der Kunst der Heilung, der Integration zu einem neuen Ganzen.
Menschen, Zivilisationen, Kulturen durchlaufen immer wieder solche Zyklen. Die Geschichte hat das häufig bewiesen. Zum Beispiel in Deutschland.
Und hier sind wir also. An diesem tragischen, unvermeidbaren, spannenden Punkt der Geschichte. An dem sich das Alte zerlegt, und aus dem Nebel des Chaos in der Ferne ein NEXT AGE sichtbar wird. Eine neue planetare Zivilisation, die noch einen weiten Weg vor sich hat. Die Zukunft rückt derzeit in weite Ferne. Es tut ziemlich weh, das stimmt. Es schmerzt an allen Gliedern und in der Seele. Aber es hat auch eine starke Aussicht.
Also: was würden wir sagen, wenn wir aus dem Jahr 2050 zurückblicken, in regnostischer Weisheit? Danke, T., das war eine echte Leistung. Amerika zu zerlegen, das musste man erstmal schaffen.
Es war auch nicht so leicht, Europa, das immer noch dazu neigte, sich billig zu zerstreiten, in eine selbstbewusste Einigkeit zu manövrieren.
Oder das fossile Zeitalter nach einer Phase des unappetitlichen drillings endgültig zu beenden.
Wie heißt das so schön bei Goethe? „Ich bin die Kraft, die stets das Böse will…“
Irgendjemand musste es ja tun. Du warst, im Wortsinne, großartig!
PS: Noch einige Worte des Trostes
Natürlich beantwortet das noch nicht die Frage, wie wir diese dämonische Zeit unbeschadet überstehen können. Vielleicht kann uns eine weise alte Pop-Ikone Trost spenden. Patti Smith, die uns Boomer vor einem halben Jahrhundert zum Shiva-haften Tanzen brachte. Die Grand Old Lady des Punk schrieb in einer kurzen Notiz nach der Wahl unter dem schlichten Titel „A Few Words“:
Es gibt Zeiten in unserem Leben, in denen wir in den Untergrund gehen müssen. Nicht um uns zurückzuziehen, sondern um uns selbst zu heilen. Unsere Gemeinschaft im Sinne des Guten wieder aufzubauen. Nicht aus Parteilichkeit, nicht aus Eigeninteresse, sondern als mobilisierende Energie, die von Güte angetrieben wird. Das ist keine Rhetorik. Es ist ein Plan. Ich habe heute Morgen mit meinem Nachwuchs angefangen und dann langsam mit Freunden.
Fühlen Sie sich nicht in die Enge getrieben, eingeengt. Lassen Sie sich Ihren geistigen und emotionalen Freiraum nicht von anderen diktieren. Navigieren Sie durch die Welt um Sie herum, so gut Sie können, und leben Sie in der Welt, Ihrer Welt. Das habe ich heute geschrieben. Zurück zur Arbeit.
In der Sprache des humanistischen Futurismus: Unsere Aufgabe ist jetzt, Doing Future. Die Zukunft in der Gegenwart bewahren. Im Kleinen das Große entwickeln. Fangen wir an.
Mit dem Futurismus ist das so eine Sache. Seine Ursprünge finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die ursprüngliche Bewegung der »Futuristen« war eine eher durchgeknallte Künstler-Boheme-Sekte um den italienischen Dandy Filippo Tommaso Marinetti, der später vom Anarchismus zum Faschismus konvertierte. Marinetti veröffentlichte 1909 sein »Futuristisches Manifest«, in dem es vor allem um die Verherrlichung von rasendem Fortschritt, Geschwindigkeit, und industriellen Maschinen ging, ebenso um die radikale Abschaffung alles Alten, Überkommenen. Wie leicht diese Idee zu einem Wahn werden konnte, zeigte sich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, in dem die meisten der damaligen Futuristen starben, weil sie den Krieg als eine Art Beschleunigungsmaschine der Geschichte verherrlichten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galten als Futuristen eher die Vertreter der typisch technisch-US-amerikanischen Zukunftsgläubigkeit, mit ihrem Hang zu Überschallflugzeugen, Weltraumfahrt, stromlinienförmigen Autos und Atomkraft (in der kommunistischen Welt gab es ebenfalls eine Entsprechung). Heute existiert Futurismus als bekennender Zukunftsglaube vor allem in den verschiedenen Strömungen des Transhumanismus, die den Menschen an die (hypertechnische) Zukunft anpassen beziehungsweise ihn lieber gleich ganz abschaffen und gentechnisch und superdigital neu konstruieren will.
Gegen diese Radikalisierung des technoiden Zukunftsglaubens hat sich in den letzten Jahren eine neue Schule der Zukunftsforschung entwickelt, die sich wieder dem Menschen und seinen Bedingungen und Bedeutungen zuwendet. In dieser Disziplin geht es zunächst vor allem darum, wirklich gute Fragen zu stellen.
Zum Beispiel: Wenn es eine Unsterblichkeitspille gäbe – würden Sie/würdest Du sie nehmen?
Das wäre eine gute Eingangsfrage für einen Club der humanistischen Futuristen. Gerne dürfen Sie Mitglied werden, egal wie Sie antworten. Es geht nicht um die »richtige« Antwort, sondern um einen Weg zum Erkennen, was der Mensch wirklich ist. Was ihn ausmacht. Die Mitgliedschaft im Club erhält man nicht, wenn man mit »Niemals!« antworten würde oder mit »Na klar, aber sofort!« Sondern wenn man gute Gründe für beide Entscheidungen vorbringen kann, im Sinne des Menschlichen und in der Wahrheit der Widersprüche.
Die Tradition des humanistischen Denkens führt weit in die Antike zurück. In der Renaissance des 13. und 14. Jahrhunderts begannen zunächst einzelne intellektuelle Wanderer und Wunderer wie Petrarch, Botticelli und Dante sich in das unsichere Gelände des Humanums vorzuwagen. Und ein neues Denken zu erproben, das den Menschen in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung stellte. Es ist vielleicht kein Zu- fall, dass diese neue Geistesrichtung inmitten einer Pandemie begann, die in Teilen Europas zwei Drittel der Bevölkerung dahinraffte – der Pest. »Inmitten von Szenen von Unordnung, Krankheit, Leiden und Tod nahmen einige Enthusiasten die Fragmente einer tiefen Vergangenheit und benutzen sie für einen frischen Start«, schreibt die britische Historikerin Sarah Bakewell in ihrem Buch Humanly Possible.
In den folgenden Jahrhunderten entwickelten die Denker der Aufklärung den humanistischen Glauben als eine Befreiungs- und Emanzipationsvision, die den Namen »Aufklärung« erhielt. Im Englischen enlightenment – Erleuchtung, Erhellung. »Freethinking, enquiry and hope« – so bringt Sarah Bakewell die drei Kernpunkte des Humanismus auf den Punkt. Freies Denken, Hinterfragung und Hoffnung.
Man kann das auch unter dem Begriff der »Konstruktivität« zusammenfassen. Es geht darum, der Welt nicht mit magischen Projektionen, verkürzten Parolen oder mentalen Reduktionen entgegenzutreten. Den Mind an die Komplexität der Wirklichkeit anzugleichen. An dieser Tradition setzt der humanistische Futurismus an, wohl wissend, dass wir heute in einer anderen Welt leben, die von Maschinen, Memen und bisweilen monströsen Möglichkeiten geprägt ist. Wir brauchen eine neue Aufklärung, die folgende Elemente beinhaltet:
Evolutionäre Aufklärung: Die Zukunft ist nicht in Details vorhersagbar, aber sie entwickelt sich entlang der Gesetze der Evolution. Evolutionäre Prozesse von Mutation, Selektion und Adaption sind auf soziale, gesellschaftliche, sogar technische Prozesse übertragbar, auch wenn es wichtige Unter- schiede zwischen biologischen und technischen Adaptionen gibt. Neben der biologischen gilt für Menschen noch die kulturelle Evolution. Es sind die Sozialsysteme und Kommunikationsformen, die sich ebenso nach den »darwinistischen« Gesetzen entwickeln: Was sich in bestimmten Umweltsituationen bewährt (und Kulturen können selbst eine Umwelt bilden), pflanzt sich fort. Zur evolutionären Aufklärung gehört auch, zu wissen, dass Evolution nicht im moralischen Sinne »gut« ist. Zu jedem evolutionären System gehören Symbionten, Parasiten, »Räuber«, Strategien, die Entropie nutzen – sie sind Teil jeder evolutionären Dynamik. Allerdings überwiegen sie nicht zugunsten der Symbiosis, dem Prinzip der gegenseitigen Kooperation.
Systemische Aufklärung: Die Welt funktioniert fundamental in Systemen. Gesellschaften, Organisationen, Technologien oder Körper lassen sich als »systemische Einheiten in Vielfalten« beschreiben. Man kann Systeme in ihrer Struktur erkennen, bestimmen und in gewissem Sinne prognostizieren, etwa indem man ihre Resilienz, Adaptivität, Variabilität versteht. Der Kern der Systemtheorie ist das Komplexitätsmodell, das sich mit der Unterschiedlichkeit von Systemelementen und ihren vielfältigen Wechselbeziehungen und Feedbacks beschäftigt.
Memetische Aufklärung: Neben dem genetischen Code der DNA, der die Reproduktionen steuert, gibt es noch eine andere Wandel-Formungskraft: das MEM (nicht zu verwechseln mit den Internet-Memen, die als schnelle Gags kursieren). Der Begriff stammt vom britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der die Meme als »zweiten Replikator« bezeichnet, der die menschliche Kultur formt. Meme sind Ideen, Vor-Stellungen, Denkweisen, Anschauungen, die durch Kommunikationen von Mensch zu Mensch übertragen werden. Meme »kopieren« sich in menschliche Hirne, wie die DNA in Zellen. Sie vermehren sich durch Imitation; in der heutigen globalen Hypermedialität können sie zu großen »Memplexen« anschwellen – sich rasend schnell verbreiten, aber auch rasend schnell mutieren.
Spirituelle Aufklärung: Die klassische Aufklärung entwickelte sich überwiegend in der Differenz zum Religiösen. Aber heute wissen wir, dass Menschen ohne eine vertikale Dimension nur schwer leben können. Aufgeklärte Spiritualität ist das Erkennen und Erfahren der »Verbindlichkeit«, mit der wir untereinander und mit dem Kosmos verbunden sind. Ohne die Dimension einer Zukunfts-Spiritualität bleiben wir in der tragischen Position einer »singulären Gegenwart« stecken.
Humanistischer Futurismus würdigt die Kraft des Menschen, sich in seinen existenziellen Paradoxien und unvermeidlichen Leidensprozessen immer wieder neu zu behaupten. Er sieht gerade in der Unfertigkeit, der Schwäche und dem Irr- tum die Zeichen des Zukünftigen.
Humanistischer Futurismus sieht den Menschen als Zukunftswesen, das nach dem Anderen und Besseren strebt, ohne das Perfekte jemals zu erreichen zu können. Menschliche Zukunft bleibt immer »Work in Progress«. Fortschritt findet statt, langsam, graduell, trotz oder wegen aller Rückschläge.
Humanistischer Futurismus sieht das Zukünftige als eine Steigerung unseres lebendigen Verhältnisses, unserer Vitalität im Verhältnis zur Welt (zu anderen Menschen und zu uns selbst).
Humanistischer Futurismus beschränkt sich nicht allein auf das Zukunftsmodell des westlichen Industrialismus. Er würdigt die Erfahrungen aller menschlicher Kulturen aller Zeiten in ihrem Beitrag zum Menschheitsprojekt. Er sieht die menschliche Kultur als Ganzheit und »kosmische Perspektive«.
Humanistischer Futurismus beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von innerer und äußerer Zukunft. Wie formen Visionen, Utopien, Zukunftsnarrative mächtige Meme, die Vor-Stellungen und Handlungen der Menschen auf dem Wege Sich-selbsterfüllender Prophezeiungen?
Humanistischer Futurismus ist eine Zukunftsforschung der Verantwortung, in der das eigene Handeln als Agent der Zukunft wirkt. Wie schon Bert Brecht sagte: »Eine Aussage ist dann eine Wahrheit, wenn sie eine Voraussage gestattet – bei dieser Voraussage muss aber der Aussagende als Handelnder auftreten.«
Einige »Sponti-Parolen« des Humanistischen Futurismus
In den Siebziger Jahren gab es in meiner Herkunftsstadt Frankfurt die „Spontis”, eine Gruppe von Aktionisten, die die Welt mit Spaß und Freude und Kreativität verändern wollten. Aus dieser Zeit stammen Sprüche wie:
Alle können denken; nur bleibt es den meisten erspart.
Alle wollen zurück zur Natur, nur nicht zu Fuß.
Alle Menschen sind klug: Die einen vorher, die anderen nachher.
Alle Menschen werden als Original geboren, die meisten sterben als Kopie.
An die Waffeln, Bürger!
Entsprechend könnte man Parolen für den Human-Futurismus erfinden:
Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich manchmal fürchterlich. In diesem Lärm versteht man seine eigenen Gedanken nicht.
Das Neue löst das Alte nicht ab, es spielt nur eine neue Melodie.
Krisen sind Zukunftsagenten, mit denen man klug verhandeln sollte!
Lass dich nicht vom Neuen blenden! Achte auf das Bessere!
Die meiste Zukunft von heute ist längst schon von gestern, nur keiner merkt’s.
Während vieles immer schneller wird, wird manches endlich langsamer.
Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Aus Trend und Gegentrend (und Gegen-Gegentrend) entsteht der Tanz des Wandels.
Wir sind dabei, Götter zu werden. Wir sollten uns deshalb schleunigst wieder mit der Ketzerei beschäftigen (frei nach Stewart Brand).
Maschinen werden Menschen nie völlig ersetzen, es sei denn, wir selbst verwandeln uns in Maschinen.
Man verwandelt die Welt nicht durch Forderungen, sondern durch ergreifende Geschichten.
Die Zukunft ist kein fertiges Wohnzimmer, in das wir nur einziehen müssen. Sie ist keine Lokomotive im Tunnel, die auf uns zurast, und wir können noch nicht einmal beiseite springen. Sie ist auch kein Fluss, in den wir hineingehen, um uns davontreiben zu lassen. Zukunft ist eine Dimension des Lebens, eine Kraft die uns bewegt und verändert, wenn wir fürsorglich mit ihr umgehen. Ein Spiegel, in dem wir unsere Rolle in einem fantastischen Universum erkennen können.
Wie digitale Technologie zur neuen Religion wurde – und warum das Analoge immer wiederkehrt.
Theodizee: [teodiˈʦeː] von altgriechisch θεός theós ‚Gott‘ und δίκη díkē ‚Gerechtigkeit‘) – „Rechtfertigung Gottes“: Die Prüfung der Frage, wie das Leiden in der Welt mit der Annahme zu vereinbaren sei, dass ein Gott sowohl allmächtig, allwissend als auch gut sei. Bezweifelung Gottes durch Realitätsvergleich.
Technodizee: Die Prüfung der Frage, ob und wie Technologie uns wirklich von allen Übeln der Welt erlösen kann.
“When you invent the ship, you [also] invent the shipwreck.”
Paul Virilio
Werner Horx in seiner „Automatischen Wohnung“, 1950 in Berlin
Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und fünf Jahre vor meiner Geburt erfand mein Vater den ersten vollautomatischen Haushalt Deutschlands. Im vierten Stock eines Trümmerhauses in Berlin, von dem eine Fassadenseite von Bomben weggerissen war. Im anderen Teil wohnten – frisch verheiratet – meine Eltern. In einer kleinen Dreizimmerwohnung entstand dort ein Smart Home der ersten Stunde. Unter dem Titel: „Er lebt wie der letzte Mensch” heißt es in der Frauenzeitschrift Constanze vom 4. Juni 1950: „Eine Treppe hoch, dann steht man in einer großen Mansarde in einem Gewirr elektrischer Drähte und Geräte, gewärtig, mit 220 Volt hingerichtet zu werden. Wer kennt sich als normaler Sterblicher in diesem Gestrüpp elektrischer Drähte aus? 800 Meter hat der junge Mann im Laufe eines Jahres hier eingebaut, 48 Kontrollanzeigen verwirren den Außenstehenden, 200 Dübel stecken in den Wänden und halten die vielen Lampen, den Zeichentisch, den Spiegel. ‚Keine Sorge‘ lacht der junge Mann. ‚Das ist alles gut gesichert…. Hier unterm Dach wohnen fünf Parteien. Ich mag niemanden unnötig stören. Außerdem muss ich Zeit sparen. Bei mir funktioniert alles selbsttätig. Früh um 6.30 Uhr schaltet sich der Kocher ein, auf dem Kaffee und Rasierwasser stehen. 6.33 folgt das Radio, 6.36 treten meine Ventilatoren in Tätigkeit und ermuntern mich mit sanftem Morgenwind. 6.37 ertönt ein kräftiger Summerton, den ich vom Bett nicht ausschalten kann. Bevor ich zur Universität gehe, stelle ich das Suppenkochgerät ein und setze mein Mittagsbrot darauf: Kennen Sie den Schlager ‚Meine Klingel ist kaputt?‘ Bei mir nie! Wenn hier die rote Birne aufleuchtet, weiß ich, dass der Briefträger Post durchgeworfen hat. Blaue Lampe heißt: ‚Toilette besetzt‘ – die ist im Zwischenstock drei Stockwerke tiefer. Bei Grün liegt Stromstörung vor, dann schaltet sich alles auf Batterie um.’”
Werners elektrisches Gehirn erspart ihm die Frau im Hause. Er ist mit der Elektrizität verheiratet. „Der ganze Klumpatsch verbraucht höchstens 2 Mark mehr Strom als sonst.”
Die „ersparte Frau” lebte tatsächlich mit in der Wohnung. Meine Mutter, so geht die Familienlegende, fand das ganze „Elektrik-Gelump” (Sächsisch) nicht so gut. Zitat meiner sächsischen Großmutter (in waschechtem Sächsisch): „Anita hatte immer Angst, einen elektrischen Schlag zu bekommen, wenn sie sich aufs Sofa setzte. Und der Werner fummelte ja den ganzen Tag nur mit den Drähten rum.”
Mein Vater Werner Horx war ein Ingenieur, der als junger Soldat in den Krieg zog. Im Februar 1945 kam er als Leutnant der Wehrmacht in zerlumpten Kleidern nach Hause, in eine Kleinstadt in der Nähe von Dresden. Dort lagen seine Eltern tot unter den Trümmern ihres Hauses, das am Tag vor seiner Ankunft von einer Fliegerbombe getroffen worden war, beim letzten Angriff der englischen Luftwaffe. Im besonders kalten Kriegswinter 1944/1945 war die Stadtverwaltung weitgehend zusammengebrochen, Begräbnisse fanden nicht mehr statt. Mein Vater grub im steinhart gefrorenen Waldboden selbst ein Grab für seine Eltern.
Mein Vater hatte einen echten Weltuntergang erlebt.
Er war kein fanatischer Nazi. Aber ein begeisterter Jungvolkführer. Und ein fescher Unteroffizier. Von seiner Zeit in Rommels Afrikafeldzug erzählte er gerne. Wie seine Truppe in der glühenden Sonne Spiegeleier auf den Panzerrohren briet. Und mit den „Tommys” zu Weihnachten Fußball in der Wüste spielte … Das waren die Geschichten, die man erzählen konnte.
Später im Krieg verlieren sich seine Spuren in den Rückzügen der deutschen Armee im Osten.
Davon erzählte er kein Wort.
Noch später wählte er Helmut Schmidt.
In den Sechzigern konstruierte mein Vater gigantische Eisenbahnanlagen auf dem Dachboden. Mit Schaltpulten, die so schwer waren, dass vier Möbelpacker sie kaum tragen konnten. Vollgestopft mit Relais, Transformatoren und Kabelbäumen, übersät mit blinkenden Lämpchen, erinnerten sie an die Kommandopulte von Raumschiffen. An den Wochenenden zog er sich in den Keller zurück, wo er stundenlang bastelte. Für mich war das ein Paradies. Der Geruch von heißem Lötzinn als halluzinogene Duftmischung. Dort unten, im Reich von Lötkolben, Sägen und Schraubzwingen, konnte man die Welt immer neu in Ordnung bringen.
Es war ein sehr entschlossener Kontrollversuch. Wenn die Eisenbahn fuhr, lief alles vollautomatisch, und wenn mein Vater das Licht ausschaltete, sah man die Lichter der Lokomotiven unendliche Kreise ziehen, wie Glühwürmchenschwärme. Mein Vater saß an seinem Schaltpult und regelte. Ich durfte mit der Zugpfeife pfeifen, wenn die Züge in die Tunnel aus Pappmaschee einfuhren. Ich hatte eine rote Schaffnermütze auf. Durfte aber nichts anfassen, außer ein Zug fiel endlich in einer Kurve um.
Digitale Anfänge
Mein erster Computer war beigegrau.
Ich kaufte ihn im Jahr 1984 in meiner Land-Wohngemeinschaft. In einer Zeit, als alles ziemlich deprimierend war. Es regnete dauernd, mein Gemüsegarten war eine Schlammlandschaft, die Weltrebellion war irgendwie abgesagt und in einer anderen Wirklichkeit drohten Atomkraftwerke und die Atomraketen der „Nachrüstung”.
Aber da war er nun endlich, die Zukunftsverheißung aus meiner Kindheit. Ein Commodore 64, das Kultgerät des frühen Computerzeitalters. Als Aussteiger und Ökologisten waren wir zwar grundsätzlich skeptisch, was Hightech betraf. Aber diesem magischen Gerät konnten wir uns nicht entziehen. Plötzlich entstanden Computer, die von Hippies in Garagen in Amerika zusammengeschraubt wurden, für eine ganz andere Idee als die Überwachungscomputer von Orwells 1984.
Mein erster Computer 1984: Ein Commodore 64
1984 erschien auch der erste Apple Macintosh und setzte einen neuen Mythos in die Welt. Ein Gerät, das sie Welt verändern würde, weil man es mit einer „Maus” bedienen konnte.
Technik, die sich an Menschen anpasste, nicht umgekehrt. Ich lernte ein wenig programmieren. Basic und ein bisschen Fortran.
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Mit dieser entschlossenen Sprache, die keine Zweifel zuließ, konnte ich Formen und Farben über den Bildschirm laufen lassen. Später ließ ich Raumschiffe in selbst gebastelten Spielen explodieren. Das war kindlich, fühlte sich aber bedeutsam an. Bald ging es bei den ersten pixeligen Videospielen darum, Hubschrauber unter schwierigen Bedingungen in den Höhlen von Fort Apokalypse zu landen. Und dann ging es hinaus in die Welt. Das Modem zwitscherte und jodelte, und plötzlich war man „drin”. Begeistert lasen wir Texte über die Schwarmintelligenz, über das Wesen der Computer als universelle Wissensmaschinen. Die Menschheit würde sich mithilfe des revolutionären Computers über alle Begrenzungen und Restriktionen hinwegsetzten. Würde sich verbinden, über alle Kontinente, Sprachen und Ideologien hinweg, zu einer einzigen leuchtenden, lernenden, kreativen, universellen Menschheit …
One More Thing
Im Januar 2007 trat ein hagerer Mann auf eine dunkel ausgekleidete Bühne in San Francisco. In einem schwarzen Rollkragenpullover und ausgewaschenen Bluejeans machte Steve Jobs zunächst einige Scherze über Microsoft, den alten Rivalen, der für graue Tischcomputer und Büroklammer-Technologien bekannt war. Dann sagte er diesen magischen Satz: „WE ARE MAKING HISTORY TODAY!”
Drei neue Geräte kündigte Jobs an, „in einer nie dagewesenen Symbiose von Smartness und Kreativität”.
• A widescreen iPod with touch controls
• A revolutionary mobile phone
• A breakthrough internet communication device
THE ONE DEVICE!
Und da war es, das iPhone. Das tatsächlich unser Leben verändern sollte.
Jobs Hochamt wurde von ungefähr so viel Menschen angeschaut wie die Mondlandung (zirka 650 Millionen). Seine neuen Geräte erlösten uns von dem Übel rein funktionaler, seelenloser Technologie, die keinen „Geist” hatte, keinen Spirit, kein Design, das in Richtung Zukunft wies. Jetzt hatte Technologie eine kreative Seele bekommen. Sie folgte auf die Befehle unserer Fingerkuppen. Sie folgte unserem Bedürfnis nach Customer Centricity. Sie war für uns da, ganz allein für uns Individuen der Neuen Welt!
Gibt uns die kreative Kraft! Shake the world, baby!
Viele Jahre war das Apple-Logo in meinem Leben eine Art Glaubenssiegel. Wenn man in ein urbanes Café kam, in ein Starbucks irgendwo in einer Großstadt, wies man sich, wenn man sein PowerBook aufklappt, sofort als Mitglied der Kreativen Klasse aus. Später standen die bunten Knutschkugeln der ersten iMac-Serie auf meinem Tisch. Apple gab der Technologie die Würde zurück und uns Symbole der ästhetischen Rebellion in die Hand.
Die Zukunft konnte kommen. Sie sah verdammt gut aus.
Dass das Ganze einem Techno-Kult ähnelte (ähnlich dem Cargo-Kult, bei dem die Bewohner der Südsee nach den Reisen von Thomas Cook auf die neuesten Wunder aus der neuen Welt warteten), wurde mir erst viel später klar. Gehen Sie in einen Apple-Shop. Achten Sie auf die religiösen Insignien, die seltsame Ergriffenheit. Das mönchische Verhalten der Apple-Bediensteten. Geheiligt sei dein Gerät! Die Anbetung des angebissenen Apfels, der opak über allem schwebt, vermittelt eine asketische Sünde.
Schauen Sie sich heute einen aktuellen Apple-Werbespot an. Sie werden staunen, welche religiösen Heilsversprechungen in der Technologie stecken.
Im Jahr 2011 starb Steve Jobs an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wie bei so vielen jungen Heroen unserer Generation war sein früher Tod das Beste, was seinem Mythos passieren konnte. Eine Zeit lang hatte er mit alternativen Heilmethoden versucht, gegen den Krebs anzukommen; schließlich war er ein alter Hippie. Die harten Methoden der technischen Medizin misstraute ausgerechnet jener Heilige, der die härteste Medizin des Techniums in die Menschenwelt gebracht hatte. Auf einer seiner letzten Reden vor 500 Studenten der Stanford University zog Jobs noch einmal die große Linie von der Gegenkultur bis in die Zukunft, und er vergaß dabei nicht, dem Tod als großen Innovator zu huldigen.
Im Reich des Techniums
Was ist das überhaupt – „Technologie”?
In der ursprünglichen Form ist Technik (τέχνη, téchne, Kunst, Handwerk, Kunstfertigkeit) eine Erweiterung menschlicher Körperfunktionen. Steinmeißel, Streitaxt und Speer verlängern die Arme. Kameras, Brillen und Teleskope erweitern die Augen. Das Rad ist eine Extrapolation der Beine. Technik wird zunächst aus einer Erweiterung unserer existenziellen Körperlichkeit geboren.
So weit, so gut, könnte man meinen. Wer möchte nicht wilden Tieren entkommen und seine Sinne erweitern?
Nach Kevin Kelly, dem berühmten US-amerikanischen Zukunftsforscher, der in den Neunzigerjahren das Zukunfts-Kultmagazin Wired mitbegründete, ist Technologie aber noch etwas ganz anderes. In seinem Buch „What Technology Wants” (2010) erklärt Kelly Technologie zu einer eigenständigen Evolution. Er definiert das „Technium” als siebtes Königreich der Natur (nach den Einzellern, Mehrzellern, den Eukaryonten, Pilzen, Pflanzen und Tieren/Menschen). Eine Art Superorganismus, der nach seinen eigenen Gesetzen die Welt gestaltet. Und zwar im Unterschied zur natürlichen Evolution rasend schnell.
„Wenn wir auf die Altsteinzeit zurückblicken, können wir eine Evolutionsphase beobachten, in der menschliche Werkzeuge noch im Embryonalstadium waren. Aber da die Technologie älter war als der Mensch, müssen wir über unsere eigenen Ursprünge hinausblicken, um die wahre Natur der technologischen Entwicklung zu verstehen. Technologie war nicht nur eine menschliche Erfindung; sie wurde auch aus dem Leben geboren … Mit geringfügigen Unterschieden. Die Evolution des Techniums ahmt die Evolution genetischer Organismen nach. Die Evolution beider Systeme bewegt sich vom Einfachen zum Komplexen, von der Einheitlichkeit zur Vielfalt, vom Individualismus zum Mutualismus (gegenseitigem Vorteil). Von Energieverschwendung bis hin zu Effizienz. Die Art und Weise, wie sich eine Art Technologie im Laufe der Zeit verändert, folgt einem Muster, das einem Stammbaum der Artenentwicklung ähnelt. Aber anstatt die Arbeit von Genen auszudrücken, drückt Technologie Ideen aus. Und diese Ideen sind schnell, radikal und wütend.”
So wurde aus der Anwendungsdebatte eine Anpassungsdebatte: Wir müssen uns zwangsläufig dieser rasenden Evolution anpassen, wenn wir nicht den Anschluss an die Zukunft verlieren wollen. One more thing, forever. Das Technium nimmt uns in sein Reich auf, ohne zu fragen.
Um die Jahrtausendwende gaben die Brüder Andrew und Laurence Wachowski mit ihrer Matrix-Triologe dieser Vision kräftiges Futter – allerdings in dystopischer Form. In der Matrix dienen die Menschen den Maschinen als Energiequelle, das Technium hat sich komplett über das Humanum gestülpt – im Austausch von unendlichen Simulationen dürfen die Menschen weiterträumen, sie lebten im Raum der Wirklichkeit.
In seinem Buch The Inevitable: Understanding the 12 Technological Forces That Will Shape Our Future listet Kelly das Unvermeidliche auf, das die digitalen Technologien mit sich bringen:
Beginning: Alles beginnt immer wieder von Neuem.
Flowing: Alles gerät unentwegt in Fluss.
Screening. Alles wird ständig auf Bildschirme gebracht.
Accessing: Alles wird zugänglich, nichts bleibt Geheimnis.
Sharing: Alles kann und muss geteilt werden.
Filtering: Alles kann durch Filter eingegrenzt werden.
Remixing: Alles wird immer neu zusammengesetzt.
Interacting: Alles agiert ständig mit allem in Echtzeit.
Tracking: Alles wird ständig verfolgt und &bdqo;monitort”.
Cognifying: Alles wird ständig in Erkenntnisse eingepasst.
Questioning: Alles wird ständig infrage gestellt.
Becoming: Alles ist ständig im Werden und Wandeln.
Man könnte diese Liste der Metamorphosen auf einen einzigen Satz bringen: Nichts bleibt, wie es war. Oder frei nach Karl Marx: Alles Stehende (Analoge) wird verdampft! Spätestens hier war die Technologiedebatte an einer Grenze angelangt. Dass all diese &bdqo;Auflösungen” in Wirklichkeit ein ziemlicher Horror waren, fiel in der allgemeinen Technik-Euphorie kaum auf. Der technische Fortschritt ähnelte nun einer deterministischen Ideologie, die dem Marxismus des 20. Jahrhunderts ähnelte.
Und wer auf einer Bühne auftrat, um Einwände zu wagen, um Technologie vom Menschlichen aus zu befragen, wurde höflich, aber bestimmt durch den Hintereingang wieder hinausgeführt.
Die Zukunft herbeibrüllen
Mitte der Zehnerjahre wurde aus der digitalen Zukunft immer mehr ein hysterischer Kult. Manager und Unternehmer, mit denen wir Zukunftsarbeit betrieben, kamen mit glänzenden Augen (und manchmal mit Hipster-Bärten) aus dem Silicon Valley zurück, wo sie angeblich die wahre Zukunft gesehen hatten. Vergesst alle Businesspläne und Innovationen! Vergesst die Trends und die Kunden (die jetzt User hießen, eine Bezeichnung, die man sonst nur aus der Drogenbranche kannte). Vergesst das ganze Zeug über neue Firmenkultur und Work-Life-Balance! Das große Geld macht man mit Daten, Daten, Daten!
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari nannte das treffend &bdqo;Dataismus” oder &bdqo;Die Daten-Religion”. In Homo Deus schreibt er: „Dataismus invertiert die traditionelle Pyramide des Lernens. Daten wurden früher als der erste Schritt in einer langen Kette geistiger Aktivität gesehen: Aus Daten destilliert man Information, aus Information Wissen, aus Wissen Weisheit und sinnvolle Handlung. DATAISTEN glauben, dass das alles überflüssig ist. Die Daten SELBST sollen die geistige Aktivität ersetzen, weil sie die Prozessoren die Kapazität des menschlichen Hirns überschreiten. In der Praxis bedeutet das, skeptisch gegenüber den humanen Fähigkeiten zu sein und alles in die Hände von Computeralgorithmen zu geben.”
Ich erinnere mich an einen Digital-Event in München, der auf mich wie eine schwarze Messe wirkte. Für die Keynote war einer der angesagten Digital-Gurus eingeladen, der auf der Bühne ein öffentliches „Chipping” anbot. Es handelte sich um einen rasend schnell redenden Menschen mit einem „digitalen Zugang” im Oberarm; eine mechanische Öffnung, an die man ein UBS-Kabel anschließen konnte. Zu meinem Erstaunen fand das niemand lächerlich. Er bezeichnete sich selbst als Cyborg und hatte auf der Bühne ein kleines Labor aufgebaut, mit einen mit rotem Leder bezogenen Zahnarztstuhl. Er selbst hätte dieses „geniale Teil” eines Chips in seiner Hand implantiert, mit dem er – Simsalabim! – Türen öffnen und alle möglichen „Devices“ steuern konnte.
Er brüllte das Publikum regelrecht an, ihm auf dem diesem Weg zu begleiten: „SIE KÖNNEN IHRE INTELLIGENZ um tausend Prozent erhöhen! ALLES WIRD IMMER SCHNELLER! WIR LEBEN IN EINEM ZEITALTER DER AKZELERATION! Wir MÜSSEN UNS AN DIE NEUE ZEIT ANPASSEN! ALLES WIRD DIGITAL! ROBOTER KOMMEN! ARBEIT WIRD ABGESCHAFFT! ALLES IST VERNETZT!”
Die jungen Businesstypen aus dem Publikum – die sehr wenigen Frauen wirkten eher distanziert – klatschten frenetisch Beifall. Dann stellten sich die jungen Männer brav in einer Reihe an, um sich einen Mikrochip unter die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger implantieren zu lassen. Dorthin, wo’s richtig wehtut. Ihr Stöhnen, wenn das Implantationsgerät ein metallenes Klacken von sich gab, machte den Saal zu einer skurrilen und irgendwie perversen Folterkammer.
Mich erinnerte diese Szene an einen Satz von Big-Bang- Theory-Serienheld Sheldon Cooper in der finalen Staffel: „Als ich ein Kind war und man mich gefragt hat, was ich werden will, wenn ich groß bin, habe ich immer gesagt: ein Gehirn in einem Glas.”
Es war unmöglich, gegen das Zukunfts-Brüllen Einwürfe zu erheben. Das ständige Müssen-Müssen-Müssen prägte bald die ganze öffentliche Zukunftsrhetorik. Zukunft wurde von einer Richtung, einem Geheimnis, einer Sehnsucht nach Wandel zu einer Zwangsvorstellung.
Wir müssen uns anpassen!
Die digitale Welt wartet nicht auf uns!
Der Zug könnte bald abgefahren sein!
Wir brauchen mehr radikale Innovationen! MEHR! MEHR! MEHR!
Immer schneller! Die Zukunft wartet nicht! Drück aufs Gas, Idiot!
Rauschen, Knacken …
Das Future Evolution House
Ende 2010 bauten wir als Zukunftsforscher-Familie unser Zukunftshaus am Stadtrand von Wien. Es war eine analoge Schlacht von Bauschlamm, Koordinationsproblemen und endlosen Handwerker-Nervereien, die meine Frau Oona heldenhaft meisterte. Als das Haus nach achtzehn Monaten Bauzeit endlich stand, waren wir erschöpft, aber glücklich. In Oonas Buch Wir bauen ein Zukunftshaus. Ein Familiendrama in drei Akten (2015) ist die Wahrheit über das Bauen von Zukunftshäusern verewigt. Zukünftig ist daran wenig.
Aber was zum Teufel ist ein Zukunftshaus? Eigentlich ist es ein Oxymoron. Wohnen kann man ja immer nur in der Gegenwart, und ein Zukunftshaus ist normalerweise eher eine Skizze, ein Prototyp, oder bald schon ein Museumsstück. In der Tat hatten wir mehrere der futuristischen Laborhäuser besichtigt, die in den Empfangshallen von Technologiekonzernen standen oder auf Messen gezeigt wurden. Es lief immer auf dasselbe hinaus: Panels, mit denen man alle Funktionen bedienen konnte, einschließlich des Herdes aus dem Wohnzimmer. Und mit Servern vollgestopfte Keller, mit denen man das ganze Haus hätte heizen können. Die unbewohnbaren feuchten Träume von Elektroingenieuren, die alles, was nicht niet- und nagelfest war, automatisieren wollten.
Ich musste ständig an meinen Vater denken.
Das Erste, was wir an Smart Tech einbauten – gesponsert durch eine Firma –, war eine Haussteuerungsanlage. Mit vielen Steuerungsmodulen in den Wänden und einem eleganten mobilen Panel, mit dem man alle Funktionen des Hauses steuern konnte. Das Ganze war sündhaft teuer, aber wir konnten selbst die Gartentür von der Ferne aufschließen, die Jalousien im ganzen Haus nicht nur hoch- und runterfahren, sondern auch unregelmäßig oder regelmäßig hoch- und runterfahren LASSEN. Je nachdem, ob wir die Stimmung „Convenience” oder „Energy” wollten (die Beleuchtung wechselte dann zu grün oder rot) oder bei Abwesenheit mögliche Einbrecher abschrecken wollten (heftig wechselnde Lichtstimmungen).
Das Ganze war gekoppelt mit einer ausgefuchsten Alarmanlage, die per Raumdrucksensoren gesteuert wurde. Es dauerte drei Wochen, das System zu programmieren. Die nächsten Wochen waren erschöpfend, weil zu allen unregelmäßigen Zeiten die Alarmanlage plötzlich losheulte, Alarm- E-Mails an alle Familienmitglieder schickte und an die Polizei, die jeweils 150 Euro berechnete.
Wir fanden schließlich heraus, dass das System auf Winddruck reagierte, der ab und zu unsere großen Glasscheiben zum Schwingen brachte. Sie auszutauschen, hätte ein Vermögen gekostet. Also wurde die Alarmanlage stillgelegt. In der Haussteuerungsanlage selbst traten immer wieder seltsame Bugs auf, die Reprogrammierungen erforderten. Der Schalter für das obere Seitenlicht im Flur ließ plötzlich die Jalousie im Wohnzimmer herunter. Oder das Steuerpanel war abgestürzt und ließ sich nicht mehr hochfahren, was nur durch einen Softwarewechsel behoben werden konnte. Nach einem Jahr ging der Programmierer des Systems, ein freundlicher älterer Herr, in Rente. Der neue, den uns die Firma schickte, hatte keine Ahnung und fuhr kurz darauf in Urlaub. Er ließ sich am Smartphone nie mehr erreichen.
Die Firma, die unser Haussystem geliefert hatte, ging pleite. Oder wurde an die Chinesen verkauft.
Wir lernten: Futuristische Haustechnik ist schwierig, wenn sie die Gegenwart betrifft.
Irgendwie war es praktischer, einfach zum Lichtschalter zu gehen, der tatsächlich noch „Klick” machte.
Ein paar Monate später empfahl uns die Polizei bei einer Einbruchsberatung, einen Hund anzuschaffen. Das wäre das beste Mittel gegen Einbrecher (die in unserer Gegend am Waldrand häufig ihr Wesen trieben). Seitdem haben wir unsere wunderbare Bubbles, eine leicht neurotische, aber sehr selbstbewusste und eigensinnige Maremmano-Hündin.
„Wo immer das Wort ›smart‹ oder ›smartness‹ auftaucht, sollte man es als freundliche Metapher für digitale Ausbeutung verstehen”, so die Managerin Marie-Luise Wolff in ihrem Buch „Die Anbetung”. Über eine Superideologie namens Digitalisierung.
Das Amish-Prinzip
Im Jahr 2010 lernte ich Alexa Clay kennen, die aus der US-amerikanischen Amish-Sekte kam und sich „The Amish Futurist” nannte. Sie trat auf unserem großen Zukunftstag in der Tracht dieser Volksgruppe auf und erklärte den Zugang ihrer Glaubensgemeinschaft zur Technologie. Sie war bei den Amish eine Art Tech-Agentin, die neue Technologien testete, bewertete und ihren Gebrauch empfahl. Oder eben nicht.
Mitten im hyperkapitalistischen Amerika hat eine traditionelle Lebensweise überlebt, die das Verhältnis zwischen Technium und Sozium, zwischen Technologie und Alltagswelt, völlig anders regelt als die Mainstream-Gesellschaft. 300.000 Menschen in sechsunddreißig Bundesstaaten leben einen Lebensstil der radikalen „Low Tech”. Das ist erstaunlich. Wie konnte sich diese Enklave bewahren?
Die Amish-Bevölkerung wächst immer noch, was vor allem an der hohen Geburtenziffer liegt – chemische Verhütungsmittel sind verpönt. Amish-Familien haben im Durchschnitt sechs Kinder, die ganze Soziostruktur ist auf Großfamilien eingestellt, die exzellente Sozialstruktur einschließlich gemeinsamer Kinderbetreuung bietet eine echte Alternative zur Konsum-Moderne. Obwohl viele Mitglieder die Sekte im jungen Erwachsenenalter verlassen, behalten sie ihre Bindungen, und viele kehren auch zurück. Existenzieller Stress, wie er heute die US-amerikanische Kultur quält, ist bei den „Amischen”, die vom Schweizer Wiedertäufer-Prediger Jacob Amann vor 300 Jahren gegründet wurden, so gut wie unbekannt.
Aus Amish-Sicht ist Technologie nicht generell böse oder teuflisch. Sie ist aber zum großen Teil überflüssig. Sie stört die Gemeinschaft. Technik, so wissen die Amish, kann die Bindungen und Seelen beschädigen. Und das ist für einen Amish das Schlimmste.
Genutzt wird nur Technik, die das Gemeinsame fördert und keine übertriebenen Eitelkeiten oder Ablenkungen erzeugt. Amish arbeiten gerne. Sie sind begeisterte Handwerker, die den Prozess des Schöpfens schätzen. Amish nutzen bisweilen Autos für längere Strecken – für den Alltag reicht die Pferdekutsche. Sie lassen sich motorisiert meistens von Chauffeuren fahren. Die Amish nutzen in ihren Werkstätten Drucklufttechnik und für manche Teile der Buchhaltung einfache alte PCs, begrenzen aber deren Gebrauch zeitlich und funktional auf den eigentlichen Zweck. Sie verwenden sogar genetisch veränderten Mais, weil sich die Resistenz gegen den Maiszünsler und andere Schädlinge als existenzbewahrend erwiesen hat. Sie nutzen Plastiktüten, die sie wiederverwenden – sehr oft. Ihre Kutschen sind aus Fiberglas. Bis sie sich für den richtigen Gebrauch einer Technologie entschieden haben, dauert es manchmal Jahrzehnte.
Die Amish haben Zeit, viel Zeit. Generationen Zeit.
Die Amish verzichten auf gar nichts. Und freuen sich an der Fülle, die uns die Technik bietet. Es ist ihre Souveränität gegenüber der Technik, ihre selbstbewusste Wahl, die sie faszinierend und auf gewisse Weise progressiv erscheinen lässt. Sie selektieren den sozialen Nutzen der Technologie, aber gehen den technischen Superversprechen nicht auf den Leim.
Das Technotüm
Siri und Alexa gingen den Weg der meisten Smart-Home- Anwendungen in unserem Haus. Sie wanderten in die große Kiste im Keller mit entschlafener Technik, die jedes Jahr größer wurde, bis sie zu einem echten Monster heranwuchs. Wir nannten es das „Technotüm”. Es stapelten sich Lautsprecher aller Bluetooth-Generationen, abgewrackte Module und Modems, drei Generationen von Internetradios, verblichene Drucker, Stapel von alten iPads und iPhones, Alarmanlagen mit Bewegungsmeldern, umwunden von einem Wust von Netzteilen und Kabeln, die alle miteinander Sex zu haben schienen und sich dauernd vermehrten. Dazu tausend verblichene Tastaturen, ganze Schaltschränke für komplizierte Haustechnik, Gadgets in schrillen Farben, die uns irgendwelche Freunde geschenkt hatten, weil das irgendwie „Future” war.
Wir standen vor diesem Monster und wunderten uns, wie es so weit kommen konnte. Und wie man das recycelt. Wie viel Geld und Zeit wir für sinnlose Technik verballert hatten! Technik auf der Suche nach Problemen, die angeblich das Leben erleichtern würde, aber genau das Gegenteil taten. Aus dem großen Gewirr vermeinten wir manchmal ein sanftes „Womit kann ich helfen?” zu vernehmen.
Was unser Haus wirklich „zukünftig” macht, sind dagegen die Design-Aspekte, die in der Architektur stecken. Wir haben versucht, das Gebäude nach den Bedürfnissen einer individualistischen, multimobilen, also heute ganz normalen Familie zu gestalten.
Unser Haus ist ein Multihaus. Ein gelandetes Raumschiff mit vier Segmenten: Kin, Lounge, Love und Work. In „Kin” (von englisch „kinship”) wohnen die Kinder, wenn sie zu Hause sind. Dass sie auch bis in ihr dreißigstes Lebensjahr immer wieder bei uns leben, war nicht vorauszusehen, aber beabsichtigt. Sie haben ihr eigenes kleines Bad und eine Teeküche und verschwinden tatsächlich manchmal tagelang in ihrem Raumschiffmodul, dass man lautdicht vom Rest des Hauses „abkoppeln” kann (allerdings habe ich noch nie Boxenlärm aus ihrem Trakt gehört, mit dem ich meine Eltern ständig genervt habe. Sie sind eingestöpselt, und es ist mucksmäuschenstill). „Lounge” ist die große Wohnküche, in der sich die Familie trifft, wenn sie Lust dazu hat (leckere Currys von Oona helfen). „Love” ist das autonome Wohlfühlreich von Oona und mir. Und „Work” ist unser Homebüro, das fünfundzwanzig Meter entfernt auf der Wiese steht. Dort arbeiten wir mit zwei Angestellten und empfangen manchmal Kunden (wenn Bubbles uns lässt).
Wohnen ist und bleibt Entschleunigung im Bleibenden. Höhlendasein. Wohnen ist sinnlich, körperlich und bis zu einem gewissen Grad notwendigerweise chaotisch. Häuser sind Ordnungssysteme – oder sagen wir: Ordnungsvorschläge. Funktionen müssen flexibel sein, im Lauf der Zeit wechseln können. Das Bad kann ein Leseraum werden. Das Wohnzimmer mutiert zur Küche, Computerraum ist überall, auch auf dem Klo. Gerade weil wir in einer elektronischen Welt leben, in der wir alle beruflich in Bildschirme starren müssen, sind wir auf das Sinnliche, das Haptische, das Fühlbare angewiesen, das mit uns altert. Warum unser Kühlschrank mit der Kaffeemaschine vernetzt sein soll, damit endlich das „Internet of Things” entsteht, will uns einfach nicht einleuchten.
Unser Haus ist ein Versuch, den Unterschied zwischen „Zukunft” und dem „Zukünftigen” zu verdeutlichen. Zukunft ist ein fixierter Endzustand, eine konstruierte Utopie, die meistens einer Ideologie folgt, einem fixen Set von Regeln und Normen, die schon vorher festgelegt werden. Das Zukünftige hingegen entwickelt sich im Leben selbst, als Praxis und Routine, die funktioniert und ins Kommende weist. Es ist, evolutionsfähig, es steht in lebendigem Kontakt mit unseren Bedürfnissen, es wandelt sich durch unsere veränderten Wünsche.
In der Architektur des Wandelbaren und Gewordenen entsteht eine Schönheit, die man sofort spüren kann: Alte Englische Landhäuser haben so etwas oder französische Chalets oder niederländische Grachtenhäuser oder alpine Lofts der neuen Generation. Selbst gut renovierte Beton-Brutalismen können Wandelhäuser sein. Auch Stadthäuser aus der Gründerzeit haben sich als wandelfähig erwiesen; in ihnen kann alles Mögliche gegründet werden, von Firmen über Dynastien bis zu WGs. Sie verweisen auf die Vergangenheit, aber sie erzählen auch ein zeitloses Morgen. Ein zukünftiges Haus gewinnt in der Dauer an Würde, auch seine Technologien „reifen”, wie man an alten Öfen oder Möbelklassikern sehen kann.
So soll es sein zwischen dem Humanum und dem Technium. Vornehme Distanz bei gleichzeitiger Kooperation.
Der Nettogewinn der Technologie
Der US-amerikanische Medienprophet Neil Postman formulierte es einmal so schön: „Sobald die Maschine gebaut ist, entdecken wir immer zu unserer Überraschung, dass sie eigene Ideen hat; dass sie nicht nur unsere Gewohnheiten verändert, sondern … auch die Gewohnheiten unseres Geistes verändert.”
Jede Technologie verändert das Denken. Sie spaltet dabei zuerst die Wahrnehmungen. Nutznießer und Verlierer, Fans und Skeptiker bilden ein Spannungsfeld, in dem menschliche Möglichkeiten und Grenzen neu ausverhandelt werden. Technik disruptiert gewachsene menschliche Fähigkeiten, das erzeugt Verlustängste ohne Ende. Sie schafft gleichzeitig neue Optionen, die sich erst zu Nutzungsweisen entwickeln müssen, die immer mit Kulturtechniken zu tun haben.
Beim Prozess der „Adaptation”, der gegenseitigen Veränderung von Technik und Mensch, geht es zunächst primär um Sicherheitsaspekte, um die „Entschärfung” der Risiken. Automobil und Flugzeug brauchten Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, um von einem mörderischen Risiko zu einem sicheren Fortbewegungsmittel zu werden. Es waren immer grauenhafte Unfälle, Abstürze, die zu den entscheidenden Verbesserungen führten – etwa der große Doppelcrash auf Teneriffa im März 1977 mit 583 Toten, der weltweit eine völlig neue Flugsicherheitsarchitektur etablierte. Lebensgefahr führt bei vielen Technologien zu schnellen Adaptionen. Dass uns heute jedes Auto unentwegt übergriffig anpiept und Verhaltensänderungen verlangt, ist wohl der Preis, den wir für einen niedrigen Blutzoll des Verkehrs zahlen müssen. (In Deutschland lag der „Peak Car Death” im Jahr 1973 bei 23 000 Todesopfern; eine unvorstellbar hohe Zahl, wenn man berücksichtigt, dass die Fahrzeugdichte heute das Vierfache beträgt; heutige Todesopferzahl: jährlich ungefähr 3000.)
Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem eine Technologie sich weitgehend „humanisiert” hat – eingepasst in die menschliche Umwelt. Ihr Nutzen ist dann größer als ihre Gefahren, ihr Beitrag zu menschlichen Möglichkeiten größer als die Sabotage alter Gewohnheiten. Sie haben einen humanen Nettogewinn. Das Mensch-Technik-Spiel ist dann ein Win-Win-Spiel. Ein Nicht-Nullsummenspiel.
Das ist der Moment, an dem wir tatsächlich Fortschritt vermelden können. Allerdings ist dieser Punkt nie ganz einfach auszumachen.
Für echten Fortschritt sind viele kleine Schritte nötig. In den Organisationsformen, den Rechtsformen und Regularien, den Normen und Normierungen, den Infrastrukturen, Zugangsrechten, den alltäglichen Verhaltensformen. Jede Technik braucht eine Soziotechnik, die auf sie in einer günstigen Art und Weise reagiert.
Allerdings sind diese sozialen Reaktionsweisen für unterschiedliche Interessengruppen unterschiedlich nützlich. Für Betreiber digitaler Netzwerke ist es vorteilhaft, wenn möglichst viele Menschen möglichst lange vor dem Bildschirm kleben. Für die menschliche Kultur und Lebensweise ist das eher fatal.
Die Drucktechnik musste erst Regeln des Verlegens und Veröffentlichens, der Strukturierung geschriebenen Wissen, der Kuratierung hervorbringen – Verlage, Autorenrechte, Verantwortungen etc. (was heute durch das informelle Internet plus KI prompt wieder eingerissen wird). Die Eisenbahn als Alltagsvehikel erforderte mehr als nur den Verzicht, im Bahnhof lautstark auf den Boden zu rotzen (was vor 100 Jahren noch gang und gäbe war). Sie erzeugte auf Dauer eine Kultur des höflichen Reisens, daraus erwuchs auch die Herausforderung, vernünftige Regeln ebenfalls an ihren Zielorten einzuhalten. Wo das nicht gelang, führten die Gleise ins Nichts.
Menschliche Adaption gegenüber Technik ist ziemlich großzügig. Ich wundere mich immer wieder, was uns dazu bringt, uns in eine enge Flugzeugröhre zu pressen, in der der wir so nahe nebeneinandersitzen, dass wir Geruch und Geräusche eines Unbekannten im wahrsten Sinne hautnah erleben. Und uns im Klo um uns selbst winden müssen. Es scheint uns wirklich ungeheuer viel daran zu liegen, uns durch die Luft schießen zu lassen. Dafür akzeptieren wir anscheinend alles, sogar Ryanair.
Warum das Alte wiederkehrt
Die letzten Jahrzehnte der Technologieentwicklung waren von einer Rhetorik der Abschaffung geprägt. Der Begriff „Hightech” markierte einen Technikbegriff, der das Alte radikal überwinden und durch „überlegene Technik” vollkommen ersetzen wollte. Das gelang bisweilen. Aber dadurch entstanden auch dauerhafte Leerstellen menschlicher Natur. Und erstaunliche muntere Comebacks.
Warum kehrt das Vinyl zurück, die Schallplatte, die wir in unserer Jugend auf den heiligen Plattenteller legten, um das leiste Knistern als Vorfreude zu genießen? Warum werden heute in einem Presswerk nahe des Müritz-Sees bei Berlin wieder jährlich vierzig Millionen Schallplatten hergestellt, obwohl doch jeder, aber auch jeder Musiktitel mit einem winzigen Klick auf all meinen Lautsprechern abgespielt werden kann, per Stream?
Eine Antwort lautet vielleicht: genau deshalb. Eben weil das Auflegen einem Ritual, einer kleinen Inszenierung ähnelt, mit der wir unseren Mind auf Musik einschwingen – während der Klick im Netz zu einer „Breibildung” führt, einer inneren Beliebigkeit, bei der die Musik zu einem Geräuschteppich wird. Kunden von neuen Vinylplatten sind über fünfzig Jahre alt; es finden sich aber auch viele Jugendliche im Alter zwischen achtzehn und zweiunddreißig Jahren darunter.
Warum verschwinden die Bücher nicht, diese Anhäufungen von Papier, in denen man nur von vorne nach hinten lesen kann, anstatt überall hineinzuklicken, wo man will? Eben deshalb. Man will nicht immer klicken. Denn das Klicken führt einen immer häufiger in ein Rabbit Hole, in gedankliche Abwege. Die weltweiten Buchproduktionen sind durch das Internet kaum geschrumpft, jedenfalls weitaus weniger, als wir es noch vor zwanzig Jahren voraussagten. Bücher haben gerade den Vorteil, dass sie uns zur Linearität zwingen, zur Immanenz des Gelesenen in der eigenen Fantasie.
Warum erlebt Schach plötzlich eine Rückkehr als eine Art Kultsport, wo doch Computer inzwischen unbesiegbar Schach spielen können, viel besser als Menschen? Vielleicht gerade deshalb. Man will ein zauberhaftes Spiel nicht den Maschinen überlassen, die nicht besser, sondern nur datenstärker, also brutaler Schach spielen. Schach hat auch eine ästhetische, soziale, mentale Komponente, die nichts mit dem Gewinnen allein zu tun hat.
Der US-amerikanische Tech-Kritiker Ian Bogost schrieb in einer Besprechung der neuen Apple-Vision-Pro-Cyberbrille im Februar 2024: „Was aber, wenn die Kluft, die Apple überbrücken will, eine grundlegende Grenze der Technologie darstellt? Eine Zeit lang, auf dem Höhepunkt der Macht des Internets, wurde es populär, so zu tun, als ob die digitale und die materielle Welt zusammenhängend wären – dass die ›reale‹ Welt keine besondere Bedeutung hätte, weil der Cyberspace ein Teil davon geworden sei. Das stellte sich als falsch heraus. Wir leben in Autos und auf Sofas und getrennt davon auch auf Telefonen. Apple glaubt, dass es diesen Konflikt lösen kann – dass die digitale und die materielle Welt miteinander verschmelzen können –, aber es hat den Konflikt nur in eine höhere Auflösung gebracht. Ein Headset ist eine Brille. Aber ein Headset ist auch eine Augenbinde.”
Technik als Trost
Wenn der Futurist Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google LLC, auf leisen Gummisohlen einen Saal betritt, der immer voll besetzt ist, dann herrscht jene tief erwartende Stille, die man in Kirchen hören kann, wenn der Heilige Geist nicht fern ist.
Ein Heiliger, der das nahende Reich verkündet.
Ein Prophet.
Ein erleuchteter Erlöser aus dem Technium.
Kurzweil berichtet uns von der bevorstehenden Singularität. Dieser Begriff wird normalerweise für jenen Zustand benutzt, an dem der Event Horizont eines Schwarzen Lochs in die Raumzeit kollabiert. Kurzweil verwendet den Begriff allerdings anders: Singularität benennt für ihn jenen „einmaligen” Zeitpunkt, an dem sich die rasende technische Beschleunigung zu einem einzigen Event verdichtet, einem Urknall oder Neuknall, in der die Maschinen hyperintelligent werden und der Mensch unsterblich. Unser Bewusstsein wird dann auf Quantencomputern laufen, wir können alle Krankheiten heilen; ob wir überhaupt noch einen Körper brauchen, ist dann eher zweitrangig. Vielleicht entscheiden wir uns für einen, vielleicht nicht, je nach Bedarf.
Um 2045 soll es nach Kurzweils Berechnungen so weit sein, dass sich der Mensch mithilfe der ungeheuren Maschinen-Intelligenz aus seinem fleischlichen Jammertal erhebt. Um bis zum Event fit zu bleiben, nimmt er selbst einen täglichen Cocktail von 200 Tabletten. Als absoluten Beweis für das Nahen der Singularität zeigt Kurzweil auf seinen Vorträgen Grafiken mit exponentiellen Kurvenverläufen. Linien, die immer steil nach oben weisen: die Taktbeschleunigung von Chips, die Kapazität von Rechnern, die installierte Rechenkraft der Computer auf der Erde, Fortschritte bei der Nanotechnik. Im Grunde sind diese linearen Aussagen völlig leere Aussagen. Sie geben einzig kund, dass Computer immer schneller rechnen können. Dass Partikel ständig kleiner manipuliert werden können. Nur was folgt daraus? Kurzweil ist ein Linearist, der sich einen Traum gestaltet hat. Der aber eigentlich ein Alptraum ist.
In der Natur ist Exponentialität meistens fatal. Sie reißt Systeme auseinander. Zum Beispiel die Vermehrung von Populationszahlen von Spezies in einer Umgebung mit begrenzten Ressourcen. Oder Krebszellen im menschlichen Körper.
Wie viele große Mystiker ist Ray Kurzweil von einer existenziellen Melancholie durchdrungen. Man spürt, dass es sich um einen enorm verletzlichen Menschen handelt. Kurzweil hat mit zweiundzwanzig Jahren seinen Vater verloren, den er sehr liebte. In zahlreichen Interviews spricht er über die Hoffnung, seinen Vater wiederzubeleben. Ray Kurzweils Vater Frederic (”Fritz Friedrich”), geboren 1912 in Wien, war offenbar ein wunderbarer Mensch. Ein Autor, Komponist, Dirigent, Philosoph. Ein seelentiefer Humanist. Kurzweil hat in seinem Haus in Massachusetts Kisten von Briefen, Dokumenten und Fotos von seinem Vater gesammelt. Er ist sich sicher, dass die Technik schon demnächst in der Lage ist, aus diesem Material einen authentischen Avatar zu formen. „Ich werde in der Lage sein, mit seiner Re-Kreation zu sprechen”, sagt Kurzweil. „Am Ende würde diese Repräsentation vielleicht sogar realistischer sein als mein Vater selbst, wäre er noch am Leben.”
Kurzweil ist der bekannteste Vertreter des Transhumanismus. Mit seinem Konstrukt der Singularität hat er ins Herz einer Gemeinde getroffen, die in der Technologie endlich die Erlösung sucht. Diese Gemeinde möchte die leidende menschliche Existenz durch Hypertechnologie auflösen. Und damit beenden. Das „Aufgehen” in den superintelligenten Maschinen würde menschliche Existenz ja nicht einfach transportieren, sondern terminieren. Im Inneren des Megacomputers wären wir keine Menschen mehr, sondern allenfalls noch Programme, irrlichternde Muster, wabernde Strukturen. Nicht-Wirs. Un-Ichs.
Was möchten Sie lieber sein? Tot oder ein Irrlicht in einem Quantencomputer?
Man braucht keinen allzu großen Menschenverstand, um zu spüren, dass Kurzweil trauert. Dauerhaft um seinen Vater trauert. Beziehungsweise nicht trauern kann.
Was uns in die Vision einer erlösenden Technologie treibt, ist die Angst vor dem Tod. Oder besser: die Angst davor, nicht mehr existieren zu können. Verlassen zu werden. Um dieser Angst entgegentreten zu können, versuchen wir alles. Sogar den Tod in den Datenströmen der Quantencomputer würden wir womöglich in Kauf nehmen.
Der Soziologe Stefan Selke zeigt in seinem Buch „Technik als Trost” den Verheißungscharakter der KI auf. In ihr spiegelt sich die schwarze Anthropologie, der Mensch als Mangelwesen, der durch die „Übertechnik” überwunden werden muss. „Eine demoralisierte, erschöpfte und entfremdete Gesellschaft kann am Ende nur durch die Re-Zentrierung des gesellschaftlichen Gravitationszentrums stabilisiert werden. Und genau diese Stabilisierung oder auch ›Heilung‹ ist das Kernversprechen von KI, deren Verheißungen zwischen exorbitanten funktionalen Aspekten und prognostizierten Wundern changieren.” In der Verwirrung unserer Zeit sehnen wir uns nach einer unfehlbaren Instanz, die uns die Richtung zeigt.
Und wünschen und befürchten Dinge und Phänomene, die mit der Menschen-Welt nicht in Einklang gebracht werden können. Wir fürchten und erhoffen das Falsche. Weil wie alle Kategorien in diesem Spiel ständig durcheinanderwerfen.
Das Menschliche bewahren
Was bleibt zu bewahren, womöglich sogar gegen das Technium zu verteidigen? Der britische Kognitionspsychologe Graham Lee listet in seinem Buch „Human Being: Reclaim 12 Vital Skills We’re Losing to Technology” zwölf menschliche Kompetenzen auf, die uns kostbar sein sollten. Es sind jene Eigenschaften, die wir uns von der Technik nicht erset-zen lassen sollten. Diese zwölf Kompetenzen sind:
Bewegung
Konversation
Alleinsein
Lesen
Schreiben
Kunst
Handwerkliche Fähigkeiten
Gedächtnis
Das Träumen
Das Denken
Die Zeit
Navigation
Wieso Navigation? Warum ist das eine wichtige, eine zu verteidigende Fähigkeit? Wir haben doch längst Navigationssysteme, die uns diese „Arbeit” abnehmen …
Ich bin ein Kind des Kartenlesens. In meiner Jugend waren Landkarten, Mondkarten, Sternenkarten etwas Wunderbares, weil sie in einem irritierenden Universum Orientierung gaben. Ich bin aufgewachsen mit Karten, die auf meinen Knien im Auto meines Vaters lagen und mit denen ich ihn dirigierte. Damals ließ man seine Hand am Steuer und die Augen auf der Straße, und trotzdem krachte es dauernd. Auto lagen brennend links und rechts der Fahrbahn, wenn wir zu Urlauben an die Ostsee fuhren. Man sah die Rauchwolken schon von Weitem. Die Karten gaben einem ein seltsames Sicherheitsgefühl. Ein Fluchtgefühl. Man würde einen anderen Weg finden.
Ich finde mich heute in rund hundert Städten einigermaßen zurecht. Ich habe noch virtuelle Drahtgittermodelle in meinem Kopf, virtuelle Stadtpläne, die ich aufrufen kann, um mich orientieren. Weil ich mich so oft verirrt habe, habe ich das Navigieren gelernt.
Es ist wichtig, sich zu orientieren. Nicht nur, um vor Räubern und wilden Tieren weglaufen zu können. Sondern auch, um die Richtung zu finden, in die man gehen will.
Sind wir mobiler geworden, weil wir nicht mehr mit Karten herumfummeln müssen? Unser Weltverständnis ist auf Punkte zusammengeschnurrt. Ich finde das traurig. In der Nacht weiß ich, wo ich den Nordstern finde. Ich empfinde das als großes Glück – zu wissen, wo die Richtung sein könnte. Im Zeitalter digitaler Navigationssysteme bewegen wir uns jedoch immer nur von Punkt zu Punkt. Und dieser Punkt hat keine Verbindung mehr; er ist ein Finitum in einem infiniten Universum. Er erzeugt in unserem räumlichen Gedächtnis keine Spur.
Das hat Auswirkungen auf unseren Mind. Unseren Future Mind. Die äußeren Karten werden im Inneren reflektiert. Das erklärt vielleicht auch einen Teil der Dimensionslosigkeit unserer Zeit. Wir sind desorientiert, weil wir glauben, auf jeden Fall irgendwie rauszukommen, an einem anderen Punkt.
Navigation als Fähigkeit ist eine Metapher für Zukunfts-Kompetenz. Und ein erwachsenes Welt-Verhältnis, das wir brauchen, um mit dem Leben klarzukommen.
Die Welt navigieren
Die Polynesier, die Bewohner des pazifischen Inselraums, navigieren in den 165 Millionen Quadratkilometern des Pazifiks seit Jahrtausenden von Insel zu Insel, von Archipel zu Archipel. Sie überwinden dabei Entfernungen von bis zu 4000 Kilometern. Und egal ob es stürmt oder still ist, ob Strömungen oder Winde den Kurs verändern oder nicht – sie finden immer (so gut wie immer) ihre Zielinsel.
Die Polynesier haben ein System der Orientierung entwickelt, das sie Etak nennen. Etak ist eine bestimmte Art, die Zeichen der Welt in dynamischer Weise zu lesen. Und dadurch dynamisch seine Position verändern zu können.
An Bord der Endeavour, James Cooks Expeditionsschiff, das von Tahiti aus den polynesischen Seeraum erforschen sollte, befand sich im August 1769 ein Priester der Bevölkerung Tahitis namens Tupaia, der über besondere Navigationskenntnisse verfügte. Er brachte den britischen Seefahrern zumindest ein paar Elemente dieser Fähigkeit bei. Graham Lee: „Navigatoren wie Tupaia konnten genau die Form von Wellen im offenen Meer beurteilen, um die Richtung von Strömungen festzustellen, Schichten, die innerhalb von Wellen oder unterirdischen Strömungen auftreten, zusammen mit den Serpentinenlinien von Treibgut, die sich am Zusammenfluss entgegengesetzter Strömungen sammeln. Navigatoren mussten sich mit wesentlichen Teilen des Nachthimmels vertraut machen, sich ausreichend Sterne und Konstellationen merken und beobachten, wie sie sich von der Abenddämmerung zur Morgendämmerung verändern.”
Die polynesischen Navigatoren integrierten ihre Beobachtungen in eine dynamische Repräsentation der Welt. Im Etak-System verborgen ist die Weisheit, dass alles unentwegt in Bewegung ist und dass der Kurs des eigenen Kanus nur eine von unendlich vielen Bewegungen ist, also niemals eine gerade Linie von A nach B bilden kann. Alles blieb immerzu in Relation: die Wellen, die Winde, die Inseln, das Boot, die Vögel, Ein ewiger Tanz, in dem sich ständig Wandlung vollzieht, die Sinn macht.
So wie das ganze Leben, die Welt.
Die verlorene Revolution
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht in unserer digitalen Welt. Mir geht es dort derzeit nicht besonders.
Wenn ich morgens meinen Computer hochfahre wie Abermillionen andere Menschen oder mein Smartphone anschalte, das ja irgendwie sowieso nie wirklich ausgeschaltet ist, sondern auf Standby immerzu auf mich wartet, um mir Botschaften zuzuflüstern, auf die ich reagieren muss, wenn, ja wenn – ich nichts verpassen will. Ich bin dann ziemlich schnell auf eine seltsame Weise erschöpft und genervt. Aber gleichzeitig kann ich dieser Erschöpfung gar nicht mehr richtig empfinden. Sie ist zu normal geworden. Es ist eher ein Taubheitsgefühl.
Ich gehe mit meinen digitalen Tools nicht mehr raus in die Welt wie in den Zeiten des zwitschernden Modems. Vielmehr geht das Netz in mich hinein. Bevor ich überhaupt anfangen kann, etwas zu tun, muss ich erstmal einmal für die Maschine arbeiten. Etwas wegklicken. Etwas hinklicken. Etwas umklicken und ausklicken. Etwa uploaden aktualisieren, bestätigen, und downloaden. Ich bestätige Codes. TANs. Anfragen. Abfragen. Hinfragen, Herfragen.
Ich bin ein ewiger Bestätiger. Ein Akzeptierer. Ein Systempfleger.
Ich bin ein Bittsteller, der um Zugang bittet. Ich klicke, dass ich kein Roboter bin. Klicke wie ein Kleinkind auf Felder mit Bussen, Ampeln oder Vögeln (sollten das nicht wirklich eher die Maschinen tun – wie blöde bin ich eigentlich?).
Klicke, dass ich die AGB gelesen habe. Und mit irgendetwas, was mich nicht interessiert, einverstanden bin.
Consent! Consent! Consent!
„Ihr Update ist zum Download verfügbar.”
Und wo zum Teufel ist das verfluchte Ladekabel? Haben die Kinder es geklaut?
Geht das nur mir so? Ich habe das Gefühl, dass das Netz, das so etwas wie unser Lebensraum war, anfängt, auseinander zu bröseln. Es gibt jetzt die These (die ich ganz plausibel finde), dass das kommunikative Internet im Jahr 2026 gestorben ist. Vertreten wurde sie 2021 von einem User namens Illuminati-Pirate, nachdem er festgestellt hatte, dass ein großer Teil der Kommunikation im Netz nur noch von Bots betrieben wurde.
Das Netz, mit dem wir in die große weite Welt starten wollten, hat sich in eine schreckliche Aufmerksamkeitsfalle verwandelt. Es hat – seien wir ehrlich – einen umfänglichen Teil der menschlichen Kommunikationsfähigkeit in unserer komplexen Gesellschaft zerstört. Das Netz verbindet uns nicht mit der Welt und den Menschen. Es zerschneidet vielmehr die lebendigen Resonanzen, die leibhaftigen, gewachsenen Verbindungen. Es erzeugt unentwegt Schnittstellen, um dann alles neu zusammenzufügen – im Sinne monopolitischer Algorithmen, die vor allem Werbung verkaufen wollen. Werbung, die alles, was wir am Bildschirm lesen und aufnehmen, ständig verrückt und verschiebt. Und damit Sinn dekonstruiert.
Besonders betrügerisch arbeitet das Netz, wenn es die berühmte „Schwarmintelligenz” organisieren soll: Bewertungen von Restaurants, Filmen, Büchern (die mit den möglichen fünf Sternen) sind zu einem großen Anteil gefälscht oder gekauft. Meinungen werden durch Echoeffekte ins Unendliche verstärkt, obwohl nur ein paar wenige Wütende irgendetwas „meinen”. Events, die gar nicht stattfinden oder stattgefunden haben, bekommen die höchsten Klickzahlen. Die Karte hat das Gebiet längst in sich aufgefressen, sie überschrieben. „Irgendwo kichert schadenfroh Jean Baudrillard”, schrieb Titus Blome in der „Süddeutschen Zeitung”.
Das Internet ist ein dunkler Wald, in dem wir verloren gegangen sind, ohne es überhaupt zu merken. Wer ist der Wolf? Wer ist die Großmutter? Oder gibt es gar keinen Unterschied mehr zwischen Wolf und Großmutter?
All diese Missverständnisse öffnen die Tore zu einem hyperaktiven Techno-Feudalismus mit religiösen Zügen. Einer Pseudo-Religion, die uns immerzu das Blaue vom Himmel verspricht, aber am Ende scheitern muss.
Wir befinden uns am Ende eines technologischen Zyklus, der jetzt seinen Tipping Point erreicht hat. Daraus entsteht eine neue Sehnsucht, ein humanistischer Aufstand. Der US-amerikanische Extrembergsteiger und Unternehmer Yvon Chouinard formuliert die Richtung dieser neuen Revolte so: „Ich glaube, der Weg zur Beherrschung jedes Unterfangens besteht darin, auf Einfachheit hinzuarbeiten; ersetzen Sie komplexe Technologie durch Wissen. Je mehr Sie wissen, desto weniger brauchen Sie. Durch meine schwachen Versuche, mein eigenes Leben zu vereinfachen, habe ich genug gelernt, um zu wissen: Sollten wir einfacher leben müssen oder wollen, wird es kein verarmtes Leben sein, sondern ein reicheres Leben in all den Dingen, die wirklich wichtig sind.”
Ein Gespenst geht um in der ganzen Welt und weit darüber hinaus. Es spukt in unseren Köpfen und Seelen. Es lässt uns nicht ruhig schlafen. Es quält und verwirrt unsere Gedanken, unsere Unternehmen, unsere Gesellschaften, unseren Mind.
Es ist das Gespenst der Künstlichen Intelligenz.
Auf unheimliche Weise scheint KI das Schicksal der ganzen Menschheit zu bestimmen. Sie saugt alles, was wir wissen, glauben und hoffen, in sich hinein. Sie enteignet die Gedanken, die Bilder, die menschlichen Gefühle. Sie stürzt uns in einen Strudel der Selbstabwertung, der gefühlten Unterlegenheit gegenüber der Macht des Digitalen.
Sie zerstört unsere Vorstellungen von der Zukunft.
Doch jetzt ist es an der Zeit, diesen Zustand der Angst und Unterwerfung zu überwinden. Wir sind aufgerufen, neu zu verstehen, wer wir – als Menschen – sind. Und was Zukunft für uns bedeutet.
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KI ist ein Hype, der sich aus ökonomischen Hysterien speist.
Der digitale Kapitalismus mit seiner Beschleunigung der Datenprozesse reißt die Wünsche, Hoffnungen, Träume und Gedanken des Menschen in das Raster der digitalen Akkumulation. KI lagert die Produktionsinstrumente des Geistigen scheinbar aus den Köpfen und Hirnen aus. Dies wiederum erzeugt eine glühende Illusion, eine Gier endloser Profite, die sich mit unbeschränkten mentalen Kapazitäten erzielen lassen. Und es schafft einen neuen Klassen- und Kulturkampf: Wem gehört das geistige Eigentum?
Im IT-Sektor haben sich in den vergangenen 20 Jahren vier bis fünf große Monopolisten entwickelt, deren Geschäftsmodelle erschöpft und brüchig geworden sind. Die digitalen Imperien, die Alphabets, Metas und Microsofts dieser Welt, brauchen in ihrem existenziellen Konkurrenzkampf um jeden Preis das „Next Big Thing”. In diesem Kampf werden Milliarden Dollar eingesetzt, um die Vorherrschaft über „die größte Technologie aller Zeiten“ zu sichern.
Doch das könnte sich als Illusion erweisen.
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Je weiter sich KI entwickelt, desto dümmer wird sie.
Was „kann“ Künstliche Intelligenz? Und was wird sie können, wenn sie noch viel „weiter“ ist?
Hier ist eine widerborstige These: Generative KI wird, wenn sie „perfekt“ und mit noch mehr Daten trainiert ist, weniger können als heute.
Generative Künstliche Intelligenz ist ein stochastischer Papagei, der nachplappert oder nachbildet, was bereits existiert. Dies führt zu einem evolutionären Paradox: Je weiter sich KI entwickelt, desto dümmer wird sie. Da die Ergebnisse der KI immer wieder in die KI-Systeme eingespeist werden, entsteht eine regressive Schleife: Das Wiederholte wird wiederholt, und das wiederholt Wiederholte wird wieder wiederholt… Die KI wird mit ihren eigenen Produkten überfüttert, was in eine Digitale Dekadenz mündet. Einer Art Selbst-Kannibalismus.
Überraschungen sind jedoch das, womit der menschliche Geist seine Balance zwischen Chaos und Struktur bewahrt. Womit er seine Energie generiert. Was uns zum Lesen bringt, ist das Bedürfnis nach Staunen. Das Erleben des Neuen und Zauberhaften.
Die KI wirkt auf mich beruhigend dumm.
– Helge Schneider, Komiker und Künstler
Viele der von KI erwarteten Produktivitätsgewinne sind trügerisch. Die Hauptmängel von KI-Produkten, etwa die Tendenz zum Halluzinieren, könnten sie in wichtigen Marktumgebungen – etwa in Gerichten, Krankenhäusern, Regierungsbehörden, Schulen – unbrauchbar machen.
Ein Großteil der menschlichen Arbeit erfolgt immer noch manuell, zwischenmenschlich, in echten Interaktionen. Der Versuch, diese Arbeit virtuell zu substituieren, trägt Züge eines Wahngebildes.
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KI zwingt uns zu einem „Creative Uplift“.
Generative KI drängt Kreative zu einer harten Selbstüberprüfung: Kann das, was ich herstelle, besser von einer KI erzeugt werden?
Die Frage klingt vernichtend. Sie hat aber auch einen befreienden Charakter, wenn man sie ehrlich stellt. Denn wenn wir von der KI ersetzbar sind, heißt das, dass wir uns von der genuinen Kreativität entfernt haben. Wir sind in gewisser Weise selbst zu Maschinen geworden. Zu Anhängseln.
Dann ist es Zeit, neu aufzubrechen.
KI wird den Mainstream der kreativen Arbeit „vertilgen“ – und gleichzeitig aufblähen. Dies wird einen neuen Sektor der radikalen Mittelmäßigkeit erzeugen, in dem weder Löhne noch Honorare gezahlt werden, weil die KI alles übernimmt. Doch zugleich entsteht ein schnell wachsender neuer Markt, in dem die genuine Human-Kreativität wieder neu bewertet und gewürdigt wird.
Maschinen können Kombinationen finden. Materialien sichten. Aber sie haben keine „Wahrnehmungen“. Und sie verstehen nichts von Leidenschaften und Selbstvertrauen, den großen Treibern der Kreativität. All das können sie nur simulieren.
Zu den großen Eigenschaften des Menschen zählt die Wahrnehmung der Wahrhaftigkeit. Auch dafür gibt es einen Markt. Einen riesigen und wachsenden – wenn wir es richtig anstellen.
ur Frage, ob die Demokratie eine Zukunft hat, würde ich gerne meine Großmutter befragen. Sie wäre heute 118 Jahre alt – Jahrgang 1906. In ihrem sanften Sächsisch würde sie Demogradie sagen, mit guttural-weichem G und D. Das klänge irgendwie liebevoll.
Meine Großmutter war eine sächsische Liberale. Parteibuch Nummer sechs nach Hans-Dietrich Genscher, wie sie immer stolz erzählte. Sie flüchtete, wie meine ganze Familie, in den fünfziger Jahren aus der DDR in den Westen, weil sie in ihrer Heimatstadt Pirna bei Dresden keine Lebensperspektive mehr sah. Sie war eine bürgerliche Frau, die in der Weimarer Republik und Fall der jungen deutschen Demokratie erlebte, nach dem Krieg die Familie versorgte und ein grundlegend humanistisches Weltverständnis hatte.
„Der Mensch muss leben“, sagte sie. „Man kann nicht Leute auf Dauer einsperren. Demokratie macht die Möglichkeit, ein Bürger zu sein statt ein Untertan. Sich zu entwickeln.“
Das Wort „Bürger“ war in meiner Jugend eher ein Schimpfwort. „Bürgerlich“ war das Letzte, was man sein wollte, wenn man sich jung und rebellisch fühlte und die Welt verändern wollte. Heute ist das anders. Man sehnt sich förmlich nach Bürgern, die die Demokratie nicht ständig beschimpfen, verdammen, in Grund und Boden reden. Sondern gestalten. Das Bürgerliche als verantwortliches Lebens- und Gesellschaftsverständnis ist zu einer unerfüllten Sehnsucht geworden.
Was würde meine Großmutter angesichts der heutigen Lage der Demokratie sagen? Sie wäre sicher entsetzt. Ich wäre sehr interessiert, zu wissen, was sie von der verbreiteten These hält, dass jetzt „die Nazis“ wiederkommen. „Nüscht“, würde sie wahrscheinlich in ihrem immer leicht ironischen Tonfall sagen. „Dieselbe Bäbe (sächsischer Kuchen, der zum Leichenschmaus gegessen wurde) wird nicht zweimal gebacken.“
Die falsche Diagnose
Dass die Demokratie am Ende ist, wird meistens damit begründet, dass es furchtbar viele böse Rechte gibt, die sie abschaffen wollen.
Das ist ein bisschen so, wie wenn man sagen wollte: „Es regnet, weil es nass ist.“
Versuchen wir eine andere Perspektive: Das rechtsradikale, demokratiefeindliche Spektrum wuchert, weil die Demokratie ein Problem hat. Dieses Problem lässt sich nur systemisch und (meta-)psychologisch verstehen. Das erste Stichwort ist Komplexität. Die „Umwelt“, auch die Innenwelt der Gesellschaften, in denen wir leben, hat sich verändert. Die Nachkriegsgesellschaft, in der ich als Boomer aufgewachsen bin, war eine schnell wachsende industrielle Klassengesellschaft mit ziemlich hoher nationaler Souveränität, die jedes Jahr ein bisschen mehr „Wohlstand für alle“ hervorbrachte. In ihr gab es ziemlich klare Schichten, Klassen und Interessen; Ordnungen, auf die man sich beziehen konnte, gerade indem man dagegen rebellierte. In der Politik ging es zunächst vor allem um die Umverteilung des Wohlstands-Kuchens, der ständig größer wurde. Später auch um Kultur- und Wertefragen. Als geteilte Zukunftsvision gab es die Idee einer Bildungsgesellschaft, in der alle sich in einem permanenten, auch geistigen Aufstieg befanden.
Auch damals gab es Spaltungen und Lager, die sich bekämpften. Es gab aber eine Synergie, die gerade aus den Widersprüchen entstand. So stammten wichtige Umweltgesetze von der CDU, sogar das Heiratsrecht für Schwule und die breite Kinderbetreuung wurden von den Konservativen verabschiedet. Die wirksamsten Gesetze zur Ankurbelung der Wirtschaft kamen oft von den „Sozis“, man denke an die vielgescholtenen Hartz-Gesetze. Im Wechselspiel von Regierung und Opposition, von konservativ und progressiv, entstand ein Win-Win-Spiel, das sich selbst stabilisierte: Die Demokratie funktionierte als lernendes System.
Die Gesellschaft war in Bewegung, und stellte der Politik Fragen. Die Politik antwortete. Sie antwortete auf das, was in der Gesellschaft geschah, mit maßvollen Reformen.
Verhexte Probleme
Heute ist die Gesellschaft in die in tausend kleine Interessensgebilde, Gefühlslagen und Lebensweisen zersplittert. Unsere komplexe Gesellschaft ist geprägt von „Wicked Problems“. Problemen, die man nicht so ohne weiteres lösen kann, und die in ihrem Kern ein Paradox aufweisen. Migration zum Beispiel: Einerseits wird heute Fluchtmigration als Waffe in Globalen Konflikten benutzt (Putin lässt grüßen), schon deshalb muss sie eingedämmt werden; sie ist in einem doppelten Sinne „illegal“ geworden. Das aber richtet sich in der einen oder anderen Weise gegen die grundlegenden Menschenrechte. Gleichzeitig brauchen spätindustrielle Wirtschaften mit sinkenden Geburtenraten Einwanderer, die schlechtbezahlter Jobs übernehmen. Aber auch Fremde, die verantwortungsvolle Berufe ausüben können. Die nur kommen, wenn es keine fremdenfeindlich verseuchte Atmosphäre gibt.
Wie will man diese Paradoxie jemals auflösen?
So gut wie alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens sind durch solche „Verhexungen“ geprägt: Wie soll man jemals die steigenden Gesundheits-Kosten für eine Bevölkerung in den Griff kriegen, die im Altern immer länger kränker wird, gerade WEIL ständig neue Behandlungsmethoden erfunden werden, die das Leben verlängern, die aber immer TEURER sind? Wie will man das moderne Einsamkeitsproblem „lösen“, wenn die Individualisierung immer weiter fortschreitet und Bindungen immer mehr erodieren? Wie soll man den Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie lösen, wenn jedes Wachstum, existentiell für eine rasende Konsumgesellschaft, immer mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre bläst? Und neuestes Beispiel: Wie soll man die Notwendigkeit erfüllen, sich gegen bösartige Diktatoren neuen Typus zu rüsten, wenn ein Ethos des „Sterbens fürs Vaterland“ total aus der Zeit gefallen ist?
In all diesen Paradoxien stößt die Politik an die Grenzen ihrer Formungsmacht. Sie wird aber gleichzeitig als „Lösung für Alles“ gesehen. Jede gewählte Regierung, steht von der ersten Minute an unter einem übermächtigen Erwartungsdruck, der sie schon ohnmächtig macht, bevor das erste Gesetz erlassen, die erste Lösung auf dem Weg ist. Ständig bilden sich Empörungs- und Trotzgemeinschaften, die allerdings ebenso schnell wieder verschwinden und sich anderen Themen zuwenden. In der Parteienwelt herrscht ein heilloses Tohuwabohu (Kuddelmuddel würde meine Großmutter sagen): Linke Parteien liebäugeln plötzlich mit reaktionären Parolen, weil sie hoffen, die rechten Empörungsreservoirs einzufangen. Volksparteien zerfasern sich in endlosen Verkrampfungen, nicht ratlos zu erscheinen. Das radikal Rechte wird plötzlich rebellisch, und das Linke erstarrt in endlosen moralischen Forderungskatalogen. „Konfusionismus“ nannte der französische Politologe Phillippe Corcuff diese Selbst-Verschlingung des Parteisystems, in der alle nur noch in einer Art Riesentheater aufeinander einschlagen, und jeder Zukunfts- und Sinngehalt verschwindet. www.zeit.de/philippe-corcuff
Die Echokammer der Medien
Bevor ich Zukunftsforscher wurde, war ich Journalist und Redakteur, unter anderem in der Hamburger ZEIT. In der Redaktion hatten wir damals eine interessante Mischung aus Nähe- und Distanzkultur; es galt das „Hanseatische Sie“. „Helmut, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie gerade diese und jene These vertreten?“, sagte man zum Beispiel auf wöchentlichen Redaktionskonferenzen zum damaligen Herausgeber Helmut Schmidt. Die Kombination von Vornamen und Höflichkeitsform hatte etwas Aristokratisches, Vornehmes, aber eben auch etwas zutiefst Demokratisches. Weil es Hierarchien und Distanzen anerkannte – und gleichzeitig überbrückte.
In dieser Zeit vor Jahrtausendwende und Digitalisierung waren „Medien“ noch das, was der Name eigentlich sagt: Vermittler. Es ging darum, die Unterschiedlichkeit der Gesellschaft mit Diskursen und Verbindungen zu versorgen. Der Herausgeber des Spiegels, Rudolf Augstein, sah sein Blatt sogar als „Sturmgeschütz der Demokratie“. Was bedeutete, den Politikern, der „Politik“, immerzu mit gnadenloser Kritik zu Leibe zu rücken, um sie dadurch zu verbessern.
In einer Aufmerksamkeits- und Erregungs-Ökonomie hat sich diese kritische Rolle aber in etwas Dämonisches verwandelt. Journalistische Technik besteht immer mehr im „Clickbaiting“, jener immer raffinierter ausgeübten Methode, durch drastische, absurde, angstmachende Überschriften und Bilder Klick-Reaktionen auszulösen. „Früher“, sagte neulich ein namhafter Journalist, „ging es darum, Werbung zwischen den Themen zu verkaufen, die mit dem Inhalt nichts zu tun hatte. Heute geht es darum DURCH ein möglichst schräges Thema möglichst viele Werbe-Klicks zu erzeugen. Das macht den ganzen Unterschied.“
Der mediale Stil gegenüber der Politik tendiert zu dem, was man im Englischen „Horse-Race-Journalism“ nennt. Es geht nur noch darum, wer „das knappe Rennen gewinnt“. Vielmehr: verliert. Hier eine typische SPIEGEL-Schlagzeile (30.6.24): „Pistorius führt, Baerbock verliert!
Der Verteidigungsminister ist jetzt beliebter als der Bundespräsident. Für Annalena Baerbock und Volker Wissing läuft es nicht rund, anders sieht es bei Nancy Faeser aus…“
Politiker werden wie Pferde behandelt, die mit der Peitsche durch den Parcours getrieben werden. Unentwegt wird verglichen, abgewertet, hochgejubelt, verurteilt, skandalisiert, „vermeint“. Fernseh- Interviews ähneln eher monotonen Abfragen: „Was sagen sie zum Versagen der Politik in diesem und jenem Bereich? Wann erklären sie endlich ihre Kandidatur zum Bundeskanzler? Finden Sie nicht auch, dass…“ All das stärkt die „Trotzdemokratie“ (Sloterdijk), die immer weniger von und über sich selbst wissen will, sondern immer nur neue Erregungen sucht.
Das übermächtige Echosystem der Medien hat zu dem beigetragen, was man eine „Hysterese“ nennen könnte. Eine schleichende Hysterisierung der Gesellschaft, in der nur noch das Gefährliche, Nichtfunktionierende, Nichtperfekte gesehen und mit Angst und Vorwurf aufgeladen wird. Man kann nichts mehr zugestehen, nichts anerkennen. Nichts mehr einfach mal gut finden. Die Gesellschaft gerät in einen Emotions-Überschuss, und verliert ihren inneren Kern des Zusammenhalts.
Selbst Augstein, der gnadenlose Rächer der Demokratie, muss diesen Echo-Effekt der negativen Selbstverstärkung geahnt haben. In einem Interview kurz vor der Jahrtausendwende sagte er: „Es liegt wohl im Wesen der politischen Kritik, die Krisen, die aufgezeigt werden, immer noch zu verschärfen. Wie man das ins Positive wenden kann, dazu habe ich nichts zu bieten.“
Der Begriff Hysterese (altgriechisch: Hysteresis = Zuspätkommen), stammt aus der Physik. Erklären lässt sich das Phänomen an der Heizungstechnik. Thermostaten messen die Temperatur eines solchen Systems an bestimmten Stellen, und lösen, wenn etwas zu heiß oder zu kalt wird, eine Reaktion aus. Dabei entstehen zeitversetzte Vorlauf- und Nachlauf-Kurven, die über Feedbackschleifen die Temperatur „regeln“. Auch unser Körper, das menschliche Leben, der menschliche MIND, ist durch solche Feedback-Schleifen geregelt. Ständig „springen“ Routinen, Prozesse, Abläufe an, mit der wir versuchen, wieder in Balance zu kommen, körperlich und seelisch. Was bei Heizungssystemen eine durchgängige Wohlfühltemperatur ist, ist bei Menschen die „Homöostase“.
In einer (mentalen) Hysterese geraten die Vorlauf- und Nachlauf-Schleifen (Antizipationen/Rezipationen) dauerhaft aus dem Ruder. Es gelingt nicht mehr, eine sinnvolle Rückkoppelung zwischen Angst und Beruhigung, Furcht und Aktivität herzustellen. Störgrößen entstehen und schaukeln sich auf. Die „Feedbacks“ des gesamten Systems verändern sich erst langsam, dann schneller in eine chaotische Richtung (etwas Ähnliches findet in unserem Körper beim Altern statt, wenn die Homöostase nicht mehr funktioniert).
Hysterese verändert das Denken. Unser Erwartungs- und Wahrnehmungssystem wird umgebaut. Statt mit Zuversicht begegnen wir der Welt mit immer mehr Misstrauen. Der Satz „Es wird schon schiefgehen“ hat keinen ironischen Tonfall mehr.
In der Hysterese entsteht der so genannte Abwärtsvergleich als Norm des Denkens. Wir vergleichen nicht mehr unsere Wünsche, Träume, Hoffnungen mit den Möglichkeiten, und versuchen Wege der Realisierung zu finden – die Zukunft leitet uns. Wir sehen stattdessen alles nur im Zeichen des Verlustes. Wir rechnen auf: Früher war alles besser, heute wird alles schlechter, also kann es demnächst nur noch schlechter werden.
Wir konstruieren und selbst in einer Negativspirale der Zukunftslosigkeit.
Die Konsequenz sind Jammern, Bitterkeit und Wut, die schnell in Aggression umschlagen können.
Vom Bürger zum Konsumenten
Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Als Konsument muss man sich um die Umstände nicht kümmern. Alles wird im Supermarkt bereitgestellt. Oder per Internet am nächsten Tag geliefert, mit Rückgaberecht. Die Macht des Konsumenten ist die Reklamation: Wenn etwas nicht gefällt, wird es zurückgeben. Oder man geht zum Verbraucheranwalt. Oder schreibt wütende Zerrisse auf Facebook.
Konsum, als Verhaltens- und Erwartungsform, hat offensichtlich längst auf die politische Sphäre und den gesellschaftlichen Diskurs übergegriffen. Vom Staat erwarten wir zuallererst Vorteile, „Erleichterungen“. „Lösungen“ „Effizienz“, „sinkende Steuern“. Der Staat soll alles regeln, Gerechtigkeit herstellen, alle Krisen beseitigen, Pandemien beenden, ohne dass wir unsere Freiheit einschränken müssen. Er soll mit wenig Geld alles finanzieren, und zwar subito! Man erwartet von „der Politik“ „instant delivery” – sonst ist alles kaputt!
In ihrem Buch „Citizens – warum die Lösung in uns Allen liegt“ schreiben die Autoren Jon Alexander and Ariane Conrad:
„In den letzten Jahren haben wir für ein Buch mit dem Titel „Citizens“ recherchiert, in dem wir eine hoffnungsvollere Erzählung für das 21. Jahrhundert vorschlagen als die des Konsumismus. In dieser Zukunft sind die Menschen aktive Bürger, und keine Untertanen oder Konsumenten. Mit dieser Identität wird es leichter zu erkennen, dass alle von uns smarter sind als jeder Einzelne. Und dass die Strategie, um schwierige Zeiten zu meistern, darin besteht, die vielfältigen Ideen, Energien und Ressourcen aller zu nutzen. Bei dieser Form der Staatsbürgerschaft geht es nicht um den Reisepass, den wir besitzen, und sie geht weit über die Pflicht hinaus, bei Wahlen abzustimmen. Sie stellt die tiefere Bedeutung des Wortes „Citizen“ dar, dessen etymologische Wurzeln wörtlich „gemeinsame Menschen“ bedeuten: Menschen, die durch ihre grundlegende gegenseitige Abhängigkeit definiert sind, Leben, die ohne Gemeinschaft bedeutungslos sind. Als Bürger sehen wir uns um, identifizieren die Bereiche, in denen wir Einfluss haben, finden unsere Mitarbeiter und engagieren uns. Und unsere Institutionen ermutigen uns dazu.
Die größte Gefahr für die Demokratie geht womöglich von einer Nullsummenlogik aus, in der es gar nicht mehr um Verbesserungen geht, sondern um „Racheakte aus Enttäuschung“. Untersuchungen in Frankreich über die Wähler von Rassemblement National zeigen, dass es sich in der Mehrzahl eher nicht um Marginalisierte und „abgehängte“ Bevölkerungsschichten handelt. Sondern um relativ Etablierte, die oft ein Eigenheim besitzen, die um ihren Status fürchten, und eine Art Abwärts-Wut kultivieren. Sie wollen nicht wirklich, Verbesserungen, etwa bessere Gesundheitsversorgung oder mehr Verkehrsmittel auf dem Lande. Sie wollen, dass andere – Minderheiten, Migranten, Nichtverwandte, Kulturfremde – weniger bekommen. (Félicien Faury, Des électeurs ordinaires). www.deutschlandfunk.de/felicien-faury
Das ist das, was Hans-Magnus Enzensberger einmal den „molekularen Bürgerkrieg“ nannte.
Das Wesen der Demokratie
Um die Krise der Demokratie zu verstehen, müssen wir verstehen, was Demokratie eigentlich ist. Demokratie ist eine Methode der Machtkontrolle. Sie erzeugt durch „checks and balances“ Entscheidungs-Mehrheiten und schützt dabei Minderheiten. Man kann Mächtige immer wieder abwählen und etwas Neues versuchen, und dadurch entstehen á la long Lernprozesse. Bessere Politik und klügere Politiker, aber auch eine Gesellschaft, die sich in ihren Differenzen besser (selbst)organisiert.
So sollte es jedenfalls sein.
In der digitalen Moderne funktioniert das jedoch immer weniger. Hier herrscht ein anderer Zeit-Takt. Eine „Red-Queen-Logic“: „Hierzulande musst Du immer schneller laufen, wenn Du auf der Stelle bleiben willst!“, sagt die Rote Königin im Wonderland zu Alice.
Genauso fühlen wir uns alle: Als würde wir ständig auf der Stelle rennen (müssen).
Demokratien haben gelernt, mit Paradoxien und Konflikten umzugehen, indem sie sie sozusagen „fein zermahlen“. Mit anderen Worten: Die „Bürokratie“ ist die Grundlage des Demokratischen, weil nur durch „bürokratische“ Verkehrsformen Feinabstimmungen von Interessen stattfinden können. Jetzt aber wird unaufhörlich gegen „die Bürokratie“ geschimpft. Das hat fatale Auswirkungen, vor allem auch auf jene, die die Arbeit der Interessensausgleiche machen.
Bürokratie wird nur dann übermächtig, oder verselbstständigt sich, wenn die Selbst-Initiative nachlässt.
Das Rezept der Rechten ist die Retrotopie: Früher soll alles besser gewesen sein, also zurück in die Vergangenheit. Nur können Gesellschaften nie „nach hinten“ entwickeln. Die Herausforderungen und Lösungen liegen immer in der Zukunft.
Das Rezept der Linken war früher die Befreiung, die Emanzipation und die Gerechtigkeit. Heute ist die Parole das Kümmern um die Armen, Schwachen, Abgehängten. Wer könnte diesem moralischen Gebot widersprechen? Nur – wie? Die Instrumente des Staates, oder „der Politik“,, sind vor allem Gesetze und Geld. Geld allein aber verändert niemals Lebenslagen, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint. Gesetze können wenig ausrichten, wenn die Betroffenen dagegen sind.
Das Elend der linken „Kümmerungs“-Strategie liegt schon im Begriff. Kümmern kommt von Kümmernis, und besteht darin, etwas von oben herab verändern zu wollen, dass aber nicht so leicht verändern lässt. Es entsteht aus einer im Grunde herablassenden, „gekrümmten“ Haltung. Gerade das verletzt den Stolz und führt zu Widerstand. Das sagt nichts gegen die nötige Umverteilung, die existentielle Absicherung. Aber es ist an der Zeit, sich von der Illusion zu verabschieden, Geld würde die Welt „sozialer“ machen (hier hat die FDP ausnahmsweise recht, nur versteht sie es selbst nicht).
Ungerechtigkeiten entwickeln sich nicht nur „von oben“, sondern auch von unten – indem unterschiedliche Gruppen die Dinge anders bewerten, Individuen sich nicht so verhalten, wie man es erhofft. Womöglich haben die Bekümmerten gar kein Interesse am Gekümmert werden. Sie wollen eher auf den Tisch hauen, durch Wut ihre Identität stärken – und die Kümmerer zum Teufel jagen, um irgendeiner regressiven Fantasie nachzujagen.
Was die Politik kann ist: Auf konstruktive Initiativen der Gesellschaft reagieren. Aber sie ist hilflos, wenn es keinen konstruktiven Veränderungswillen gibt. Dann wird der notwendige gesellschaftliche Streit zum sinnlosen Zank.
Vielleicht ist es an der Zeit, Demokratie als das zu sehen, was sie ist: Ein Problemlösungs-Tool für Machtfragen. Nicht mehr, nicht weniger. Politik kann Ziele setzen, Prozesse koordinieren, auch Visionen entwickeln. Aber nicht die Welt gestalten. Für echten Wandel ist die Politik auf die Energie und die Kreativität der Zivilgesellschaft angewiesen. Sie braucht aktive, konstruktive Bürger, die die vielen kleinen Schritte im Lokalen und Konkreten gehen. Demokratie ohne Emanzipationswillen ist hilflos.
Wie bekommt man die Kräfte von Gesellschaft, Politik und Individuum wieder in einen Wirkungszusammenhang? Die Publizistin Samira El Ouassil formuliert es so: „Eine neue, zukünftige Narration müsste den sweet spot des Stolzes auf sich selbst treffen – Eine Erzählung der Selbstwirksamkeit.“ www.spiegel.de/warteschlange-der-gleichwertigkeit
Gisela Erler, ehemalige Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden- Württemberg, hat ein Schlüssel-Buch zum Zukunfts-Wandel der Demokratie geschrieben. „Demokratie in stürmischen Zeiten – für eine Politik des Gehörtwerdens“ handelt von ihrer persönlichen Geschichte als linksalternative Aktivistin hin zur Bürger-Demokratin. Und von einem breit angelegten Versuch, die gesellschaftlichen Kommunikationssysteme neu zu verstehen und konstruktiv zu verändern.
Ausgangspunkt ist der Protest gegen den Stuttgarter Tiefenbahnhof, in dem vor 20 Jahren der „Wutbürger“ geboren wurde. Aus den Erfahrungen dieses Konflikts heraus entwickelte Gisela Erler eine neue Kultur der Teilhabe, die die Abstimmungsprozesse bei konfliktreichen Entscheidungen anders strukturiert. Eine zentrale Rolle dabei spielt der Zufallsbürger.
Wenn man zu einer klassischen Bürgerversammlung einlädt, etwa bei Streits um Windparks, Ortsumfahrungen, Schulprojekte, Verkehrsentscheidungen oder Bauvorhaben, kommen meist nur diejenigen, die sich als Allein-Experten betrachten, und die ihre Wut in einer Konfrontation loswerden wollten. Meistens sind das ältere Männer mit viel Zeit zum Dagegensein und kräftigen Verbitterungsgefühlen. Solche Veranstaltungen, bei denen die lautesten Brüller gewinnen, führen in tiefe Frustration. Wer NICHT zu solchen Treffen, oder dort niemals zu Wort kommt, sind Jugendliche, Frauen und ältere Menschen.
Um das zu verändern, hilft ein ausgeklügeltes Losverfahren. Aus der Einwohnermelde-Datei werden per Losverfahren zunächst etwa tausend Bürger angeschrieben und gefragt, ob sie sich für einen demokratischen Entscheidungsprozess zur Verfügung stellen wollen. Aus den Rückmeldungen wird eine ungefähr repräsentative Auswahl nach Kriterien wie Alter/ Geschlecht/ Experte/Laie/ Betroffenheit zum Thema ausgewählt. Dann werden diese Menschen von erfahrenen Moderatoren durch einen Diskussions- und Entscheidungs-Prozess geführt, der auf LÖSUNGEN hinzielt.
Wer solche lebendigen Abstimmungsprozesse einmal „life“ erlebt hat, versteht plötzlich, dass Demokratie vor allem eine Art und Weise des Sprechens, des Selbst- und Sozialerlebens ist. Es ist erstaunlich, wie „Zufallsbürger“ bei der aktiven demokratischen Arbeit regelrecht aufblühen, sich verwandeln. Rasch zu kompetenten Experten werden, die die Zusammenhänge verstehen und berücksichtigen. Und oft viel konsequentere und fortschrittlichere Forderungen stellen als die eigentlichen Experten selbst.
Aus dem Wutbürger wird ein Mutbürger.
Der Zufallsbürger ist auch ein Zukunftsbürger.
Wenn Menschen zugehört wird, aber dabei auch selbst zuhören, sind sie auch in der Lage, Verantwortung zu übernehmen.“Es geht dabei weniger um ein Umdenken in der Bevölkerung als eine neue Haltung in Verwaltung und Politik“, schreibt Gisela Erler in ihrem Buch. Erstaunlicherweise benötigen solche Prozesse gar nicht so viel Zeit wie befürchtet; sie reduzieren vielmehr die Anzahl der Klagen, Einwürfe und Verhinderungen. Konservative fürchten, durch solche Verfahren würde die repräsentative Demokratie in ihrer Autorität beschädigt. „Bürgerräte“ klingt nach Kommunismus, ist aber es ganz anderes: Offene Entscheidungsfindung in demokratischen Verhältnissen. Konvente und „Bürger-Konklaven“ können die repräsentative Demokratie nicht ersetzten, aber um einen entscheidenden Faktor ergänzen: Das (Selbst-)Erleben von WANDEL, mit dem man persönlich etwas zu tun hat.
Dass besonders Frauen dabei eine konstruktive Rolle spielen, sei hier nur am Rande bemerkt.
Verschiedene Formen der Konvents- und Bürgerbeteiligungs- Bewegung haben sich bereits in einigen Ländern ohne große öffentliche Wahrnehmung durchgesetzt. Auch auf EU-Ebene und im politischen Berlin ist die Beteiligungs-Demokratie bereits angekommen. Die Stadt Paris hat eine ständige Bürgerversammlung eingeführt, die jährlich über 100 Millionen Euro des Stadtetats verteilt. Mexiko-Stadt hat eine Stadtverfassung für seine neun Millionen Einwohner per Crowdsourcing ausgearbeitet. Am beeindruckendsten ist vielleicht der partizipative Weg Taiwans durch die Corona-Krise. Das Projekt baute auf drei Prinzipien auf – „schnell, unterhaltsam und fair“. Die taiwanesische Regierung legte ihre Pandemie-Daten offen und vertraute den Bürgern, dass sie ihre Bewegungsfreiheit auf Grundlage der „partizipativen Selbstüberwachung“ einschränkten. Das Ergebnis: Eine der niedrigsten Todesraten der Welt, ohne dass jemals eine Ausgangssperre verhängt wurde.
In manchen Ländern sind Teilhabe-Formen bereits in komplexe politische Prozesse integriert, vor allem in Skandinavien, aber auch in manchen Ländern Afrikas. In Irland wurde nach der Finanzkrise ein breiter Bürger-Konvent zur Zukunft der irischen Demokratie in Leben gerufen, der auf erstaunliche Weise zu einem grundlegenden liberalen Transformationsprozess des Landes führte. In Dänemark wurde eine große Krankenhausreform über Jahre von „Bürgerexperten“ begleitet und gestaltet – und verlief erstaunlich konfliktlos. Dänemark schaffte es sogar, als erstes europäisches Land eine CO2-Steuer für die Landwirtschaft einzuführen. In Deutschland würde ein solches Unterfangen wahrscheinlich zu schwersten Traktor-Aufläufen und schrecklichen Talkshows führen (in Frankreich zu brennenden Mülltonnen). In Dänemark gestalteten Landwirte, Behörden, Industrie, Agrarspezialisten, Lebensmittelproduzenten, Naturschützer ein sinnvolles Steuerungsinstrument für die Dekarbonisierung, mit dem (fast) alle zufrieden sind.
Wer die Politserie BORGEN gesehen hat weiß, wie die Mechanismen des Populismus die Demokratie von innen heraus zerstören kann. Die dänische Politik hat darauf radikale Antworten gefunden. Zum Beispiel durch eine klare Forderung/Förderung-Politik bei der Migration, die den hilflosen Moralismus überwunden hat, mit dem dieses Thema die Gesellschaft vergiftet. Dänemark, ein Land, in dem Bürger Vertrauen zueinander immer wieder aktiv entwickeln, arbeitet an der „Next Democracy“; einer erweiterten, rückgekoppelten, „fließenden“ Demokratie, in der das Verhältnis zwischen Bürger, Staat und Gesellschaft neu kalibriert wird. Wie erfolgreich das ist zeigt, dass die Rechtspopulisten in Dänemark heftig geschrumpft sind.
Während sich das alte Parteigefüge langsam auflöst, sprießen neue Parteiformen, die den alten Rechts-Links-Konflikt überwinden wollen. Volt zum Beispiel, die gesamteuropäische Bewegung, die Ökologie, Ökonomie, Kreativität und Sozialverantwortung zusammenfügen will. Manche dieser Post-Parteien verschwinden schnell wieder, verzetteln sich in Nebenschauplätzen, wirken eher wie Sekten (wie etwa die Piratenpartei oder die Scherzkekse-Parteien). Aber das politische System experimentiert – endlich. Das aktuellste Beispiel ist Frankreich, dass sich durch Macrons gewagten Schritt, das Parlament aufzulösen, plötzlich in einer Art politischem Modernisierungszwang befindet. Entweder gelingt es den Franzosen, ihre regressive ideologische Polarisierung in eine neue Erzählung zu überführen, mit neuen Allianzen und Synthesen und Lernprozessen. Oder das ganze System wird dekonstruiert.
Nach der alten Regel der Alchemisten, „Solve et cuagola“ – Auflösung und Zusammenfügung – fügen sich die Dinge manchmal erst zusammen, wenn sie auseinanderfallen. Die Alchemisten fanden zwar nicht das Gold, aber das Porzellan. Die Demokratie mag zerbrechlich wirken, aber in Wirklichkeit ist das Zerbrechliche, das Fragile, immer auch der Anfang des Neuen. Das gilt sogar für Amerika.
Der glühende Liberale und ehemalige Chefredakteur der ZEIT und Intendant des Schweizer Rundfunks formulierte in seinem Buch „Die Kraft der Demokratie“: „Wir stehen vor der Aufgabe, aus der Demokratiekrise eine erfolgreiche Krise zu machen.”.
Und Stewart Brand, der humanistische amerikanische Zukunftsforscher, fasste seine Erkenntnis über den Wandel der Systeme, also auch der Demokratie-Systeme, so zusammen:
In einem System Kleinigkeiten zu ändern
Ist nicht nur die effizienteste Art
Es in eine bestimmte Richtung zu bewegen
Sondern auch die sicherste.
Denn wenn du versuchst
Es komplett zu drehen
Dreht es gerne mal durch
Aber wenn Du nur
Eine kleine Schraube bewegst (die Richtige)
Wird es sich verwandeln.
Literatur
Roger de Weck, Die Kraft der Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Revolutionäre: www.suhrkamp.de
Gisela Erler, „Demokratie in stürmischen Zeiten – für eine Politik des Gehörtwerdens“: www.herder.de
Eine schöne Reportage über den „transparteilichen“ Bürgermeister von Altenburg: www.zeit.de
Anhang: Wo Demokratie gewinnt oder sich behauptet
Gegen die Angst vor der Diktatur hilft auch ein Perspektivenwechsel. Wo widersteht die Demokratie, oder sogar den Kampf gegen die Autokratien?
England, Brasilien und Polen haben bereits eine populistisch-autokratische Schleife hinter sich. In Brasilien konnte ein Möchtegern-Diktator die Gesellschaft nicht wirklich verändern – die brasilianische Kultur ist einfach zu vital um sich dauerhaft „despotisieren“ zu lassen. In Polen gelang ein „Aufstand des Urbanen“ gegen die Verfinsterung des Provinziellen, der sich auf eine kluge Weise nicht auf frontale Gegnerschaften einließ. In England ist der bizarre Brexit-Schwurbel bereits nach acht Jahren vorbei. Englands Demokratie ist resilient, nicht weil sie „eisern“ wäre oder „stabil“. Sondern weil die englische Gesellschaft lernfähig ist, frustrierfähig, ironiefähig….
Vielleicht gibt es so etwas wie einen populistischen Zyklus, den Demokratien durchlaufen müssen, um sich neu zu erfinden. Demokratische Krisen eröffnen dabei immer wieder den Zugang zu Neuen Formen und neuen Narrativen des Politischen und Gesellschaftlichen.
In Island war zur Finanzkrise ein ganzes Land bankrott, Politiker wanderten in den Knast (nun ja: isländische Knäste sind ziemlich komfortabel). Danach wurde die Demokratie auf eine neue Weise lebendig, Frauen übernahmen mehr Posten und Verantwortung, und das Land ging in eine Orientierungsphase Richtung Zukunft.
In Indien stieß eine nationalistische Religions-Autokratie bei der letzten Wahl an ihre Grenzen, weil im Modernisierungsprozess der Kultur das Konservativ-Religiöse an Bedeutung verlor.
Im Iran wurde trotz der eisernen Herrschaft der Mullahs ein Wahlprotest zur Protestwahl; Peseschkian, ein Semi-Reformer, schaffte tatsächlich eine Mehrheit. Immerhin ist hier ist die Zivilgesellschaft alive and kicking.
In der Türkei entwickelt sich in den großen Städten eine starke Gegen-Bewegung gegen den Erdoganismus. Der liberale Bürgermeister von Istanbul feierte einen triumphalen Wahlsieg.
Selbst in Ungarn kommt es derzeit zur Formierung einer (konservativen) Opposition, die die Demokratie bewahren will. Das Aktionsbündnis um Peter Magyar könnte sich in den nächsten Jahren durchaus ein eine verändernde Macht verwandeln.
Die Schweiz hat seit Jahrzehnten einen rechtspopulistischen Block von rund 25 Prozent. Gleichzeitig ist die Schweiz ist ein gutes Beispiel für eine adaptive Demokratie. Erprobte Formen der direkten Demokratie sowie das Konkordats Prinzip führen zu einer Einhegung rechter und linker Radikalität. In der Schweiz MÜSSEN alle gewählten Parteien an der Regierung beteiligt sein. Es herrscht sozusagen eine Diktatur der Mitte, die allerdings mit vielen basisdemokratischen Mitteln ausgestattet ist, die die Gesellschaft immer in Bewegung halten.
Selbst die triumphale Giorgia Meloni musste erleben, dass ein populistischer Sieg sehr schnell wieder auf einer lokalen gesellschaftlichen Ebene eingeholt werden kann. Bei den Kommunalwahlen im Juni 24 in Italien holten die meisten Städte und Regionen linke oder liberale oder grüne Mehrheiten zurück. Eine besondere Rolle spielten dabei ausgerechnet die Frauen – offenbar haben sie den Fehdehandschuh angenommen, den ihnen eine rechtsradikale Frau entgegenwarf.
Diese und viele Beispiele mehr erzählen, dass sich die Demokratie nicht am Ende, sondern in einem Such- und Transformationsprozess befindet. Einem Phasensprung, der langsam Gestalt annimmt. Demokratie ist lebendiger als wir glauben können, wenn wir ständig wie nur hypnotisiert in die hässliche Fratze des Populismus starren.
Ich treffe derzeit vermehrt Menschen, die sich in eine düstere Wolke aus Zynismus, Pessimismus und Menschenverachtung hüllen.Sie haben die Veränderung, den Wandel zum Besseren, aufgegeben. Sie vertreten eine Ideologie der „Schwarzen Anthropologie”: „Die Menschen” sind „zu blöd zum Überleben”, „wir” werden den Planeten zerstören, weil „wir” mit unserer Lebensweise alles kaputt machen.
Eine solche Lebenshaltung kippt allerdings leicht ins Reaktionäre/Regressive; in eine generelle Menschenfeindlichkeit. Sie hat etwas Selbstgerechtes. Und sie ist blauäugig. Die Untergangs-Zyniker glauben alles Negative, was in den medialen Diskursen endlos wiederholt, im Netz unendlich kopiert und nachgebetet wird. Das hat aber mit der „wirklichen Wirklichkeit” wenig zu tun.
Eine der am meisten verbreiteten bad future rumors, also Negativ-Gerüchte über die Zukunft, ist die Annahme, dass die Klimakatastrophe „verloren” ist. Der Kampf für die Dekarbonisierung ist aussichtslos geworden. Die Rechten, die Trumps und Lindners und anderen Bösewichte dieser Welt, haben längst die Zeiger auf Untergang gestellt, die Zerstörung der Welt ist nicht mehr aufzuhalten…
Wirklich?
In den letzten Wochen haben Nachrichten sanft an der Wahrnehmungspforte angeklopft, die etwas Erstaunliches sagen: TROTZ aller rechten Anti-Ökologie-Kulturkämpfe, TROTZ der perfiden Offensive des „fossilen Sektors”, der mit allen Mitteln versucht, das Geschäft mit Öl, Gas und Kohle auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verlängern, TROTZ des bizarren Rund-um-die-Uhr-Grünen-Bashings, TROTZ der Aufweichung des Green Deals in der EU, geht es mit der ökologischen Wende ziemlich gut voran.
Wie bitte?
Ja, doch.
Selbst Institutionen wie die IEA, die Internationale Energie-Agentur, vermelden eine erstaunliche Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energien. Die globalen Wachstumsraten von Solarenergie, Windenergie, Wasserenergie, verlaufen viel steiler als vermutet beziehungsweise befürchtet. Die Energie-Wende ist alive and kicking. Im positiven Sinne „beunruhigende” Details machen die Runde:
In den Wüstengürteln der Erde sind heute an die 1.000 gigantische Solarprojekte am Entstehen, mit Kapazitäten von mehreren Gigawatt und Flächen bis zu 60 Quadratkilometern. Viele von diesen Kraftwerken sind heute bereits Rund-Um-Die-Uhr-Solarkraftwerke, die mit Hochtemperatur-Dampf arbeiten. Und ungefähr die doppelte Anzahl ist in Planung.
In den meisten Industrienationen sinken seit Jahren die CO2-Ausstösse. Nicht immer in den genauen Erwartungen, aber dennoch in der richtigen Richtung. Und zwar erheblich. Gleichzeitig weisen die meisten Indikatoren der Energiewende inzwischen einen exponentiellen Charakter auf.
Notwendige Ergänzungs-Techniken zur erneuerbaren Energiegewinnung wie die Batterie- und Speichertechniken erleben derzeit rasante Innovations-Zyklen und gehen in die Skalierungs-Phase über.
Elektroautos sind, entgegen der klassischen deutschen Dauer-Medien-Vermutungen, keine „Ladenhüter”. Weltweit steigt ihr Absatz rapide, nur in Deutschland und (teilweise) den USA, gibt es darum einen blödsinnigen Kulturkampf, in dem sich alle nur dumpf auf die Nase hauen (und natürlich gibt es noch nicht genügend wirklich faszinierende Automodelle; Musk versaut gerade seine Erfolge).
In Deutschland steigt der Anteil der Erneuerbaren an der Stromproduktion jedes Jahr um rund 6 Prozent. Wir sind heute bei 60 Prozent angelangt; noch vor gut zehn Jahren hieß es auf jeder Energieversorger-Veranstaltung, dass eine Industrienation wie Deutschland höchstens 10 Prozent JEMALS hinbekommen würde. Das Ziel von 80 Prozent im Jahr 2030 ist plausibel erreichbar – selbst wenn der Strombedarf steigt.
Die Kosten für erneuerbare Energiesysteme sinken und sinken, die Effizienz steigt und steigt.
Große Teile der Industrien und Konzerne Europas haben sich heute längst zur Dekarbonisierung ihrer Energie- und Produktionsweisen bekannt – und arbeiten daran.
Zwei Drittel aller Neubauten in Deutschland werden mit Wärmepumpen betrieben, die angeblich keinen Absatzmarkt haben (in anderen Europäischen Ländern, gerade im Norden, sind es bis zu 80 Prozent im Gesamtbestand).
Der argumentative Grund dafür, dass Dekarbonisierung „hierzulande” keinen Sinn hat, muss oft das böse China herhalten, das bekanntlich unendliche Mengen Kohle verbrennt und sich einen Teufel um die Umwelt kümmert. Ein typisches Verleugnungs-Narrativ. China hat allein im letzten Jahr mehr Wind- und Sonnenenergie online gebracht wie ganz Europa und die USA zusammen. Dahinter steckt eine Strategie: Man muss in der Dekarbonisierung erst die Energiesysteme konsequent in Richtung Elektrizität umbauen (siehe Grafik), bevor die gesteigerte Produktion der Erneuerbaren sinnvoll wird. Jetzt ist der Punkt erreicht, wo sich dieser Umbau auszahlt: CO2– Ausstoss Chinas wird in diesem oder den unmittelbar nächsten Jahren anfangen, zu sinken.
Sogar in Bayern, dem Land des verschärften Wurstwahlkampfes, stimmen die Bürger jetzt bisweilen für einen Windpark ab (das nur ironisch am Rande).
Die Liste positiver Nachrichten ist ziemlich lang und hat viele Details. Aber es ist zwecklos, sie immer weiter zu verlängern. Denn das GROSSE ABER kommt bestimmt. In Deutschland – den deutschsprachigen Ländern – gibt es Heerscharen von Schlechterwissern, die zu jeder Möglichkeit eine Untergangsvariante konstruieren. Der Vorwurf, dass etwas „nicht klappt”, oder „nicht genug ist” wird mit der Gewissheit verwechselt, dass es nie funktionieren KANN. Ich nenne das auch das apokalyptische Spiessertum. Oder den Untergangs-Narzissmus.
Die zwei Wirklichkeiten
Wie kommt es zu dieser Eklatanz zwischen Wahrnehmungen und Wirklichkeiten? Das liegt vor allem daran, dass wir in zwei komplett unterschiedlichen „Welten” leben. Zwei Welten, die wir miteinander verwechseln. Und die nach eigenen Logiken funktionieren.
Da ist einerseits die reale Welt, mit ihren unendlichen Verzweigungen, Rückkoppelungen, Komplexitäten, die niemals voll zu durchschauen oder vorauszusehen sind. Hier herrschen die Gesetze der Evolution, der Durchdringung der Dynamiken in einem ständigen Tanz des Wandels.
Da ist andererseits unsere mediale Welt, die wir in unserem Hirn aus „News” und „Informationen” konstruieren, die wir für Realitäten nehmen. In der medialen Wirklichkeit dominieren die Angst- und Befürchtungs-Diskurse, die Konstrukte der Gefahren, der Vorwürfe und Meinungen. Wobei „Meinungen” in der Erregungs-Gesellschaft eben nichts anderes sind als (oft moralisch aufgeladene) Affekte, die man sich gegenseitig an den Kopf wirft. Mit solchen Reflexen konstruiert man ein „identitäres” Weltbild, das schnell zu einer Art Käfig wird, aus dem man nicht mehr herauskommt.
Die mediale und die reale Welt unterscheiden sich generell voneinander – was man leicht erfahren kann, wenn man das Meinungs. und Informationsgetöse einmal abstellt und einfach mit offenen Augen in die Welt geht. Aber die Welten haben eine Schnittmenge. Diese Schnittmenge liegt dort, wo die Vorstellungen und Konstrukte zu Prophezeihungen werden. Prophezeihungen verändern unsere Handlungen im Sinne der Realitätsformung; sie werden selbsterfüllend. Die mediale Wirklichkeit kann durch Prophezeihungen auf die Realität übergreifen. Menschen verhalten sich dann so, als sei ein bestimmtes Konstrukt eine endgültige Wahrheit.
Der eigentliche Kern unserer „Omnikrise” ist das, was man „Kognitive Dekadenz” nennen könnte. Der Neurowissenschaftler Philipp Sterzer beschreibt dies seinem Buch „Die Illusion der Vernunft” als Phänomen der „Aberranten Salienz” – der fehlgeleiteten Aufmerksamkeit:
„Wir bemerken, das sich die Welt um uns herum verändert, dass das Licht anders wird als sonst und die Menschen seltsam aussehen… Alltägliche Dinge, von denen man nicht normalerweise Notiz nehmen würde, fühlen sich ungewohnt an und wirken auffällig. Das sind Wahrnehmungen, die Betroffene zu Beginn einer Psychose häufig beschreiben. Es liegt etwas in der Luft, irgendetwas scheint im Busch zu sein. … Aberrante Salienz ist bedrohlich (eine Variante der Kognitiven Dissonanz). Sie vermitteln ein überstarkes Bedrohungssystem. Die überstarken Vorhersagefehler, die der fehlgeleiteten Auffälligkeit zugrundeliegen signalisieren, dass das innere Modell der Welt nicht mehr stimmt. Das muss ja heissen, dass die Welt sich verändert hat, und was gibt es Bedrohlicheres als eine veränderte Welt, die nicht mehr vorhersagbar ist, so wie wir es gewohnt sind?”
Es ist also die verängstigte Innenwelt, die uns die Realität in ihrer Vielschichtigkeit ausblenden lässt. Das ist allerdings die Chance des Trotzes. Er kann sich hinter unseren Wahrnehmungs-Illusionen verstecken. Und von dort ganz zauberhafte Dinge bewirken.
Tipping Points
Das TROTZDEM ist jene Kraft, die die Welt verwandelt, auch wenn wir das nicht glauben. Es handelt sich um eine Art Selbstorganisation, eine Autopoiese, die aus Krisen Wandlungsprozesse formt. Der ziemlich grantige Investor und Publizist Nicholas Taleb hat diese Kraft einmal „Antifragilität” getauft. Antifragilität besteht darin, dass ein System aus seiner Auflösung heraus formende Energie erzeugen kann. Wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird.
Es war abzusehen, dass der ökologische Trend irgendwann einen Widerstand, einen Rollback erzeugen würde – in allen grossen Systemübergängen kommt es früher oder später zu einem Widerstand der alten Deutungsmuster, einem Reflex des Überkommenen. Aber man kann diesen reaktionären Aufstand, der zurück will in die Vergangenheit, auch als Zeichen dafür lesen, dass es nun tatsächlich ernst wird mit dem Wandel.
Der Rollback ist die Schleife, die die Zukunft dreht, bevor der Wandel Realität wird…
Es gibt in der Dynamik der Veränderung einen Grundeffekt: Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Aber auch der Gegentrend – in diesem Fall der reaktionäre Anti-ökologische Trend – erzeugt wiederum einen Gegentrend. Die ökologische Transformation steht kurz vor dem Tipping Point, an dem das Vermutete (oder Befürchtete) ins Reale umkippt. Das ist in vielen Wandelungsprozessen so, im Privaten wie im Gesellschaftlichen: Erst kann man es nicht glauben, plötzlich sind fast alle dafür…
Man nennt das auch die normative Kraft des Faktischen.
Wenn in den nächsten Jahren zum ersten Mal die CO2-Ausstösse der menschlichen Zivilisation zu sinken beginnen – und das werden sie! – dann wird die Stimmung kippen. Die ökologische Transformation wird dann zum normativen Trend, zur Neuen Normalität.
Am besten versteht man diesen Kipp-Effekt mit Hilfe einer Regnose. Also einer mentalen Reise in eine Zukunft, in der sich nicht nur die Fakten, sondern MIT den Bedingungen auch die MINDSETS, die mentalen Bewertungen, verändern.
Auf dieser Tabelle können Sie vorwärts in die Zukunft und rückwärts in die Vergangenheit reisen. Wie werden sich die Fakten der Energiewende im Lauf der Zeit entwickeln, und sich damit auch die Wertungs-Muster? Reisen Sie vorwärts ins Jahr 2030, verweilen sie dort eine Weile, betrachten Sie die Zusammenhänge. Schauen Sie zurück, wie wir HEUTE über die Energiewende, die Dekarbonisierung denken. Reisen Sie in die Realität von 2015, und schauen sie nach, wie es „damals” aussah. Und wie alle diese Faktoren zusammenhängen.
Veränderung entsteht nicht durch Wandel. Wandel entsteht vielmehr aus Reaktionen auf Veränderungen, die die Bedingungen verschieben. Das ist der erweiterte TROTZ-Effekt in Aktion: Erst erscheint etwas unmöglich, dann wird es „ganz natürlich”….
Stellen wir uns vor, das TROTZDEM-Prinzip würde auch für alle anderen Krisen unserer Gegenwart gelten. OBWOHL die Demokratie gefährdet ist, regeneriert sie sich mittelfristig , indem sie sich IN der Krise neu erfindet (darauf weisen auch die Erfolge von Neo-Demokratischen Bewegungen hin). TROTZDEM wir heute schreckliche Kriege erleben, formt sich – langfristig und unter Qualen – eine neue Welt-Ordnung, eine andere Mtrix des Friedenserhalts und der Konfliktlösung (die neue Funktion des Haager Strafgerichtshofs deutet darauf hin). TROTZDEM – oder eben gerade weil – heute Bösartigkeit, Lüge und Verwirrung das gesellschaftliche Klima dominieren, entstehen langfristige Initiativen der Freundlichkeit und Konstruktivität – „Zukunfts-Bewegungen”, die sich spontan und selbstorgansiert herausbilden. OBWOHL oder vielleicht WEIL Europa unentwegt verdammt, kritisiert, verachtet, beschimpft, lächerlich gemacht wird, wird die Idee Europas stärker. Die Zahlen zeigen das: ein grö&shlig;erer Anteil der Europäer fühlt sich heute europäisch, auch WEIL Europa so bedroht erscheint. Allerdings spielen solche positiven Gegentrends bei der medialen Repräsentation der Ereignisse keine Rolle.
Die Welt regeneriert sich unentwegt in Krisen. Man nennt das auch Evolution. Oder Emergenz. Aus chaotischen Turbulenzen entwickeln sich die neuen Ordnungen, aus den Bedrohungen entstehen Wege der Re-Stabilisierung. Ich weiss, das ist schwer zu verkraften. Wir alle hätten es gerne perfekt, vernünftig, gradlinig hin zum Besseren. So, wie wir es uns vorstellen, es erwarten. Aber Enttäuschungen gehören zum Wandel dazu; genau genommen sind sie sogar seine Bedingungen. Zukunft ist eine Entscheidung. Sie ist auch ein Glaube des Trotzdem, den wir teilen können, in gemeinsamer Verantwortung für das Kommende.
If you survive long enough to see tomorrow,
it may bring you the answer that seems so impossible today.
Ben Horowitz, The Struggle
Die Welt wird nicht von einer Krise heimgesucht, auch nicht von vielen Krisen, sondern von der Krise des Ganzen. Die Distanz zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein ist zusammengebrochen. Das Tabu ist jetzt gebrochen und wird erneut geltend gemacht, als ob es nichts wäre (technisch gesehen ist es das). Institutionen werden zerrissen und wieder zusammengesetzt.
Krisen werden in einem Atemzug behauptet und ignoriert.
Willkommen in der Omnikrise!
Edmund Wilson
Kein Zweifel – wir leben in Krisenzeiten. Aber war nicht immer schon Krise? Bankenkrise, Flüchtlingskrise, Rentenkrise, Klimakrise – die moderne Welt ist ein dauerhafter Krisen-Zustand. Allerdings gibt es doch etwas, was die heutigen Krisen von denen der vergangenen Jahrzehnte unterscheidet. Es handelt sich nicht mehr um einzelne, isolierte Ereignisse oder Phänomene, die erwartbar „vorbeigehen“. Das heutige Krisengeschehen ähnelt eher dem, was der Publizist und Kunstagent Holm Friebe vor einigen Jahren in einem unserer Trendletter als „Clusterfuck“ bezeichnet hat.
„Clusterfuck“ (Slang, vulgär) … ist eine chaotische Situation, wo alles schiefzugehen scheint. Das Wörterbuch „dict.cc“ übersetzt treuherzig mit „Riesendurcheinander”.
Clusterfuck, das ist, wenn Murphy’s Law mit voller Wucht zuschlägt; wenn gefühlt alles, was schiefgehen kann, auf einmal schiefgeht; wenn, wie in dem Experimentalfilm „Der Lauf der Dinge” (Fischli und Weiß, The Way Things go, 1987 – bei YouTube) die Katastrophen geschmeidig ineinandergreifen und man nur noch gelähmt dabei zusehen kann; wenn man beginnt, sich Hiob als einen vergleichsweise glücklichen Menschen vorzustellen.
Salopp auf Englisch ausgedrückt: „a muddled mess“.
Das Wort „Omnikrise“ beschreibt nicht nur die Phänomene, die uns heute beunruhigen und ängstigen, sondern auch ein generelles Lebensgefühl. Alles scheint irgendwie zu zerfließen. Seinen Sinn zu verlieren. Ein Gefühl der Vergeblichkeit, der Traurigkeit und Hilflosigkeit breitet sich aus. Die Gegenwart erscheint unwirklich, wie in einem Science-Fiction-Film, in dem wir in ein Paralleluniversum geraten sind, in dem die Naturgesetze völlig andere sind. Wie heißt das so schön in einem Filmtitel? „Everything Everywhere All at Once“ (aus dem Jahr 2022).
Die Welt ist kaputt. Die Zukunft hat sich hinter den Horizont zurückgezogen. Von dort aus lockt sie uns nicht mehr. Sie DROHT uns stattdessen mit einem dauerhaften Untergang.
Nennen wir das, was seit Corona unsere innere und äußere Weltlage bestimmt, nicht Polykrise oder Multi-Krise sondern Omnikrise. Das lateinische Wort OMNI – OMNIUS steht für den Zusammenhang des Vielfältigen. Für „mehr als die Summe seiner Teile“. In einer Omnikrise bedingen und verstärken sich die einzelnen Phänomene durch Wechselwirkungen gegenseitig:
Der neo-imperiale Krieg im Osten Europas beeinflusst unsere Energieversorgung, was wiederum den Diskurs um die ökologische Wende verändert und ausbremst.
Der rechtsradikale Aufstand bedroht die Zentren der Demokratie – und gefährdet über neue Systemkonflikte die sowieso schon fragile Weltordnung.
Die digitale Explosion der Medien beeinflusst unsere Welt-Wahrnehmung ins immer Negativere – und führt zu einer Hysterisierung der Gesellschaft.
Und so weiter.
Im Einzelnen können wir sieben „Fraktale“ der Omnikrise ausmachen, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig hochschaukeln:
Die Sieben Zukunfts-Plagen
Die Krise der Globalisierung:
Das Zusammenwachsen der Welt zu einer Großen Ganzheit, war der ökonomische und kulturelle Leit-Trend der letzten 30 Jahre. Nach dem Fall der Mauer Anfang 1989 schien sich die Welt in allen Dimensionen zu öffnen. Gewaltige Handelsnetze überspannten die Welt und brachten den westlichen Wohlstand in die Schwellenländer. „Just in Time“-Produktionen erhöhten die Produktivität, Internationale Organisationen blühten und gediehen. Die Welt erlebte einen Wohlstands-Schub. Weniger Kriege, weniger Hunger, mehr Wohlstand, längeres Leben war die selbstverständliche Grundrichtung der Zukunft. Aber vielleicht waren es gerade diese Erfolge, die die Grundlage neuer Konfliktlinien schufen. In den veränderten globalen Kräfteverhältnissen brechen heute überall neue Risse hervor, wie in den Vulkanfeldern Islands. Neuimperiale und neo-nationale Begehrlichkeiten wuchern, Konflikte aus dem 19. Jahrhundert kommen wieder zum Vorschein. Wir stehen plötzlich vor der Möglichkeit von großen, nicht mehr nur regionalen Kriegen.
Wie könnte eine neue Weltordnung der Globalisierung aussehen, die diese Brüche überwindet? Der Historiker Herfried Münkler vermutet als globales Ordnungsmodell der Zukunft eine PENTARCHIE – eine Fünfer-Weltordnung von Amerika, Europa, Russland, Indien und China. Das erscheint aus heutiger Sicht als unmöglich. Aber, wie Münkler schreibt: „Offenbar haben Fünferkonstellationen starke stabilisierende und pazifizierende Effekte.“ (Welt im Aufruhr, S.409)
Die Krise der Demokratie:
Der Zweite Weltkrieg endete mit der Niederlage der faschistischen und autoritären Nationalstaaten. Das war der große Jugend-Kredit, die Gnade der jüngsten Geschichte, mit der die Boomer-Generation erwachsen wurde, und was den Generationen X, Y und Z als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Heute ist das demokratische Prinzip mit seinen komplexen Checks und Balances massiv unter Druck geraten. Die Kultur des Demokratischen scheint von innen heraus zu erodieren, durch eine ewige Steigerung von Konfliktspiralen und Polarisierungen, von Diskurs-Entzündungen und Verschwörungs-Konstrukten. Nach der Logik von Trend und Gegentrend formiert sich gerade hier allerdings eine Gegenbewegung: Der rechte Aufstand könnte auch zu einer Neuentdeckung und Resilienz-Steigerung der Demokratie führen. Neue Parteiformen und Bewegungs-Muster entstehen im politischen Raum; die Beispiele Polen, Brasilien, Türkei, die Demonstrationen in Deutschland zeichnen das Bild einer möglichen Renaissance demokratischer Bewegungen. Wenn man demokratische Formen evolutionär weiterentwickelt, kann die Demokratie gerade durch ihre Bedrohung „zu sich selbst“ finden.
Siehe das Buch von Gisela Erler: „Demokratie in stürmischen Zeiten: Für eine Politik des Gehörtwerdens“ (eine Besprechung folgt demnächst).
Die Wohlstandskrise:
Das Groß-Narrativ des „Alten Normal“ besteht aus dem Zwang zum ununterbrochenen Wachstum des Bruttosozialprodukts. Das erzeugt eine hysterische Wachstums-Panik, die allmählich die Realität überschreibt. In vielen westlichen Ländern glaubt die Mehrheit der Bürger inzwischen, dass es „schlechter wird“, selbst WENN die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenzahlen sinken und der Konsum brummt. Gleichzeitig wandeln sich die Werte ins Postmaterielle: Immer mehr Menschen suchen heute nach mehr Zeit- und Erlebensqualität. Dieses Paradox des Wohlstandsbegriffes spaltet derzeit die Gesellschaft und führt zu neuen Ideologie- und Kultur-Kriegen, die die Politik lähmen und den notwendigen Wandel behindern.
Die Wohlstandskrise ebenso wie die Demokratiekrise könnten auch mit einem fatalen Wandel von der Bürger- zur Konsumenten-Gesellschaft zusammenhängen. In ihrem Buch „Citizens“ beschreiben Jon Alexander und Ariane Conrad diesen kulturhistorischen Prozess: Konsumenten haben einen völlig anderen Mindset als Bürger. Bürger sehen sich als Teilhaber der Gesellschaft und versuchen ihren Teil zum Gemeinwohl beizutragen. Konsumenten sehen sich als Anspruchsträger, als Nutznießer von sofortigen Marktprozessen ausschließlich zu ihren Gunsten.
Konsumenten wollen billiges Fleisch. Bürger wollen Tierwohl.
Im Konsumentenmodus wird Politik als „Serviceleistung“ verstanden – Politiker sollen schnell und ungefragt „meine“ Wünsche erfüllen. Eine Regierung gehört schon spätestens drei Wochen nach Amtsantritt in „die Tonne getreten“, wenn sie nicht liefert!
Bürger GEBEN der Gesellschaft, und erhalten dafür Rechte. Konsumenten NEHMEN sich etwas aus den Regalen.
In der Konsumenten-Demokratie steigt das Anspruchs-Niveau ständig. Während die Engagements-Bereitschaft ständig sinkt.
Bürger sind dialogisch. Konsumenten lieben die Beschwerde.
Die Ökologiekrise:
Mehrere Jahrzehnte sah es so aus, als ob das Ökologie-Thema der Schlüsselcode für das „Next Age“, die kommende Ära nach dem klassischen Industriekapitalismus, werden würde. Ökologische Themen eroberten die Mittelschichten, Naturschutz und Nachhaltigkeit schienen die Basis einer neuen Zukunftserzählung zu bilden. Der Kampf gegen den Klimawandel entwickelte sich auch auf globaler Ebene zum verbindenden Element der Nationen. In den letzten Jahren drehte sich dieses Narrativ allerdings um: Das Ökologische wird plötzlich als Freiheits-Beraubung umcodiert, die „denier“, die Leugner des Klimawandels, organisierten ihre Truppen und machten aus der ökologischen Frage einen Kulturkampf oder einen hoffnungslosen Streit. Putins Angriffskrieg ist ohne viel Mühe auch als „fossiler Gegenkrieg“ zu begreifen – ein Aufbäumen des alten Rohstoff-Staates gegen den ökologischen und sozialen Wandel.
Wie ist dieser „Backlash“ zu interpretieren, in dem alles „Grüne“ an den Rand gedrängt, bekämpft und denunziert wird? Vor jedem großen Wandel entstehen reaktionäre Bewegungen, die versuchen, das Unvermeidliche zu verhindern. Da zu jedem Backlash jedoch auch ein Gegen-Backlash gehört, wird die ökologische Bewegung in den nächsten Jahren ein mächtiges Comeback erleben. Ökologie wird sich dabei umcodieren – von einem sozialromantischen Konzept, das auf Sparen, Verzicht, Schuldgefühl basierte, zu einer echten Modernisierungs-Bewegung. Als „Blaue“ oder „Neo-Ökologie“, einer Regeneration Economy, in der Technologie, Systemwandel und das Bedürfnis nach mehr Lebensqualität Hand in Hand gehen.
Die Gesundheits-Krise:
Die enorme Erweiterung der Lebensspanne in den letzten 50 Jahren ist eine der größten Errungenschaft der globalen Moderne. Die mittlere Lebenserwartung eines Menschen liegt heute bei 72 (!) Jahren, in Afrika über 64 Jahre! (Umso bizarrer, dass sich die Kulturkriege ausgerechnet an IMPF-Fragen entzündet haben – Impfungen sind die wichtigste Grundlage der globalen Gesundheits-Gewinne). Jetzt beginnen die Lebensspannen in einigen Wohlstandsländer wieder zu sinken. Besonders in Amerika hat sich eine zivilisatorische Gesundheitskrise ausgebreitetmeta die die Lebenserwartung um mehrere Jahre gedrückt hat. Damit ist ein zentrales Zukunfts-Versprechen gebrochen: die Verlängerung des Lebens. Gleichzeitig haben wir mehr und mehr das Gefühl, in einer multi-morbiden Gesellschaft zu leben, in der JEDER irgendwie krank ist – körperlich, psychisch, mental, eingebildet oder real. Krankheit ist ein universelles Gefühl geworden, und das Gesunde trägt zunehmend neurotische Züge in einem Optimierungs-Trend, der nur noch kränker macht. Das inneren und äußere „Gesundheitssystem“ neu zusammenzusetzen und zu kalibrieren, wird eine wichtige Aufgabe sein, an der die ganze Gesellschaft teilhaben muss und kann.
Die Meta-technische Krise:
Bisher war Technologie der verlässliche Garant eines Fortschritts, der Vorteile für ALLE mit sich brachte. In gewisser Weise war technologischer Fortschritt sogar so etwas wie eine Erlösungs-Religion. Aber schon die fatalen Nebenwirkungen von Social Media haben den Glauben an den technischen Fortschritt schwer erschüttert. Zwischen dem „Technium“ und dem „Humanum“ scheint es eine Beziehungskrise zu geben, die mit der Künstlichen Intelligenz jetzt eskaliert: Technologie scheint menschliche Fähigkeiten nicht mehr zu ergänzen und zu beflügeln, sondern zu ersetzen und zu sabotieren. Technologie scheint dabei nicht mehr gesellschaftlich verhandelbar und entwickelt sich zum „dämonischen Selbstläufer“ in den Händen monopolitischer Konzerne oder wildgewordener Super-Kapitalisten. Die neuen digitalen Technologien attackieren auch die Grundlagen der Bildung und sabotieren das, was man „Wissensgesellschaft“ nannte. Eine neue Mensch-Technik-Emanzipation ist die Bedingung für eine Überwindung der Omnikrise und für ein neues Verhältnis zur Zukunft.
Die Kognitive Krise:
Im Zentrum der Omnikrise befindet sich ein Schwarzes Loch der Bedeutungen, das allen Sinn in sich einsaugt. Was Menschen für wahr, richtig, „verbindlich“ halten, scheint einem unaufhaltbaren Erosionsprozess zu unterliegen. Was mit der „Blasenbildung“ des Internets begann, greift heute auf die gesamte Kultur über: Jeder lebt zunehmend in einer eigenen Wahrnehmungs-Welt, die seine Identität nur noch als Abgrenzung bestimmt. Der amerikanische Kognitionsforscher Jonathan Haidt nannte dieses Phänomen das „Babylon-Syndrom“: Als die Bewohner der antiken Stadt Babylon den Turm der Zukunft bauen wollten, der selbst den Himmel erreichen konnte, verwirrten sich ihre Sprachen und sie verstanden einander nicht mehr. Die „Baustelle“ blieb liegen, „und das Volk zerstreute sich in alle Winde“.
Die sieben Fraktale der Omnikrise stellen die wichtigsten MEGATRENDS infrage, mit denen die Zukunftsforschung in den letzten 30 Jahren arbeitete. Globalisierung, Individualisierung, Digitalisierung, Konnektivität, Urbanisierung, der Megatrend Gesundheit, Wissensgesellschaft – alle diese „Big Shifts“ scheinen einer Erosion zu unterliegen. Die klassischen Megatrends entwickeln Gegen-Trends, Wirbel, Turbulenzen, die ihre lineare Dynamik brechen. Das ist historisch nichts Neues: Schon der italienische Denker der Aufklärung Giambattista Vico (1668 – 1744), sprach von den „Corsi et Ricorsi“, den fortlaufenden und rücklaufenden Wellen der Geschichte, in denen sich aus der Turbulenz das tatsächliche NEUE, ein neues „Zeitalter“, formt. Wenn wir achtsam sind und die größeren Zusammenhänge verstehen, können wir durch den Nebel der Omnikrise hindurch das „Next Age“, die kommende Epoche erahnen.
Change your Media-Mind!
Um einen realistischen Optimismus zu stärken, hier noch einige Tipps für andere Sichtweisen der Welt durch konstruktiven Journalismus:
„Future Crunch“, die wunderbare australische Optimismus-Seite für positive Welt-Meldungen heißt jetzt „Fix the News“ – und ist noch besser geworden. https://fixthenews.com
„The Progress Network“ (USA) hat einen ähnlichen Ansatz, ist aber analytischer. Alle Texte werden mit einer konstruktiven FRAGE begonnen: „WHAT COULD GO RIGHT? – Was könnte gutgehen? So heißt auch der Newsletter. https://theprogressnetwork.org
Deutschlands konstruktives Medien-Portal „Perspective Daily“ entwickelt sich weiter in Richtung auf ein konstruktives Voll-Magazin. https://perspective-daily.de
Hannah Ritchies Buch „Hoffung für Verzweifelte“, das die gängigen Untergangs-Mythen dekonstruiert, ist auf dem Weg zum Bestseller; sogar große deutsche Medien haben Interviews mit ihr gemacht.
Kennen Sie Elmo? Elmo ist die kleine, freche kindliche Figur in der „Sesamstraße“, die immer sehr niedlich und freundlich über sich selbst und die Welt redet. Elmo entdeckt die Welt, und die Welt in sich selbst, immerzu mit kindlichem Staunen. ELMO ist das Kürzel für „Enough, Let’s Move On“.
Jetzt hat ELMO auf dem Hashtag #EmotionalWellBeing (bei X) eine ganz einfache Frage an das breite Publikum gestellt. „WIE GEHTS EUCH ALLEN EIGENTLICH?”
Und das Netz explodierte:
„Elmo, ich bin deprimiert und pleite.”
„Ich wurde gerade entlassen.”
„Die Welt brennt um uns herum, Elmo.”
„Die Welt ist doch schon so kaputt, dass man gar nichts mehr fühlen kann.“
„Wir sind alle verloren!“
„Ich habe keine Lust mehr, in dieser Sch… Welt zu leben!“
Und so weiter, zigtausendfach.
Sogar Präsident Biden mischte sich ein. Und rief zur Solidarität auf. Solidarisch zeigte sich auch das Krümelmonster. Es schrieb: „Ich bin hier, um darüber zu reden, wann immer du willst. Ich werde auch Kekse liefern.“
Wie kann es sein, dass eine Kunstfigur, eine Puppe, einen derartigen „Sadstorm“ verursacht (im Gegensatz zum Shitstorm)?
Ich treffe derzeit immer mehr Menschen – jeden Alters, jeder Profession – die die Welt und die Zukunft vollkommen verloren geben. Sie sind in einer Grübel-Schleife gefangen, die immer mehr ins Apokalyptische tendiert. Nach einer neueren Umfrage glauben 54 Prozent der jüngeren Generation nicht nur in den westlichen Ländern, dass die Menschheit nicht zu retten ist.
Ich kann das verstehen. Als Zukunftsforscher habe ich noch keine Zeit erlebt, in der die Zukunft so an den Horizont verdrängt war wie heute. Die Krisen häufen sich, und sie hängen miteinander zusammen.
Andererseits gibt es auch viel Großartiges zu verteidigen. Und viel, was bereits in Gang ist, zu beschleunigen und zu verbessern.
Aber diese Umdrehung ins Konstruktive fällt schwer. Auf das Angst-Monster zu starren ist viel leichter.
Wir alle sind an dieser Situation des Weltverdammens nicht ganz unschuldig. So gut wie alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Medien. Wir glauben einfach das, was uns jeden Tag reingeliefert, reingeklickt, weis-gemacht wird. Und deshalb haben wir keinen blassen Schimmer von der Welt. Wir glauben aber, genau Bescheid zu wissen, über alles. Wir haben ja Angst. Und Angst scheint in einer Erregungs- und Aufmerksamkeitsgesellschaft immer recht zu haben.
Nicht nur Putin freut sich drüber.
Das Erbe des Possibilismus
2017 starb Hans Rosling, der Zauberer der Welt-Statistiken. Im damals schon anschwellenden Untergangs-Pessimismus-Trend erhob dieser „schwedische Arzt“ (Wikipedia) eine humorvolle, liebevolle Stimme eines konstruktiven, kritischen Optimismus: „Hört auf zu jammern, schaut Euch die Fakten an!“. Fakten und reale Welt Entwicklungen, so Hans, werden im hypermedialen Zeitalter eigentlich gar nicht mehr gesehen. Sie werden immer aus dem Zusammenhang gerissen, oder spielen im ewigen Angst- und Moraltaumel gar keine Rolle. Hans warnte vor dem medial-kollektiven Untergangsgeschwurbel. Er hatte einen richtigen Ekel davor, fand das Negativ-Gejammer eitel, narzisstisch, uncool, gerade WEIL er die schrecklichen Dinge der Welt erlebt hatte, und seine Verantwortung darin erkannte (er war jahrelang als Arzt in den ärmsten Regionen der Welt unterwegs, unter den schwierigsten Bedingungen).
Jetzt hat Hans Rosling eine würdige Nachfolgerin gefunden. Die Schottin Hannah Ritchie hat ein wichtiges Buch über die globalen Fakten und unser Verhältnis zu Angst und Zukunft geschrieben. Es heißt „Not the End of the World” und fängt so an:
„Es ist mittlerweile üblich, Kindern zu sagen, dass sie durch den Klimawandel sterben werden. Wenn eine Hitzewelle sie nicht erwischt, kann es zu einem Waldbrand, einem Hurrikan, einer Überschwemmung oder einer Massenhungerattacke kommen.
Dennoch klingt Pessimismus immer noch intelligent und Optimismus dumm. Es ist mir oft peinlich zuzugeben, dass ich eine Optimistin bin. Ich kann mir vorstellen, dass es mich im Reputations-Vergleich um ein oder zwei Punkte zurückwirft. Aber die Welt braucht dringend mehr Optimismus. Das Problem ist, dass Menschen Optimismus mit blindem Optimismus verwechseln, dem unbegründeten Glauben, dass die Dinge einfach besser werden. Blinder Optimismus ist wirklich dumm. Und gefährlich. Wenn wir uns zurücklehnen und nichts tun, wird es nicht gut ausgehen. Optimismus bedeutet, Herausforderungen als Chancen für Fortschritte zu sehen: Es geht darum, zuversichtlich zu sein, dass es Dinge gibt, die wir tun können, um etwas zu bewirken (S. 9, engl. Fassung).“
Hannah Ritchie arbeitet beim Welt-Daten-Portal ourwoldindata als Head of Research. Auf dieser Plattform, gegründet von Max Rosen, lassen sich die großen Trends der Welt in soliden Daten und Kurven abfragen. WENN man sich dafür interessiert. Nur: Wer interessiert sich noch für das Lang- und Mittelfristige, für die wahren Trends, wenn überall das Blitzlichtgewitter der Meinungen und Schreckensmeldungen tobt, und grausame Ereignisse alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen?
Hannah Ritchie erzählt in ihrem Buch, wie sie als 18 jährige selbst vom Doomsday-Gefühl erfasst war, wie sie nicht mehr herauskam aus dem Grübeln und Verzweifeln. Und wie sie sich aus dem Korsett des negativen Denkens befreite, indem sie sich gegenüber den laufenden UND gegenlaufenden Trends öffnete.
Die falschen Rechnungen im Kopf
Hannah Ritchie zerlegt die Doomsday-Formeln, die wir ständig wie dunkle Mantras vor uns her murmeln – Artensterben, Klimakatastrophe, Bevölkerungsexplosion, Rohstoffmangel etc. –, in ihre Einzelteile: Stehen wir heute wirklich vor dem „Sechsten großen Artensterben“? Unsinn, wenn man genauer die Faktenlage betrachtet. In der Tat sinkt in manchen Ländern und Gegenden die Biodiversität. Das ist beunruhigend. Es gibt aber auch eine Menge Gegenbewegungen. Es gibt weltweit neue Aufforstungen, viele bedrohte Tierarten vermehren sich wieder prächtig. Zum Beispiel die meisten Wal-Arten.
Es gab fünf große „Extinctions“ in der Erdgeschichte. Bei einigen davon ging die Artendiversität um 90 Prozent zurück. Keine davon war von Menschen verursacht. Und immer stieg danach die Artenvielfalt weiter an.
Ist es wirklich wahr, dass die Bevölkerungsexplosion alle Ressourcen verbrauchen wird? Dass es viel zu wenig erneuerbare Energie gibt, und das postfossile Zeitalter niemals zu erreichen ist? Dass Elektroautos umweltschädlicher sind als Verbrenner? Mehr als die Hälfte der Bevölkerung weiß gar nicht, dass die Bevölkerung der Erde längst nicht mehr „explodiert“. Dass die Geburtenraten auch in den ärmeren Ländern rapide gesunken sind, während die Energieeffizienz der meisten industriellen Produktionen sich vom Wachstum abgekoppelt hat.
Ist es wirklich wahr, dass Palmöl nur schädlich für die Umwelt ist?
Ist es wirklich wahr, dass die Meere durch die Überfischung bald leer sein werden?
Ist es wirklich wahr, dass wir in einer Welt leben, in die man keine Kinder setzen sollte?
Beim Lesen entsteht, wenn man sich darauf einlässt, eine interessante Kognitive Dissonanz. Man spürt, wie die einzelnen Doomsday-Narrative zu so etwas wie unseren Lieblings-Geschichten geworden sind. Wir sind regelrecht verliebt in sie. Wir verteidigen sie bis aufs polemische Messer. Untergangs-Narrative geben uns eine moralische Überlegenheit, eine überlegene Deutungsmacht. Ein negatives Größengefühl, verbunden mit einer Art Häme über die Blödheit der Menschheit, die sich gerade selbst abschafft.
Provozieren kommt vom lateinische pro-vocare. Hervorrufen, eine Reaktion erzeugen. Hanna Ritchie provoziert uns zum Beispiel wundervoll mit folgenden Sätzen:
„Ich glaube nicht, dass wir die letzte Generation sein werden. Die Beweise deuten auf das Gegenteil hin. Ich denke, wir könnten die ERSTE Generation sein. Wir haben die Chance, die erste Generation zu sein, die die Umwelt in einem besseren Zustand hinterlässt, als wir sie vorgefunden haben.“
Im Kern des Buches findet sich ein wichtiger Diskurs über die negativen Auswirkungen von Untergangs-Weltbildern:
Apokalypse-Geschichten sind oft unwahr. Sie rechnen bestimmte Fehlentwicklungen in einer bizarr übertriebenen Weise hoch. Die Menschheit geht nicht unter. Beim besten Willen nicht. Zynisch könnte man sagen: Wir können uns noch so anstrengen, wir kriegen den Planeten nicht kaputt. Und uns selbst als Spezies auch nicht!
Untergangs-Narrative tragen indirekt zum Zerfall wissenschaftlicher Reputation bei. Wenn Wissenschaftler (und Medien) ständig vor „Apokalyptischen Gefahren“ warnen, und die dann nicht eintreten, verlieren sie leicht ihre Glaubwürdigkeit. Das ist ein Einfallstor für Klima-Leugner, aber auch für alarmistischen Journalismus, der sich seiner fatalen Rolle gar nicht bewusst ist. „Da sieht man’s wieder, die Welt ist nicht untergegangen“, sagen die Leugner, „Es gibt in diesem Winter sogar Schnee, die Wissenschaftler haben doch keine Ahnung!“
Doomsday-Gerüchte erzeugen Passivität und Zynismus und verhindern Veränderungen, die tatsächlich nötig sind. „Die Option des Aufgebens ist nur von einer privilegierten Situation aus möglich.“, schreibt Ritchie. Zack, das sitzt.
PS: Vorschlag zur Abschaffung eines Wortes
Ich möchte noch einen vorsichtigen Vorschlag zur Abschaffung eines Wortes machen, das unfassbar verbreitet, aber gleichzeitig ziemlich unproduktiv ist.
Geht es Ihnen auch so, dass Ihnen das Wort „Nachhaltigkeit“ schrecklich auf die Nerven geht? Es steht in jeder zweiten Zeile von Geschäftsberichten. Es geistert quer durch die Sprachwelt und leidet unter grassierendem Bedeutungsverlust. Wem auf einem Business-Kongress nichts mehr einfällt, spricht von „Nachhaltigkeit der Investitionen“. Sprich: Garantiert springt Kohle raus. Neulich sprach ein militanter Islamist davon, dass er „Menschen nachhaltig für den radikalen Islam gewinnen“ will. Nachhaltigkeit ist ein glitschiges Null-Wort geworden, ein Füllsel, das das Image des Ökologischen eher beschädigt als voranbringt. Lassen sie es sich einmal auf der Zunge zergehen: Nach-Haltig. Klingt süßlich nach Vorrats-Haltung, oder? Wir haben noch etwas im Lager und füllen die Regale wieder auf. Vorratshaltung.
To sustain heißt im Englischen „aushalten“ bzw. „ertragen“. Alles soll so bleiben wie es ist. Kein Wunder, dass man im Namen der Nachhaltigkeit eher einschläft als für eine neue, bessere Welt zu kämpfen (erfunden wurde das Wort übrigens vom sächsischen Forstrat Hans Carl von Carlowitz 1713). In seinem Traktat Sylvicultura oeconomica benutzt er es, um die Energiebedürfnisse der frühen sächsischen Minenindustrie auszudeuten – auch die „Verspargelung“ unsere Wälder als reine Rohstofflieferanten geht darauf zurück).
Mein Gegenvorschlag für ein konstruktiveres Wort: Re-Generation. Das kommende Zeitalter, THE NEXT AGE, wird re-generativ sein. Es wird uns die Energie zurückgeben, die wir im fossilen industriellen Zeitalter so „nachhaltig“ verbrauchen, so dass wir ganz erschöpft sind. Es wird die Natur üppiger denn je machen. Es wird die Generationen zusammenführen („Re-Generation“). Die zerbrochenen industriellen Lebensweisen reparieren. Das Postfossile wird wie ein Generator wirken, der jede Menge Energie erzeugt, die wir für die Zukunft brauchen.
Vorwärts ins RE-GENERATIVE ZEITALTER!
Klingt doch schon viel besser, oder?
Vielleicht brauchen wir wieder mal anregende und lustige Parolen.
Arbeiten wir dran!
„Not The End of the World“ von Hannah Ritchie erscheint auf Deutsch unter dem schönen Titel „Hoffnung für Verzweifelte“. Bei TED gibt es einen interessanten Vortrag von ihr, in charmantem Schottisch: www.ted.com
„Oh it’s very simple. My secret had been I know what to ignore.“
Francis Crick, Nobelpreisträger
Fragen, die mit „müssen wir…?“ beginnen, sind Scheinfragen. Sie erzeugen suggestive Zustimmungen. Indem man die Frage so stellt, beantwortet man bereits mit JA. Deshalb werden solche Angst-Haben-Müssen- Fragen gerne in Talkshows benutzt, um Angststimmungen anzuheizen.
„Ist es nicht so, dass unsere Demokratie längst verloren ist?“
„Ist es nicht so, dass die ökologische Transformation sowieso keine Chance mehr hat – und die Grünen sowieso das Letzte sind?“
Merken Sie, wie ihr Hirn, ihr MIND, affirmativ reagiert? Hm, da ist was dran…
Wenn es schon so gefährlich ist…
Dann bin ich auch dieser Meinung…
Man nennt das auch die negative Fragebejahung. Mit ähnlichen suggestiven Methoden arbeiten übrigens auch Rechtsradikale: Seid ihr nicht alle auch der Meinung, dass die da Oben alle Gesindel sind, die weggejagt gehören!!?“
Grölen! Hurra!
Fragen wir also anders: Hat der Faschismus in Zukunft überhaupt noch eine Chance?
Diese Antwort lautet schlichtweg: nein.
Wenn wir von „Faschismus“ sprechen, beziehen wir uns auf den Faschismus, den, den wir aus Schwarzweiß-Filmen kennen. Die im Gleichschritt marschierenden, heroischen (Männer-)Massen. Die totale Formierung einer Gesellschaft. Die Entfesselung menschenfeindlicher Gewalt.
Faschismus ist die Formierung von Gesellschaften zu einer amorphen Masse, nach dem Prinzip des Führerkultes und der fanatisierten Unterordnung von Millionen Menschen. Dazu braucht man ein gewaltiges und gewalttätiges Potential, eine kaputte Gesellschaft, und ein mächtiges, heroisches Narrativ. Man benötigt Feind-Narrative, die die Bereitschaft des Opferns und des Hasses in übermächtiger Weise ansprechen. Faschismus endet immer im Krieg, in der Zerstörung, in der mörderischen Aggression. Das ist sozusagen seine Seele.
In manchen historisch traumatisierten Gesellschaften wie Nordkorea und (teilweise) Russland kann eine solche gesellschaftliche Regression noch funktionieren. Aber unsere Lebensweisen, unsere Denk- und Fühlformen, sind heute völlig andere als vor hundert Jahren. Wir leben in einer offenen, liberalen, allen Unkenrufen entgegen auch ziemlich solidarischen Gesellschaft. Einer Kultur, die sich auf vielen Ebenen individualisiert und befreit hat von vielen alten Dumpfheiten und Dummheiten.
Das Problem ist nur, dass wir das selbst nicht mehr glauben. Wir zweifeln gerade an alledem. Wir trauen uns selbst nicht mehr, und unsere Ansprüche sind so hochgewachsen, dass wir mit Schwierigkeiten nur noch schlecht zurechtkommen. Wir neigen zur Paranoia. Und genau das ist die Hebelwirkung bösartiger Populisten. Sie versuchen, den Selbstzweifel zu schüren, uns zu zermürben in unserem Selbstverständnis, unserem Zukunftsvertrauen. Was ihnen mit Hilfe der Medien und einer Politik der Angstmachung leider ziemlich gut gelingt.
Das Einzige, womit Faschisten an die Macht kommen könnten, ist die Hypnosekraft der Angst. Donald Trump arbeitet ausschließlich mit Angst und Erniedrigungen. Er schreit, er tobt, er droht, er beleidigt. Das funktioniert so gut, weil es in er amerikanischen Gesellschaft viele Menschen gibt, die an einem Gloriositäts-Syndrom leiden. Sie sehen in Trumps Toben und Lügen eine Stärke, die sie selbst gerne hätten. Mit allem durchkommen und immer gewinnen!
Aber weder ist Donald Trump ein Faschist, noch ist die amerikanische Gesellschaft „faschistisierbar“. Selbst ein Republikaner, Geoff Duncan aus Georgia, sagte: „Trump hat den moralischen Kompass eines Axtmörders.“ Axtmörder sind schlechte Diktatoren. Trump ist ein hoffnungsloser Narzisst, ein Clown, ein Versager seines eigenen Lebens, und die US-Gesellschaft mag gespalten sein, aber sie lässt sich kaum zu marschierenden Massen formieren. Ihr innerer Kern ist der Individualismus; auf eine manchmal exzessive Weise, die aber auch einen liebevollen Gegenkern hat: Freundlichkeit und menschliche Kooperation.
Der Ballon Trump wird zerplatzen. Oder eher mit einem hässlichen Ton in sich zusammenschrumpfen.
Die wirkliche Gefahr für unsere Zukunft besteht in einer „thymotischen Gesellschaft“ (Sloterdijk). Einer Gesellschaft, die nur noch in Wut und Angst um sich selbst kreist, sich in narzisstischen Streits verliert. Davon sind wir, auch mit Hilfe eines großen Teils der Medien, leider nicht mehr weit entfernt.
Das SCHÖNE, das wir jedoch in den letzten Wochen in Deutschland erleben konnten, war ein demonstrativer Widerstand, der sich nicht (oder wenig) ängstigte. Die großen Demokratie-Demonstrationen überall im Land hatten einen überwiegenden Ton der Freude. Der Positivität. Des Selbst-Bewusstseins. Weil viele Menschen zusammenkamen, die auch wussten, WOFÜR sie sind.
Vieles gelingt. Vieles ist möglich. Bei manchem stehen wir uns nur selbst im Weg. Oder es ist eben schwierig. Es ist keine Schande, schwierige Probleme, nicht sofort lösen zu können. Das ist eine gute Grundeinstellung, um dem rechtsradikalen Dämon seine Dynamik zu nehmen.
Faschisten und bösartige Populisten haben vor allem vor EINEM Angst: Dass die Menschen sich nicht vor ihnen fürchten. Deshalb müssen sie immer lauter schreien. Wir sollten dagegen den Mut haben, die konstruktive Verachtung zu üben. Konstruktive Verachtung besteht in einer Verbindung von Angstverweigerung und einem beharrenden Stolz, der sich nicht verunsichern lässt. Einer ansteckenden Festigkeit der Zuversicht.
Der New York Times-Kolumnist David Brooks brachte die Haltung der konstruktiven Verachtung so auf den Punkt: I try to be a reasonable person. I try to be someone who looks out in the world with trusting eyes. Over the decades I’ve build up certain expectations about how the world works and how people behave. And I’ve found that Donald Trump has confounded me at every point.
I’d rather not let him infect my brain. I’d rather not let the guy alter my views of the world. If occasional naivety is the price for mental independence from Trump, I’m willing to pay it. I don´t want to see him, minute to minute, to take up residence in our brains.
Trump is a Tyrant. As Aristoteles observed, tyranny is about arbitrariness. When a tyrant has power, there is no rule of law, there is no governing order. There is only the whim of the tyrant. There is only his inordinate desire to have more than his fair share of everything. The categories we use to evaluate the World lose their meaning – cruelty and kindness, integrity and corruption, honesty and dishonesty, generosity and selfishness, lie and truth. We should forget the idea that there should some connection between the beliefs you have and the words that come out of your mouth.“
„Ich versuche, ein vernünftiger Mensch zu sein. Ich versuche jemand zu sein, der mit vertrauensvollen Augen in die Welt blickt. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich bestimmte Erwartungen darüber aufgebaut, wie die Welt funktioniert und wie sich die Menschen verhalten. Und ich habe festgestellt, dass Donald Trump mich in jeder Hinsicht verwirrt hat.
Ich möchte lieber nicht zulassen, dass er mein Gehirn infiziert. Wenn gelegentliche Naivität der Preis für die geistige Unabhängigkeit von Trump ist, bin ich bereit, sie zu zahlen. Ich möchte nicht von Minute zu Minute sehen, dass er sich in unseren Gehirnen festsetzt.
Trump ist ein Tyrann. Wie Aristoteles feststellte, geht es bei der Tyrannei um Willkür. Wenn ein Tyrann die Macht hat, gibt es keine Rechtsstaatlichkeit, keine herrschende Ordnung. Es gibt nur die Laune des Tyrannen. Es gibt nur seinen übermäßigen Wunsch, von allem mehr als seinen gerechten Anteil zu haben. Die Kategorien, die wir zur Bewertung der Welt verwenden, verlieren ihre Bedeutung – Grausamkeit und Freundlichkeit, Integrität und Korruption, Ehrlichkeit und Unehrlichkeit, Großzügigkeit und Egoismus, Lüge und Wahrheit. Die Idee, dass es einen Zusammenhang zwischen Ihren Überzeugungen und den Worten geben sollte, die aus Ihrem Mund kommen, sollten wir vergessen.“
David Brooks, The New York Times, Juni 2023, „I Won’t let Donald Trump Invade My Brain“
An den Feiertagen habe ich einen Film gesehen, der mich tief berührt hat. „Leave the World Behind“ mit der wunderbar zickigen Julia Roberts und dem zerknitterten Ethan Hawke in den Hauptrollen. Ein schrecklicher Endzeit-Film der besonderen Art. Produziert wurde der Film (unter anderem) vom Ehepaar Obama. Was bemerkenswert ist. Oder beängstigend. Haben sogar die Obamas jetzt den Glauben an das Gute, an die Zukunft, verloren?
Die Handlung geht so: Ein wohlstands-gestresstes amerikanisches Paar — sie Werbemanagerin, er Dozent an einer Hochschule — fährt mit seinen Kindern in einen Spontanurlaub in ein Luxushaus auf Long Island. Schon auf dem Weg fallen die Handyverbindungen und das Internet aus. Und dann beginnt ein endloser Horror, bei dem die Zivilisation richtig satt den Bach heruntergeht. Es fängt damit an, dass ein Öltanker einfach in einen bevölkerten Badestrand hineinfährt.
Man kann den Film einfach als Action-Film sehen — Horror-Entertainment á la carte. Die beste Horrorszene ist, wie tausend leere weiße Teslas auf einer Landstraße ineinander krachen — so endet Elon Musks Versprechen vom automatischen Fahren. So endet auch der ganze hypertechnologische Traum, der der Wirklichkeit nicht standhält.
Aber der Film hat noch eine zweite, wichtigere Ebene: Das Verhältnis der Menschen zu sich selbst. Und zur Zukunft.
„Ich hasse Menschen“ sagt Julia Roberts gleich zu Beginn. „Menschen sind einfach schrecklich (awful)“.
Der Zivilisations-Zusammenbruch, wir ahnten es eigentlich immer schon, kommt nicht von außen, nicht durch Aliens oder böse Finsterlinge. Er kommt von Innen.
Die Zombies, das sind wir selbst.
Ich habe in den letzten Tagen Freunde, Bekannte, Nachbarn gefragt, was sie für 2024 erwarten: „Was sind Ihre/Eure Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen für das nächste Jahr und „Beyond“ (darüber hinaus)?”
Zwei Drittel haben gleich abgewinkt: „Hör mir auf! Was soll DIESE Frage denn noch?”
„Wenn das nächste Jahr auch nur ein wenig schrecklicher wird als dieses, dann wird es schon ein Superjahr.“
„Vergiss es! Das nächste Jahr wird garantiert noch versiffter als das Vergangene.“
„Ich erwarte gar nix mehr, schon gar nicht von der Zukunft!“
Auffällig der Sound des Zynismus, der in den meisten Antworten den Ton bestimmt. Mindestens fünfmal hörte ich einen Satz, der zu einer Art Untergangs-Bullshit-Mantra geworden ist: „Die Menschheit wird sich sowieso ausrotten!”
Und dann, als Zusatz: „Ist sowieso gut.
Die Natur braucht uns nicht. Die kommt prima ohne uns aus.”
Begründet wird dieser wurstige Zynismus immer damit, dass man ja „nur mal in die Medien schauen muss, um zu sehen, dass die Welt den Bach heruntergeht“. Aber bilden die Medien wirklich „die Welt“ ab? Sollten wir nicht inzwischen ein bisschen weiter sein? Und verstanden haben, dass „die Medien“ nicht dazu da sind, uns die Wirklichkeit zu zeigen? Sondern uns zu Klicks zu verführen, damit die Werbung weitergeht. Was besonders gut mit Angst, Übertreibung, Hysterie und zynischer Negativität funktioniert.
Ich glaube, wir können vom Jahr 2024 (ff) durchaus etwas erwarten.
Wir könnten zum Beispiel erwarten, dass Trump krachend scheitert. Entweder bei der Wahl, oder durch irgendetwas Magisches oder Verrücktes/Absurdes danach. „Etwas“ wird passieren, das diesen aufgeblasenen Hanswurst, diesen eitlen Superclown, zu Fall bringt.
Unmöglich?
Das Denken jetzt alle. Und das ist Trumps eigentlicher Triumph.
Dabei ist Trumps Fall in den Orkus sehr wahrscheinlich. Das System Trump ist so überzogen, überreizt, bizarr, so hyperfragil, dass es vor, eigentlich schon NACH dem Kollaps steht. Es handelt sich, wie wir in der Systemsprache sagen, um überzogene Probabilität. Der Tipping-Point ist längst überschritten, die Wirklichkeit hinkt nur noch ein bisschen hinterher…
Man muss nicht Shakespeare-Stücke ansehen, um das zu verstehen. Man braucht nur einen gesunden Menschenverstand. Es kann nur schiefgehen. So oder so wird es das. The Atlantic: Why Trump Won’t Win
Wenn Trump abstürzt, könnten wir uns womöglich aus jener Ohnmachts-Trance, jenem Bannfluch befreien, in dem wir glauben, dass die Populisten und Autokraten IMMER siegen werden, je gewaltbereiter und bösartiger sie werden.
Ich kann mir für das Jahr 2024 vorstellen, dass ausgerechnet aus dem Horror des Gaza-Krieges eine politische Wende in Israel hervorgeht. So wie in Polen. Dass sich die israelische Gesellschaft über ihre eigenen Abgründe erhebt. Und sich im Nahen Osten neue Bündnisse für eine Befriedung dieses scheinbar ewigen Konfliktes herausbilden.
„Geht nicht”, sagen die ewigen Doomsayer. „Kann gar nicht gehen.”
Wirklich?
Wir könnten uns wundern.
Wenn wir uns nicht mehr wundern können, gibt es in der Tat keine Zukunft.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass China bereits im kommenden Jahr (oder in den nächsten drei Jahren) seinen „Carbon Peak“ erreicht. Von da an würden die CO2-Outputs dieses gigantischen Industrielandes ständig sinken, wie heute schon in den alten Industrienationen.
Chinas Karbonwende würde unsere Wahrnehmung der Klima-Wende stark verändern. Wenn die bald größte Wirtschaft der Welt das schafft, dann ändert sich womöglich auch unsere panische, negative Wahrnehmung: „es kann sowieso nicht funktionieren“. Dann nehmen wir endlich WAHR, dass wir in einem gewaltigen Boom neuer postfossiler Technologien leben. Dass verdammt vieles in Richtung Dekarbonisierung vorangeht, obwohl, na klar doch, es „immer noch nicht genug ist“.
Ich glaube, dass jeder Einzelne von uns eine Mit-Verantwortung für die Hoffnung hat. Und das heißt: auch für seine Wahr-Nehmungen. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, sich dem ewigen Jammern und Klagen, dem Ver-Meinen und Negativieren, der Weltverderbung, die regelrecht zu einer Seuche geworden ist, zu verweigern.
Was uns weiterbringen würde, ist eine bestimmte Form von nicht-naivem Optimismus. Von aufgeklärter Zuversicht. Die schottische Daten-Analystin — (sie arbeitet bei der Datenplattform ourworldindata.org) Hannah Ritchie nennt das den „hartnäckigen Optimismus“.
Oder DRINGENDEN Optimismus.
Oder würdigen Optimismus
Verantwortungsvollen Optimismus
Oder auch WÜTENDEN Optimismus (Copyright: mein Sohn Tristan).
Einen Optimismus, der etwas aushält. Der sich nicht bei jeder Gelegenheit verunsichern lässt. Und nicht jedes Weltuntergangsgerücht nachplappert und dadurch verstärkt.
Eine Art Zukunfts-Resilienz.
Apokalypse heißt wörtlich übersetzt „Offenbarung“. Nicht Untergang.
Ebenso wie „Krise“ nicht „Ende der Welt“ bedeutet.
Sondern Übergang.
Am Anfang von „Leave the World Behind“ befindet sich jedes der vier Familienmitglieder in einer eigenen Blase. Alle sind irgendwie an sich selbst und an den anderen gescheitert. Die Frau am Mann, der Mann an sich selbst, die Kids sind in ihren Screens gestrandet.
Je mehr die Auflösung des Gewohnten voranschreitet, desto mehr werden jedoch die Schichten der Entfremdung abgelöst. Im Ernstfall kommt das wahre Menschliche wieder zum Vorschein. Es entsteht wieder Beziehung.
„Wenn wir Menschen schon alle so schrecklich sind – sollten wir nicht gerade deshalb versuchen, besser miteinander auskommen?“ sagt Julia Roberts in einem erleuchteten Moment.
Im Zivilisations-Untergang versammeln sich die Tiere neugierig um die Menschen, die nun keine Gefahr mehr darstellen. In der Apokalypse ordnen sich die Dinge neu und überraschend. Die Gestrandeten des Untergangs merken, wie viel sie einander bedeuteten. Wieviel ihnen die Welt bedeutet. Wie sehr es sich lohnt, füreinander und miteinander zu sein. IN der Welt zu sein.
Wie wichtig es ist, den Zynismus, die digitale Einsamkeit, die innere Selbstverdammung, hinter sich zu lassen. Das ist das Wunder der Verwandlung.
Der Schluss des Films ist rätselhaft wie das Leben selbst. Nur so viel: Es geht um Hoffnung. Um das, was alleine die Zukunft möglich macht: Zusammengehörigkeit.
P.S.: Hier noch ein Lesetipp fürs neue Jahr:
Hannah Ritchie: Not the End of the World
How we can be the first Generation to build a sustainable Planet.
Erscheint am 11. Januar auf Englisch.
Im März auch auf Deutsch, unter dem schönen Titel: „Hoffnung für Verzweifelte“
„Beyond Trends“ oder
Plädoyer für eine andere Zukunftsforschung
Es ist nicht leicht, über die Zukunft zu sprechen, ohne gleich in Beschleunigungs-Hysterie oder
in ein anderweitig apokalyptisches Fahrwasser zu geraten.
Deshalb frage ich nicht, ob wir Zukunft haben oder nicht haben,
sondern wie wir Zukunft ERLEBEN und herstellen.
Aleida Assmann
aben Sie irgendwo die ZUKUNFT gesehen?
Ich meine: Die richtige Zukunft. Nicht nur Waldbrände, Artensterben, Krieg, Kulturkrieg und digitale Super-Intelligenz, die uns entweder umbringt oder von allen Übeln erlöst. Sondern eine Zukunft als Vorstellung eines Besseren Morgens.
Es sieht ganz so aus, als ob uns diese Zukunft in einem rasenden Jetzt verloren gegangen ist. Sie hat sich, ähnlich wie die Politik, in zwei diametrale Lager aufgespalten:
In einen naiven Technik-Utopismus, in dem Zukunft ausschließlich als Produkt technologischer Sensationen und digitaler Erlösungen verstanden wird. Mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz werden alle Probleme der Menschheit gelöst, Roboter übernehmen den Alltag, wir schrauben uns demnächst Sensoren ins Hirn, die uns hundertfach intelligenter machen. Und demnächst leben wir auf dem Mars …
Oder sie tritt uns als Untergangs-Dystopie gegenüber, in der die Apokalypse längst schon angefangen hat: Alle Wälder werden brennen, Bürgerkriege die Städte zerstören, und der Meeresspiegel steigt auf die Höhe Kitzbühels. Der Mensch ist überflüssig und überzählig und wird demnächst aussterben …
Beide Varianten sind im Grunde das Gleiche. Sie sind beide dystopisch. Wie sagte der Feuilletonist Dietmar Dath so schön? „Zukunft ist immer das, was uns aufgeilt und erschreckt.“
Man könnte auch sagen: Die Zukunft funktioniert nicht mehr. Sie dient uns nicht mehr als Wegweiser, Orientierung und Ausrichtung für unser Leben. Was ihre eigentliche Aufgabe wäre – eine nützliche Fiktion zu sein, die uns leitet und anleitet -, kann sie nicht mehr erfüllen.
Megatrends, revisited: Die Zukunft liegt nicht geradeaus
In den letzten zwanzig Jahren hat der Begriff MEGATREND eine steile Karriere zurückgelegt. Dieser Begriff, den der amerikanisch Publizist John Naisbitt in den 80er Jahren prägte, bezeichnet die langfristigen BIG SHIFTS, die unsere Welt Richtung Zukunft verlässlich verändern: Individualisierung, Globalisierung, Urbanisierung, Digitalisierung, Wissensgesellschaft, Alterung („Silver Society“) und so fort. Also das, was bislang authentisch den Wandel unserer Welt beschrieb.
Megatrends haben den Vorteil, die Vielschichtigkeit der Welt auf einen klaren linearen Begriff zu reduzieren. Sie suggerieren ein glaubwürdiges GERADEAUS. Das entlastet unser kognitives System, führt aber auch zu Wahrnehmungs- und Wirklichkeits-Verzerrungen.
Nehmen wir die GLOBALISIERUNG, den gewaltigen ökonomischen Leit-Trend der letzten 30 Jahre. Wir erwarte(te)n, dass es immer so weitergeht im globalen Marktgeschehen. Dass das rasend schnelle Zusammenwachsen der Weltwirtschaft zu einer einzigen ökonomischen Sphäre, einem Superweltmarkt des immerzu wachsenden Wohlstands, unwiderruflich ist. Und dass die wirtschaftliche Verflechtung Konflikte und Kriege verhindert. Aber man sieht heute eher das Gegenteil. Neue Brüche entstehen, Kriege und Turbulenzen wuchern, Pandemien verändern die Spielregeln, und wir erleben ein Zerfasern der globalen Wertschöpfungs- und Wertschätzungsketten. Kulturelle Formungen und uralte Konflikte überschreiben plötzlich die scheinbar ehernen ökonomischen Gesetze.
Auch der Individualisierungs-Trend fliegt uns derzeit um die Ohren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Individualisierung und Individualismus häufig verwechselt werden.
Individualismus ist eine Ideologie der egoistischen Abgrenzung.
Individualität ist die Formung eines stabilen Selbst in Verbundenheit.
Eindimensionaler Individualismus macht uns zu Konsumenten, Einzelnen, Ichlingen. Echte Individualität macht uns zu Mit-Menschen, die sich auf neue und respektvolle Weise übereinkommen. Individualismus handelt nur vom Wollen. Individualität auch von dem, was wir der Gesellschaft GEBEN können. Das zu differenzieren ist der Schlüssel zur Frage, wie eine NEXT SOCIETY aussehen könnte.
Auch der Begriff der „Wissensgesellschaft“, der noch bis vor Kurzem jede Zukunfts-Diskussion abschloss, ist seltsam hohl geworden. Irgendwie hat es mit der Bildungsutopie nicht geklappt. Heute ist sogar in Zweifel gezogen, was „Wissen“ überhaupt ist. Was ist eigentlich noch Wahrheit, was ist Wirklichkeit, in einer Welt der rasenden Fake News und der Lüge als neue Wahrheit?
Oder nehmen wir die Digitalisierung selbst, diesen Über-Trend unserer Epoche. Je mehr das Digitale in unsere Alltagswelt eindringt, unser Leben von innen heraus umformt, desto mehr enthüllt es seine Schattenseiten. Auf eine geradezu unheimliche Weise verbindet Digitalisierung nicht Menschen, Systeme, Kulturen zu immer höherer Konnektivität. Sondern trennt sie. Digitalisierung produziert Myriaden von „Schnittstellen“ (wörtlich) , die gewachsene menschliche Kommunikations- und Verständigungs-Systeme zerstören. Das überfordert viele Menschen. Es bringt eine vibrierende Unsicherheit in die Welt. Eine Welt-Entfremdung.
Yuval Noah Harari schreibt in seinem Buch „Homo Deus“: „Der Dataismus invertiert die traditionelle Pyramide des Lernens. Daten wurden früher als der erste Schritt in einer langen Kette geistiger Aktivität gesehen: Aus Daten destilliert man Information, aus Information Wissen, aus Wissen Weisheit und sinnvolle Handlung. DATAISTEN glauben, dass das alles überflüssig ist. Die Daten SELBST sollen die geistige Aktivität ersetzen, weil die Prozessoren die Kapazität des menschlichen Hirns überschreiten. In der Praxis bedeutet das, skeptisch gegenüber den humanen Fähigkeiten zu sein und alles in die Hände von Computeralgorithmen zu geben.“
Das heißt nicht, dass wir Trendbegriffe nicht mehr nutzen können, um Veränderungen zu beschreiben. Aber wir müssen ihre Widersprüche erkennen, ihre paradoxen Zusammenhänge. Jeder Trend, ob groß oder klein, gerät irgendwann an einen TIPPING POINT, an dem er seine Richtung ändert. Jeder Trend erzeugt früher oder später GEGENTRENDS – darin zeigt sich eine Art Selbstregulierung der Systeme. Nichts kann immer in dieselbe Richtung gehen. Nur wenn wir diese Trend-Gegentrend-Dynamik begreifen, können wir das VERSCHLUNGENE WESEN DER WELT (der Begriff stammt vom Zen-Philosophen Matthieu Richard) erkennen. Und damit die Zukunft verstehen.
Von Prognose zu Re-Gnose: Von der Zukunft aus sehen
Um die inneren Perspektiven zu verändern hat sich die Technik der REGNOSE als nützlich erwiesen. Die Regnose ist eine Art geistiger Zeitreise, in der wir unser visionsfähiges Gehirn, unseren „Future Mind“, nutzen, um uns in eine mögliche und wahrscheinliche Zukunft zu begeben. Und von dieser Position aus auf uns selbst in der Gegenwart reflektieren.
In Krisenzeiten bedeutet das: Versetzen wir uns in eine mögliche Welt NACH den Krisen. Und fragen:
WAS IST NÖTIG GEWESEN, UM HIERHER ZU GELANGEN?
Was wäre zum Beispiel nötig, um den Ukraine-Krieg, oder den neuen Nahost-Krieg, zu einem Ende zu bringen? Eine geradezu monströse Frage, die sofort Kopfweh erzeugt. Aber sie ist sinnvoll. Offensichtlich kann eine mörderisch-kriegerische Dynamik weder durch die richtige Moral noch durch neue Waffentechniken gestoppt werden. Kriege sind ein endloses Lose-lose-Spiel, in dem es keine Gewinner gibt. Sie erzeugen unentwegt ihre eigenen Anlässe. Die wenigsten Kriege können durch Siege entschieden werden.
Eine Lösung könnte nur aus einer Transformation der gesamten Weltordnung entstehen. Eine Veränderung, die das Verhältnis zwischen Staaten, Globalen Institutionen, Zivilgesellschaften und Global Playern neu ordnet. Das erscheint aus heutiger Sicht unmöglich. Aber diese Entwicklung ist längst im Gange. Wenn sich alte Ordnungen auflösen, entstehen IN den Auflösungsprozessen immer schon die neuen Ordnungen. Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts brachten noch IM Krieg eine neue globale Ordnung hervor. Ebenso wie der Westfälische Friede 1648 in den drei Jahren VOR dem Ende des 30-jährigen Krieges ausgehandelt wurde.
Ein ähnliches Beispiel ist die Klimakrise. Wenn wir heute über Klimawandel und Dekarbonisierung sprechen oder nachdenken, fixiert sich unser Hirn auf vertrackte Probleme. Weil die politischen Probleme der Klimawende noch nicht gelöst sind, erscheinen sie als unüberwindbares Hindernis. Wir verirren uns in einem Labyrinth von Unlösbarkeiten, in dem kein Ariadnefaden mehr hilft.
Wenn wir aber „von vorne“, aus der Perspektive der Lösung, herausschauen, also aus einer postfossilen Realität? Dann können wir den Zukunfts-Faden von der anderen Seite her auflösen. Alles erscheint plötzlich MÖGLICH und „ganz normal“: Die Techniken und Systeme, die sich heute schnell im Sinne der Dekarbonisierung entwickeln, sind (waren) in ihrem Zusammenwirken und ihrer innovativen Dynamik durchaus in der Lage, den Abschied von Öl, Kohle und Gas zu ermöglichen. Vom Ende der Entwicklung her wird das sichtbar. Wir sind in der postfossilen Wende viel weiter, als wir glauben.
Regnose heißt:
Aus der Unmöglichkeit wird ein Möglichkeitsraum.
Wir denken die Welt in Lösungen.
Und damit VERÄNDERT sich die Welt, weil sich unsere Wahr-Nehmungen verändern.
Die Theorie des ENAKTIVISMUS besagt, dass wir durch unsere Wahr-Nehmungen die Realität erst „aktivieren“. Die kommende Wirklichkeit entsteht aus unseren Vorstellungen. Das hat nichts mit dem magischen Wirken von „Manifestationen“ zu tun. Dieser Ansatz, der von Huberto Maturana und Francisco Varela in ihrer Forschungsarbeit „Der Baum der Erkenntnis“ vertreten wurde, ist der Kern einer der Ideen des „Future Mind“- des schöpferischen Geistes. Und geht heute in quantentheoretische Modelle von Zeit und Wirklichkeit ein.
Miriam Kyselo: Enaktivismus. In: A. Stephan, S. Walter (Hrsg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. Stuttgart, J.B. Metzler 2013, S. 197–202.
Einer der Ursprünge der modernen Zukunftsforschung geht auf eine schräge Truppe zurück, die Anfang des 20sten Jahrhunderts die Zukunft als Ideologie und Revolutionspathos benutzten. Die FUTURISTEN rund um den Italiener Filippo Tommaso Marinetti traten kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Italien und Frankreich und anderen europäischen Ländern in großen Sälen auf und hielten spektakuläre Vorträge zur „radikalen Abschaffung des Alten!“. Das Alte, die Tradition, galt den Futuristen als eine Art Verschwörung der Eliten zur Sabotage des Fortschritts. Es ging um die heroische, rasende Beschleunigung, um allumfassenden Umsturz und totale Auflösung des Bestehenden (Der Bohemien und Lebemann Marinetti wollte sogar die PASTA abschaffen, weil sie die Italiener faul und vergangenheitshörig machte; wenigstens hatte er manchmal Humor).
„Zukunft“ war für diese Aktionsgruppe, die zunächst dem Dadaismus und den Anarchisten nahestand, später aber immer mehr ins Faschistische driftete, Fetisch und Utopie zugleich. Die Futuristen gerierten sich als Umstürzler, die den Fortschritt als „Genuss der Beschleunigung“ empfanden. Einschließlich der dazugehörigen Gewalt. Folgerichtig landeten sie in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, den sie als „Orgie der rasenden Veränderung“ feierten. Von dort aus kamen sie mittellos und als Krüppel zurück, wenn überhaupt.
Merke: Das rasende Zukünftige kann leicht ins Reaktionäre kippen …
In der Logik des Silicon Valley drückt sich dieser „Cult of the New“ heute in einem Satz „Move fast and break things!“ aus: Dieser Spruch von Marc Zuckerberg ist eine Art Superparole des „Akzelerationismus“, einer hyperkapitalistischen Auffassung der Zukunft, in der Technologie als das Allheilmittel für alles und als Treiber einer Art Hyper-Evolution gesehen wird, in der nur die ganz Starken und die ganz Schnellen überleben. Vieles daran ähnelt den Auftritten von Elon Musk und Peter Thiel – weg mit dem Alten, Hinfälligen, Schwachen! Auf zum Mars und zur Unsterblichkeit – auch wenn alle Raketen auf dem Weg dahin explodieren!
Ursula K. Le Guin, die einzige Frau im Olymp der Zukunfts-Autoren, formulierte einmal in einem „Rant on Technology“: „Wir wurden so desensibilisiert durch einen 150-jährigen technischen Heldentums-Rausch, dass wir glauben, man könnte nichts, was weniger komplex ist als ein Düsenbomber oder ein Computer, „Technologie“ nennen. In Wirklichkeit ist Technologie nichts anderes als die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit der physischen Realität umgeht.“
Die amerikanischen Publizisten Lee Vinsel und Andrew Russell vertreten in ihrem Buch „The Innovation Delusion“ (Der Innovations-Wahn) einen interessanten Gegen-Ansatz: Der rasende Kult des IMMER-NEUEN, so die Autoren, hat unsere Gesellschaft mental ausgelaugt und ökonomisch deformiert. Da alle Investitionen immer nur in spektakuläre (meist digitale) Super-Hypes gelenkt wurden, die vor allem den Sinn verfolgten, neue Märkte monopolitisch zu besetzen, haben wir die tragenden Strukturen der Zivilisation vernachlässigt. Die Idee der ERHALTUNG ist völlig in den Hintergrund geraten, deshalb sind wir jetzt mit bröckelnden Infrastrukturen und kaputten Brücken, maroden Krankenhäusern und Schulen konfrontiert. Wir sind umgeben von technischen Systemen, die immer fragiler und fehleranfälliger werden. Die Autoren plädieren für einen „Maintenance Mind“, ein „Bewusstsein der Wartung und Erhaltung“, in dem das Verhältnis zwischen Kultur, Dauer und Technologie wieder in ein sinnvolles Gleichgewicht gebracht wird. (Siehe auch die Initiative meines amerikanischen Zukunftsforscher-Freundes Stewart Brand: „The Maintenance Race“)
Wer muss dabei nicht an den Hype der Künstlichen Intelligenz denken? Und an die inzwischen fad und abgeschmackt wirkenden Parolen vom „Schneller Scheitern“, dem heiligen Glauben an die Tugend des Geldverbrennens durch Start-ups und Cybergeld? Obwohl es vielleicht viel wichtiger wäre, die REALE, physische, existierende, dauernde Welt am Laufen zu halten – und graduell zu verbessern.
Manches ist uralt und beständig.
Es entwickelt sich auf seine eigene Weise.
Vieles Bewährtes ist erhaltenswert.
Die Zukunft entsteht in intelligenten Synthesen.
Neues und Altes, klug kombiniert, ergeben das BESSERE.
Oder wie Steward Brand auch das System der „Mehrschichtigkeit der Veränderung“ (Pace-Layer-Modell) beschreibt:
Es ist sinnvoll und realistisch
Sich eine Zivilisation als etwas vorzustellen,
das gleichzeitig in verschiedenen
Geschwindigkeiten funktioniert.
Mode und Handel verändern sich schnell.
Natur und Kultur ändern sich langsam.
Infrastruktur und Politik begleiten beides
in einem mittleren Tempo.
Aber weil wir uns vor allem auf die sich
schnell verändernden Elemente konzentrieren,
vergessen wir die wahre Kraft
in den Sphären der langsamen, tiefen Veränderung.
Was ist „Humanistischer Futurismus“?
Die Zukunftsforschung hat eine verzweigte Geschichte, in der sie sich immer wieder neu erfunden und umbenannt hat. Ihre Wurzeln reichen bis in die antiken Orakel, die gar nicht so sehr „orakelten“, sondern kluge Rück-Fragen an ihre Kundschaft stellten. Und dadurch Weisheit erzeugen wollten. In den Denk-Zirkeln der frühen Humanisten seit dem 14. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, bestand das Zukünftige in der Hoffnung auf den Austritt des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Daraus wiederum entfaltete sich die Grundidee des „Humanismus“, der den Menschen als universelles Wesen begreift, das in der Lage ist, Selbstverantwortung und Zukunftsformung zu übernehmen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen neue Denkansätze hinzu. Die „Kybernetik“ wurde als Planungs- und Risiko-Wissenschaft erfunden: Zunächst ging es um die Strategie möglicher Atomkriege (Herman Kahn und der Think Tank der Rand Corporation). Dann erweiterte sich das Feld in Richtung der Systemwissenschaften. In den 90er Jahren kam die Trendforschung auf, die sich mit der Semiotik der Gesellschaft beschäftigte, aber ziemlich schnell vom Marketing absorbiert wurde. Zukunftsforschung führte später in die Strategieberatung mit Megatrends und Szenarien. All das waren notwendige und sinnvolle Ansätze. Aber sie hatten eine bestimmte Zeit. Einen bestimmten Kontext. Heute geht es wieder darum die Zukunftsforschung als Universal-Wissenschaft zu einer neuen Ganzheitlichkeit zu führen. Sie auf ihre universalistischen, humanistischen Elemente zurückzuführen.
Humanistischer Futurismus überwindet den zu engen Blickwinkel von Technologie und Ökonomie. Ohne ein Verständnis des Sozialen, des Gesellschaftlichen, bleibt das Technologische entfremdet. Ohne Verbindung zu den echten menschlichen Bedürfnissen verselbstständigt sich die Ökonomie und wird destruktiv.
Humanistischer Futurismus beschäftigt sich mit der Wechselwirkung von INNERER und ÄUSSERER Zukunft (Bewusstsein UND Welt). Wie wirken Visionen, Utopien, Zukunfts-Narrative, mächtige MEME, auf die Wirklichkeit zurück – und gestalten in Form der Futurogenese die Realität?
Humanistischer Futurismus sieht den Wandel als ständigen SYNTHESEprozess. Darin spiegelt sich Hegels Dialektik, aber auch das, was der Renaissance-Gelehrte Giambattista Vico die „corsi e ricorsi“ nannte, die „Flüsse und Rückflüsse“ der Geschichte. Trends und Gegentrends, Aufstieg und Dekadenz, Turbulenz und Neubeginn …
Humanistischer Futurismus entwickelt ein konstruktives Verhältnis zum Phänomen der „Krise“. Krise bedeutet, dass das Alte und das Neue in eine Dissonanz getreten sind, das die „Frames“ unserer Weltwahrnehmung nicht mehr mit den Realitäten zusammenpassen. Das macht Angst, aber Angst kann auch ein Treiber von Veränderung werden.
Humanistischer Futurismus ist dem neuen Langzeitdenken verpflichtet. Er verabschiedet sich vom „rasenden Jetzt“, von der Verengung aller Wahrnehmung auf die Gegenwart. Es überwindet den Akzelerationismus, das utopistische Beschleunigungs-Denken. Und versucht, die langfristigen Perspektiven der menschlichen Existenz zu erforschen – auch diejenigen Perspektiven, die über unser persönliches Leben hinausreichen.
Humanistischer Futurismus funktioniert INTEGRIEREND. Wir erforschen die Zukunft/das Zukünftige nicht nur in der einseitigen Perspektive des Technologisch-Ökonomischen. Sondern in den Verbindungen und Schnittmengen zwischen den vier „Hauptachsen“ des Wandels: Technologie, Kultur (Gesellschaft), Ökonomie und Bewusstsein.
„Es ist dringend notwendig, dass wir die Kräfte und Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen der Natur-, Techno-, Geistes- und Sozialwissenschaften bündeln und auf die alles entscheidende Frage fokussieren,
wie wir als Menschen sind und wer wir sein wollen.”
Markus Gabriel, Philosoph
„When we think about how the future might be different, we better understand how we might be different too.“
Jane McGonigal, Futuristin
„A trend is a trend is a trend
But the question is – will it bend?
Will it alter its course
through some unforeseen force
and come to a premature end?“
Alexander Cairncross
Manchmal knickt das Fernrohr, mit dem wir in die Zukunft schauen. Vielleicht ist es dann zu lang und zu schwer geworden …
Obwohl – schaut man mit großen Teleskopen nicht sowieso eher in die Vergangenheit?
Wie war das nochmal mit dem SEGWAY, dem Wundergerät der mobilen Revolution? Ein Wunderwerk der Technik, das sich wunderbar zum BEING-Transport eignete. Warum floppte es trotzdem?
Was wäre, wenn der Digitale Kaiser gar keine Kleider anhätte, aber ständig neue WUNDER verkünden würde, während seine Untertanen und Adepten ständig an den Gimmicks der Künstlichen Intelligenz herumfummeln?
In der typischen REGNOSE-Position blickt das FUTURE BEING aus der Zukunft in seine eigene Vergangenheit zurück – zum BEING DER GEGENWART.
Der PROBLEM-TROLL versucht dem BEING einzureden, es ginge sowieso alles nicht, schon gar nicht mit der Zukunft … Erleuchtete Ignoranz ist die einzige Möglichkeit, dem Monster zu entkommen.
Vermeiden Sie sie die MEINERITIS. Meinungen sind zukunftsfeindlich, weil sie immer nur einen Teil der ganzen Wahrheit abbilden. Meinungskriege sind narzisstisch – als Zukunfts-Being sollte man sie meiden.
Wozu, werde ich manchmal gefragt, ist der Begriff ZUKUNFT überhaupt noch nützlich? In einer Zeit, in der es ja eigentlich gar keine Zukunft mehr zu geben scheint. Wo doch alles immer mehr „den Bach runtergeht“, sich die Krisen vor uns auftürmen und Verwirrungen und Ver-Zweiflungen über die Welt, die Zustände, sich häufen?
Früher wurde das Feld der Zukunft von Fortschritts-Utopien oder Religionen besetzt. Sozialismus und Christentum boten verlässliche Orientierungen an, mit denen man die Schrecken der Gegenwart überbrücken konnte: „Später“ würde alles besser werden. Heute ist der Blick in die Zukunft durch millionenfache Meinungen versperrt, die irgendetwas vermuten, die verängstigen, übertreiben, moralisieren. Wir hauen uns unentwegt Meinungen um den Kopf, und dabei verlieren wir die mögliche Zukunft aus den Augen.
Die Zukunft ist wie ein scheues Reh, das vor dem Lärm der rasenden Gegenwart flieht.
Wer eine Meinung hat, erfährt nichts mehr. Er schließt sein kognitives System und koppelt sich von der Wirklichkeit ab. Sieht die Dinge nur noch durch einen Tunnel, einen „Frame“, der immer enger wird.
Was aber wäre das Gegenteil von Meinung?
Weisheit.
Weisheit ist, wie ein bekannter Philosoph einmal formulierte, eine Mischung aus Gelassenheit, Empathie und Voraussicht. Man könnte noch die Toleranz hinzufügen. Die Großzügigkeit.
Die Weitsicht.
Und die Zuversicht.
Wenn ein Mensch weise ist, dann strahlt er eine ganz bestimmte Zukunftsenergie aus, die über seine eigene Existenz hinausreicht. Meine Großmutter zum Beispiel – die zwei Weltkriege erlebt und ihre soziale Existenz verloren hatte, aber immer noch voller „Possibilismus“ war („Wird schon schiefgehen!“) – hatte diese Energie. Ich habe sie heute noch in mir. Die meisten Menschen haben dieses innere Energiefeld. Aber in unserer rasenden Streitgesellschaft, in der es immer nur um die schrillsten Töne und die aufgeblasensten „Sager“ geht, wird sie verschüttet.
Weisheit ist eine stille Macht. Sie kann Kriege beenden, fatale Entscheidungen vermeiden oder der Zukunft einen neuen Sinn geben. Wer heute eine Rede des US-Präsidenten Biden hört (und wirklich ZUHÖRT – wer macht das schon noch?), kann Weisheit spüren. Biden verknüpft die Phänomene zu konstruktiven Zusammenhängen, er macht Hoffnung, vermeidet, wo immer es geht, Gegnerschaften. Er mahnt zur Vorsicht, zur Weitsicht, wie jetzt gerade im Israel-Hamas-Krieg. Er gesteht Fehler ein, die die Amerikaner gemacht haben. Das ist die wirkliche Größe der Weisheit, dass sie sich selbst einbezieht in die Erkenntnis der Fehlbarkeit.
Weisheit bedingt zweierlei: Lebenserfahrung und Selbsterkenntnis. Dazu gehört die Einsicht, dass nicht alles, was kommt, kontrollierbar und voraussagbar ist, sehr wohl aber „fühlbar“. Der weise Mensch ist mit der Zukunft verbunden. Er verirrt sich nicht in den Affekten und Emotionen der Gegenwart. Er weiß, dass die Welt komplex ist, aber eben auch dynamisch – dass Dinge sich ändern können, Wandel möglich ist.
Dass das Langfristige über das Kurzfristige siegt.
In den USA ist eine neue Zukunfts-Bewegung entstanden, das „Langzeitdenken“ oder der „Longtermism“ (siehe Kolumne 81: „Die Uhr des Langen Jetzt“). Diese Bewegung versucht, die rasende Kurzfristigkeit, in der wir unsere Gegenwart konsumieren, durch eine neue Beziehung zur Zukunft zu ersetzen. Im Langzeitdenken fragt man nicht mehr: „Was BRINGT uns die Zukunft?“ Sondern: „Was SCHULDEN wir der Zukunft?“ Man sucht nicht mehr nach Trends, denen man sich anpasst. Sondern nach den Zusammenhängen, in denen wir leben und handeln. Was bedeuten unsere Handlungen, unsere Entscheidungen für die Umwelt, die Menschen, die nach uns leben? Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden wieder verknüpft und aufeinander bezogen.
Um all das ein bisschen näher zu erläutern, und unser Verhältnis zur Zukunft auf neue Beine zu stellen, hat sich ein neues Experiment entwickelt. Das „FUTURE:PROJECT“, ein Think Tank für einen Humanistischen Futurismus: THE FUTURE:PROJECT
Zum Beginn dieser Expedition habe ich mit meinem Zeichner-Talent Julian ein Buch herausgebracht, das von den „Zehn Zukunfts-Weisheiten“ erzählt. Man kann es hier bestellen: www.thefutureproject.de
Geht es Ihnen auch so? Dass Sie es kaum noch aushalten können, was derzeit mit den Grünen geschieht? Da gab es einmal eine Partei, die Hoffnung auf Veränderung machte. Die für die großen Zukunfts-Themen stand, die uns alle betreffen und bewegen: Umwelt, Menschenrechte, der Idee eines anderen Wohlstands als das Immer-mehr der Konsumgesellschaft. Ist so eine Partei nicht unbedingt nötig, ja existentiell für die Zukunft, gerade in unserer krisenhaften und welterhitzten Zeit?
Und haben die Grünen nicht viele Dinge auch ziemlich gut gemacht? Haben sich von alten Dogmen verabschiedet, sind pragmatisch geworden, in vieler Hinsicht doch ziemlich erwachsen?
Und jetzt dieses Desaster.
Die Grünen sind in eine Zwickmühle geraten, aus der sie nicht mehr herauskommen. Grüne Politiker werden in Wahlkämpfen nicht nur angegrölt, bespuckt und inzwischen auch mit Wurfgeschossen beworfen, sie werden gehasst, in unfassbarer Weise beleidigt und erniedrigt. An ihnen kann sich inzwischen eine breite Phalanx von Populisten, von den Neuen Nazis über die populistischen Teile der CDU/CSU und FDP bis zu den Neo-Marxisten à la Wagenknecht, abarbeiten. Einschließlich der Medien, die genüsslich das Lied von den Grünen Versagern mitsingen. Nicht nur an jedem Stammtisch, auch in jeder Talkshow regiert die antigrüne Häme.
Das hält niemand auf die Dauer aus.
Das geht längst an die Existenz.
Aber wie kommt man da raus?
Ich fürchte, dass das auch nicht mit der Methode Habeck funktionieren wird. Es ist bewundernswert, wie beherrscht und demütig sich der Wirtschaftsminister zeigt, wie er souverän jedes Beleidigtsein, jede Gekränktheit von sich weist. Aber das grenzt fast an eine Art Unterwerfungserklärung an einen parasitären Journalismus, der jede Schwäche bis zur Neige ausbeutet.
Politik handelt eben auch von Macht. Von Autorität in einem positiven Sinne. Man manövriert sich früher oder später ins politische Nirvana, wenn man immer nur seine verwundbaren Stellen zeigt.
(Ich würde übrigens genauso argumentieren, wenn es sich um PolitikerInnen der SPD, FDP oder CDU handeln würde. Ich bin demokratischer Wechselwähler und habe eine Grundsympathie gegenüber demokratischen Politikern.)
Wie aber ginge es anders?
Schauen wir nach Frankreich. Dort hat Macron kürzlich ein „ökologisches Beschleunigungsprogramm“ verkündet. Das neue Dekarbonisierungs-Gesetz hat drei Punkte: „Wir werden in Frankreich pro Jahr eine Millionen Wärmepumpen bauen und mindestens eine Million Elektroautos.“ „Wir werden ab nächstem Jahr Elektroautos für eine monatliche Leasinggebühr von 100,- Euro bereitstellen.“ „Wir werden die Klimaziele früher erreichen als andere Länder und dabei zum Technologieführer werden.“
„Ökologie à la française“: Das ist so ziemlich das Gegenteil des deutschen Heizungsgesetzes. Macron appelliert sowohl an den Innovations-Sinn der Bürger wie an den Nationalstolz. Je weniger fossile Energien Frankreich braucht, desto souveräner wird das Land. Auf diese Weise entsteht ein konstruktiver Sog des Stolzes, und sogar eine Dynamik des Neides. Man möchte dem Nachbarn nicht alleine seine Wärmepumpe gönnen. So wird die Klimawende zu einer Bewegung, bei der man gerne mitmachen will. Weil man sich sonst blöd und rückständig vorkommt.
Man kann jetzt natürlich meckern, dass Frankreich Atomkraftwerke hat (Deutschland hat dafür sehr viel mehr Erneuerbare). Oder irgendetwas anderes ideologisch beanstanden. Man kann aber auch verstehen, worum es eigentlich geht: um einen „semantic shift“, einen Wandel der politischen Semantik. Macron hat das Desaster der deutschen Grünen ebenso intensiv studiert wie den Aufstand der Gelbwesten in seinem eigenen Land. Er hat verstanden, wie man „Affektive Polarisierung“ – ein Begriff des Soziologen Steffen Mau – möglichst verhindern kann. Durch eine kluge Ermöglichungs-Politik, die „von vorne“, aus der Zukunft heraus, motiviert.
Erinnern wir uns an Zeiten, in denen die Grünen erfolgreich waren. Damals waren sie auf ihre eigene Art und Weise „populistisch“. Aber positiv populistisch. Der Wandel, den sie verkörperten, war mit Zugewinn, Verbesserung, Hoffnung verbunden. Let’s do it! Es gab eine Veränderungsbereitschaft in der Gesellschaft, die von den Grünen aufgegriffen und verstärkt wurde.
Diese Veränderungsbereitschaft gibt es heute noch. Allem rechten Getöse zum Trotz.
Wie konnte es zum Beispiel gelingen, dass Schwule heute weitgehend in der Gesellschaft angekommen sind? Dass es schließlich die CDU war, die die Gesetze zur „Ehe für alle“ durchsetzte?
Um die Jahrtausendwende vollzog die Schwulenbewegung (zunächst in den USA) einen Strategiewechsel. Statt weiter mit wütenden Protesten auf „Rechte“ und „Akzeptanz“ zu pochen, also die Gesellschaft mit moralischem Druck zu konfrontieren („Liebt uns gefälligst!“), codierten die Aktivisten die Bedeutungskontexte um. Große Anzeigen erschienen in den Medien, in denen schwules Leben als Beziehungsleben gezeigt wurde. Mit der Möglichkeit zur Treue und Verbindlichkeit, wofür das Recht auf Hochzeit stand. Auf diese Weise war Homosexualität plötzlich nicht mehr das Bedrohliche, Fremde, das Rechte provokativ „einforderte“, sondern das „Familiäre“, Vertraute, das Rechte verdiente. Es entstand ein Inklusions-Code: Wir sind so wie ihr (oder wie ihr sein wollt). Wir sind Teil eines größeren, gemeinsamen Wertes.
Dieses recoding ist das Geheimnis von Politik im 21. Jahrhundert.
Der Grüne und der Blaue Code
Umwelt- und Ökologiethemen, gerade der Diskurs über den Klimawandel, sind heute immer noch in einem „Schuld-Moral-Kreislauf“ gefangen. In einem Deutungsmuster, in dem Kategorien wie Verlust, Mangel, Verzicht, Angst dominieren. Das führt geradewegs in Deutungs- und Kulturkriege, die dem bösartigen Populismus in die Hand arbeiten.
Wir haben uns deshalb in der systemischen Zukunftsforschung bemüht, einen anderen „Zukunfts-Code“ für das Ökologische zu entwickeln. Wir nennen diesen den „Blauen Frame“ (siehe die Studie: DIE KLIMA-REGNOSE). Im Gegensatz zum GRÜNEN Frame, also dem Rahmen der „Ökologie als Verlust“, wird hier die ökologische Wende als ein MÖGLICHKEITSraum dargestellt.
Die postfossile Wende wird nicht als Notoperation zur Verhinderung des Untergangs dargestellt, bei der wir alle „draufzahlen“ müssen, sondern als Erweiterung menschlicher Möglichkeiten. Die Farbe Blau steht für Vision, für Technologie, Wasserstoff, die Atmosphäre der Erde, die Hoffnung. Für den Wandel sind dynamische Technologien, aber AUCH intelligente Systeme nötig. Das Resultat — eine ökologische Wende — ist nicht Mangel, sondern Fülle, Schönheit, Fortschritt.
Michael Braungart, ein Pionier der zirkulären Wirtschaft, hat den Begriff der „Intelligenten Verschwendung“ geprägt. Auch hier werden zwei scheinbar paradoxe Kategorien zu einer neuen Sinnhaftigkeit zusammengefügt. Wenn wir es richtig machen in der ökologischen Wende, wird es uns an nichts mangeln, weder an Materie, Rohstoffen noch an Energie. Die Sonne bringt uns jeden Tag eine Million Mal mehr Energie auf die Erde, als wir jemals verbrauchen können. Eine Kreislauf-Ökonomie ist eine Ökonomie der Üppigkeit. Der Fülle. Des WAHREN Wohlstands. Wir können gar nicht blöd genug sein, diese Möglichkeiten nicht zu ergreifen!
Die Wurst-, Fleisch- und Fossil-Propagandisten sehen in diesem Bedeutungs-Kontext plötzlich uralt aus. Und das fossile Genörgel der FDP wirkt irgendwie peinlich.
“
Bislang besteht der Erfolg der politischen Ökologie darin,
die Menschen in Panik zu versetzen, und sie gleichzeitig aus Langeweile zum Gähnen zu bringen. … So erklärt sich die Handlungslähmung, die sie oft hervorruft.
Bruno Latour, „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“
Natürlich kann man mit solchen Umdeutungen keinen eingefleischten reaktionären Benzinfan überzeugen (und auch keinen schuldgetränkten Öko). Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dem Wandel eine neue Sprache zu verleihen, in der er wieder attraktiv wird.
Die Grenzen des Moralismus
Natürlich versuchen die Grünen bereits, neue Allianzen zu schmieden, in denen Ökologie und Ökonomie konvergieren können. Aber dieser Versuch wird immer wieder in die Wirkungslosigkeit getrieben, weil die Grünen in ihrer Mehrheit immer noch im idealistischen MEM ticken. Sie glauben in ihrer Mehrzahl immer noch, dass Wandel durch Einkehr und die Durchsetzung moralischer Prinzipien entsteht. Deshalb wirken sie irgendwie verklemmt. Sie drucksen herum, und bei den wirklich großen Herausforderungen kommen sie immer zu spät.
Auch hier die Frage: Wie könnte es anders gehen?
Nehmen wir das Beispiel Dänemark. Dort hat die Premierministerin Mette Frederiksen nach Jahren der Krise der Sozialdemokratie und dem Wachstum der Rechtsradikalen eine neue Ausländerpolitik durchgesetzt. Ein Urteil ist schnell gefällt: Das ist „rechts“ und unmoralisch. Kurze Aufenthaltsfristen für Asylsuchende, kurze Ausweisungsfristen, Bildungszwänge für Ausländerkinder, Moderation von gettohaften Quartiersentwicklungen und so weiter. Aber ist das wirklich die ganze Wahrheit? Wenn man ein wenig genauer hinschaut, ist es vielleicht ganz anders. In der Tat ist das deklarierte Ziel: weniger Immigration. Aber gleichzeitig: bessere Integration. Es gibt Verstärkungen von Integrationsleistungen, Bildungsinitiativen, bessere Wohnverhältnisse, sozialpolitische Unterstützung etc.
Die Dänen sind keineswegs rassistisch und inhuman geworden. Sie wissen auch, dass moderne Staaten ohne Immigration ihre Wirtschaft gar nicht aufrechterhalten können. Aber die dänische Regierung hat in langen politischen Kämpfen verstanden, dass chaotische Immigrationen, in denen Kriegsflucht, Wirtschaftsflucht und mafiöse Strukturen sich vermengen (was schließlich zu mörderischen Gangkriegen führen kann wie derzeit in Schweden), den Sozialstaat und die Demokratie gefährden. Putin macht längst erfolgreich Destabilisierungspolitik mit der Not-Migration. Soll man ihn einfach gewähren lassen? Die dänische Politik versteht, dass eine unmoralische Lücke in der Migration entsteht, die nicht nur den Rechtsradikalen Tür und Tor öffnet. Sie handelt nicht unmoralisch, sondern verantwortungsethisch.
(Wer sich mehr für das Entstehen dieser „neoethischen“ Politik interessiert, dem empfehle ich die fantastische Serie BORGEN, die die Evolution der skandinavischen Politik in den letzten 20 Jahren schildert).
Mal ehrlich: Was können wir ernsthaft gegen das Argument von Giorgia Meloni sagen, dass die Flüchtlinge im Mittelmeer bitte von jenen Staaten übernommen werden sollen, deren Flaggen die organisierten Rettungsschiffe tragen?
Die Grünen werden sich in dieser turbulenten Welt neu erfinden müssen. Das ganze politische Parteiensystem krempelt sich derzeit um. Die Kategorien von „links“ und „rechts“ diffundieren in atemberaubender Weise. Die CDU wird sich, so wie es aussieht, in einen populistischen und einen konservativ-liberalen Flügel zerlegen, wie die Christdemokraten in anderen Ländern es bereits getan haben. Neue Partial- oder „Bewegungsparteien“ werden aufsteigen und wieder absteigen. Diese „demokratische Turbulenz“ macht uns Angst, aber sie muss keineswegs in den Autokratismus oder die Wiederkehr des Faschismus führen. Demokratien sind resilienter als wir glauben. Sie können, ja sie müssen sich dauernd wieder(er)finden.
Ich würde mir wünschen, dass die Grünen zu diesem „Projekt demokratische Zukunft“ dazugehören. Vielleicht müssen sie dann gleich ganz auf die europäische Ebene wechseln. Oder sie müssen sich vom „Grün“ verabschieden, denn als „One-Issue“-Partei haben sie längst ihre Schuldigkeit getan. Vielleicht können sie in einem anderen „frame“ zu ihrer konstruktiven Energie zurückfinden. Zu ihrem Witz, ihrem Charme, ihrer zauberhaften Energie des Wandels – die Welt, Gesellschaft und Politik neu zu erfinden, lohnt sich immer. Zwickmühlen löst man nur von der Zukunft aus, auf die man sich einlässt.
Gibt es eine andere Ökonomie? oder: Aufbruch ins Symbiozän
Das Vorwort von Matthias Horx zum Buch von Oona Horx Strathern „Kindness Economy”
Existiert eine Alternative zum »Kapitalismus«? Diese Frage spielte in meiner Jugend eine wichtige, geradezu existenzielle Rolle. In meiner Universität tummelten sich ungefähr 20 marxistische Gruppen: Marxisten, Leninisten, Trotzkisten und alle ihre bizarren Abspaltungen, die sich auf irgendeinen ganz besonderen oberschlauen Theoretiker bezogen. Sie bekämpften sich wütend gegenseitig, bezichtigten sich unentwegt als Verräter, marschierten aber stets gemeinsam gegen den Kapitalismus.
Gottseidank hat es damals mit der Abschaffung des Kapitalismus nicht so ganz geklappt. Denn immer dann, wenn man den Kapitalismus abschaffte, kam sofort die nächste Diktatur, das nächste brutale Regime zum Vorschein. Bis heute ist das so, und es scheint nicht aufzuhören.
Irgendwann haben wir verstanden: Abschaffen alleine bringt nichts. Es ist sogar ziemlich dumm. Aber irgendwie ist die Sache mit dem »Kapitalismus« nie so ganz geklärt worden. Und heute wird sie wieder heiß diskutiert.
Ich setze »Kapitalismus« immer in Anführungsstriche, weil es sich um eine Worthülse handelt, mit der man Unheil anrichten kann. Was ist das eigentlich? Die »Herrschaft der Wallstreet«, wie es jetzt die ganz Linken und ganz Rechten im gleichen Tonfall herbeten? Die Börsenspekulation,
die 2009 zur größten möglichen Bankenkrise führte? Die Tatsache, dass Mieten (auch mal) steigen? Der Eigentumsbegriff? Man kann sich fürchterlich in solche Reizworte hineinsteigern und dadurch die Sicht auf die Welt verengen. Sind die eher sanften Sozialstaaten des Europäischen Nordens »kapitalistisch«? Gibt es nicht auch so etwas wie eine ausgleichende, kreative Marktwirtschaft? Oder regiert überall nur der finstere »Neoliberalismus«, der sein blutiges Haupt immer wieder aufs Neue erhebt?
Ist Kapitalismus die Herrschaft der »bösen Ökonomie«? Und wie verhält sich beides in Richtung Zukunft?
Dieses Buch von Oona, meiner klugen und zukunftsgewandten Frau, stellt eine interessante These in den Raum der Möglichkeiten: Könnte, so fragt dieses Buch, eine Ökonomie auch freundlich sein? Auf menschlichen Begegnungen und Verbindungen basieren? Könnte Ökonomie eine Art Evolution durchlaufen, in der sie ihre innere Logik verändert?
Unmöglich, sagt die Phalanx derjenigen, die die Welt in ordentliche Kästen und Ideologien eingeteilt haben. Ökonomie muss immer kalt, starr, funktional, ausbeuterisch sein. Das ist ihr Wesen. Sie muss unterdrücken und ausbeuten und »ungerecht« sein, sonst gäbe es ja kein Wachstum und keinen Wohlstand…
Wie sagte der unlängst verstorbene weise Intellektuelle Hans-Magnus Enzensberger so schön?
»Geld allein macht nicht unglücklich.«
Wenn man mich fragen würde, was am meisten zu einer besseren Zukunft beitragen könnte dann würde ich zwei Wörter wählen. Oder besser drei: Freundlichkeit, Zugeneigtheit, Respekt.
Alle drei Begriffe sind im englischen Begriff »Kindness« vereint; ich beneide meine Frau immer um ihre englische Muttersprache, wo Komplexes und Emotionales ungleich eleganter ausgedrückt werden kann.
Ist es nicht das, was uns in der überheizten, überreizten, digitalbeschleunigten, zur Atomisierung neigenden Erregungs-Gesellschaft unserer Tage am meisten fehlt? Was, wenn man so will, einer riesige Marktlücke, die auch eine Gesellschafts-Lücke ist? Zu-Neigung. Das Interesse am anderen. Die Kraft, und Kompetenz, sich miteinander zu beschäftigen, aufeinander zuzugehen, konstruktiv zu kooperieren statt sich ständig anzuschreien…
»Märkte sind Konversationen«, lautete vor nahezu 20 Jahren, am Beginn der digitalen Umformung, der Titel des »Cluetrain«-Manifestes, ein von Digital-Idealisten veröffentlichter Zukunfts-Aufruf. Man sah damals im Potenzial des Digitalen eine neue humane Marktwirtschaft aufdämmern, in der Menschen, Kunden, Mitarbeiter neue emanzipative Rollen einnehmen würden. Seitdem hat es viele Desillusionen gegeben. Das Digitale hat Menschen weniger zusammengeführt als getrennt, es hat dem Turbo-Kapitalismus (lassen wir hier mal die Anführungsstriche weg) eher noch einen Turbo draufgesetzt.
Aber gleichzeitig ist in den letzten Jahren etwas geschehen, was wir weitgehend ignorieren. Oder erst in der Corona-Zeit langsam erahnt haben: Es verändert sich etwas Substanzielles in der Arbeitswelt, von innen heraus, in den Firmenkulturen. In den neuen, jüngeren und weniger männlichweißen Führungsetagen. Neue Generationen stellen den »Old Deal« infrage, und zwar von unten und von oben. Die alten Arbeitsformen des Industrialismus, die geschlechtergetrennte Nine-to-five-Logik, bricht auf. In gewisser Weise vertauschen sich sogar die Machtpositionen im Herzen der Ökonomie: von Kapital zu Arbeit. Die wahre knappe Ressource der Zukunft ist die menschliche Arbeitskraft. Aber nicht mehr im Sinn funktionaler Einpassung in funktionsteilige Maschinen. Sondern als Können und Wollen.
Das, was man »Arbeitsethos« nennt, verändert sich von der reinen Leistungsbereitschaft zur Sinnforderung. »Was hat dieses Unternehmen mir zu bieten?«, heißt es heute. Statt »Wo bekomme ich noch einen Arbeitsplatz?«.
Im Zentrum dieser beginnenden Transformation steht die größte ökonomische, technologische, politische Herausforderung unserer Epoche: die »Blaue Revolution« – der Übergang von einer auf fossilen Rohstoffen und Ausbeutung der Ressourcen (auch der Humanressourcen) basierenden Wirtschaft zu einem Zivilisationsmodell des Ausgleichs.
Die Kindness-Ökonomie ist eine Wirtschaftsweise, in der das Verhältnis eines »Unternehmens« (ob klein, groß, Mittelständler oder Einzelunternehmer) zur Natur, zur Gesellschaft und zur Zukunft eine viel größere Rolle spielt als im alten industriell-fossilen Modell. Früher wurden gesellschaftliche Themen in den Hinterzimmern der Chefetagen besprochen. Heute gibt es keinen CEO mehr, der sich nicht zu den Ver-Antwortungen seines Unternehmens öffentlich verhalten muss. Wofür steht das Unternehmen? Was sind seine Werte? Was hat es vor, um Antworten auf die Gegenwartskrisen zu finden? Was sind seine Lösungsangebote?
Kindness-Ökonomie benennt eine Wirtschaftsweise, in der man den Kunden, oder Konsumenten, nicht nur als »Verbraucher« wahrnimmt. Sondern auch als Freund. Den man womöglich sogar kritisieren darf, ja muss. Indem man ihm zu Beispiel ein Produkt anbietet, das sinnvoller ist als das, was er gewohnt war. Nachhaltiger. Schöner nicht nur im Sinne der Verpackung. Intelligenter im Zukunfts-Kontext.
Man spürt genau, ob ein Unternehmen im Sinne dieser neuen Verantwortung tickt. Oder ob es nur trickst. Nebelkerzen verschießt. Aber dabei auf dem alten Prinzip des »Mehr um jeden billigeren Preis« (statt besser) beharrt. Mit anderen Worten: sich der Transformation, die längst begonnen hat, verweigert.
Unsere Aufgabe als Zukunftsforscher-Paar und Zukunfts-Familie sehen wir darin, Möglichkeitsräume zu eröffnen und zugänglich zu machen. Dabei geht es auch um Begriffe, die uns die Zukunft entschlüsseln können . Wir leben im Anthropozän. In der »Herrschaft des Menschen« über den Planeten. Oona hat für das Zeitalter, das dahinter auf uns wartet, den Begriff »Symbiozän« gefunden. Das Wort handelt von einem anderen Denken, Fühlen und Handeln. In Zusammenhängen statt Spaltungen. In Möglichkeiten statt »Problemen«. In Verbindungen und konstruktiver Zuversicht. Ein bisschen (irischer) Humor ist unerlässlich. Und eine ordentliche Portion Gelassenheit. Versuchen Sie es einmal. Es wirkt. Es geht ganz leicht. Man muss nur einfach damit anfangen.
Kann man über oder MIT Science-Fiction Zukunftsforschung betreiben? Gibt es BEZIEHUNGEN zwischen den visionierten Welten der Sci-Fi und inspirierenden Denkmodellen der Zukunfts-Prognostik?
Wenn Sie das irgendwie interessiert, dann empfehle ich Ihnen die Science-Fiction-Serie FOUNDATION, die gerade bei Apple-TV läuft. In diesem Epos, das sich über tausende von Jahren erstreckt – ein unfassbar verschachteltes Konvolut von Meta-Historie, das gegenüber Star Trek bieder wirkt -, spielt ein Zukunftsforscher die Hauptrolle. Hari Seldon ist ein Wissenschaftler, der „die Zukunft“ voraussagen kann. Alle Informationen dazu hat er in einem Art Zauberwürfel abgespeichert, dem PRIME RADIANT. Man ÖFFNET den Prime Radiant, der nichts anderes ist als ein Quanten-Hypercube (ein vierdimensionaler Quantencomputer, der eine dreidimensionale Welt simuliert), indem man ihn in einer bestimmten Reihenfolge antippt und dreht. Dann entspringen ihm lange Fäden von „Werdens-Evolutionen“; Datenwolken von verbundenen Evolutionen, die langsam im Kreis rotieren. Man kann dann die Verzweigungen der Zeitstränge sehen, die Krisen in blutigem Rot, die Sprünge des Fortschritts in leuchtendem Blau.
FOUNDATION handelt vom Aufstieg und Untergang eines galaktischen Imperiums, das von Klon-Herrschern regiert wird – immergleichen, die generativ nachwachsen. Bruder Morgen, Bruder Mittag, Bruder Abend wechseln sich in den Herrschaftsgeschäften immer wieder ab. Damit werden Fragen von Evolution und Lernvermögen angesprochen. Können Herrschaftsformen, die immerzu DAS GLEICHE reproduzieren, überleben? Das fragt man sich manchmal, wenn man Kim Jong Un im Fernsehen sieht, oder Putin. Sind die auch geklont? Irgendwie schon …
Natürlich ist der Prime Radiant eine Fiktion, und niemand von uns Zukunftsforschern hat ein solches Gerät. Aber es ist ein fiktionaler Gegenstand mit einer hohen „Realitätskompetenz“. Immer schon hat man versucht, die Zukunft in Computern abzubilden und zu modellieren. Was immer schiefging. Aber wenn man Daten UND psychologisch-menschliche Reaktions-Prozesse kombiniert, dann kann man tatsächlich in gewisser Weise „in die Zukunft sehen“. Zumindest in den Möglichkeitsraum des Kommenden mit seinen Myriaden von Verzweigungen und Wahrscheinlichkeiten.
FOUNDATION wurde von einem alten Genie der Science Fiction bereits im Jahr 1951, vier Jahre vor meiner Geburt geschrieben. Asimow war ein unfassbarer Universalist, ein Hyper-Denker mit wirklich erstaunlichen Fähigkeiten, der in Quantenphysik, Massenpsychologie, Kybernetik und noch tausend anderen Disziplinen bewandert war. Auch das verbindet ihn mit uns Zukunftsforschern, die wir versuchen, interdisziplinär die Zukunft und ihre RÜCKWIRKUNGEN zu ergründen.
Es geht in FOUNDATION auch um das „Prophetische Paradox“, ein Phänomen, mit dem wir in der Zukunftsforschung immerzu konfrontiert sind. Es lässt sich auf den Begriff der „normativen Aussage durch selbsterfüllende Prophezeiung“ zurückführen. Jede Aussage über die Zukunft wird, wenn sie „geglaubt“ wird, zu einem zukunftsformenden Phänomen. Die Essayistin und Theaterautorin Sara Ruhl formulierte das so:
„Narrative is an accumulation of knowledge about the future.“
Foundation zeigt, wie die Realität in eine „seltsame Schleife“ einbiegt, wenn sie in den Bann einer Prophezeiung gerät – und sich sozusagen in den Schwanz beißt. Das Imperium – die Herrschenden – fürchten sich so vor der Prophezeiung Seldons (dass das Imperium untergehen wird und eine tausendjährige Zeit von Tod und Terror beginnt), dass sie dieses Ergebnis durch ihre eigenen Handlungen HERSTELLEN. Shakespeare lässt grüßen. Hari Seldon wiederum, der „Prophet“, spielt genau mit diesem Effekt, indem er ihn bewusst gegen die Herrschaft einsetzt. Und sie dadurch zu Fall bringt.
Auf ähnliche Weise ist vor 1600 Jahren wahrscheinlich das römische Reich untergegangen – durch Selbst-Prophezeiung.
Die Quantentheorie sagt uns, dass es Dinge gibt, die es gibt und doch nicht gibt. Wer jemals von „Schrödingers Katze“ gehört hat, weiß, was ich meine. Die Wissenschaft der PSYCHOHISTORIK, die in FOUNDATION die Hauptrolle spielt, ist auf geheimnisvolle Weise eine PROTOWISSENSCHAFT. Eine künstliche Wissenschaft, die es „eigentlich nicht gibt“, die sich aber auf ominöse Weise immerzu weiterentwickelt (etwas Ähnliches, in sehr bescheidenem Maßstab, ist mir in den 80er Jahren mit dem „Bebraismus“ gelungen).
Bebraistik ist die Lehre von der Schönheit und Wirksamkeit und Kraft des Hässlichen, Nicht-designten, Rückständigen, Nicht-Zukünftigen. Siehe www.horx.com/archive/80-er/
Im Internet kursieren jedenfalls eine Menge von interessanten bis abgedrehten Schaubildern und Charts, die die verschiedenen Aspekte der Psychohistorik beschreiben. Eine fiktive Wissenschaft aus einem Science-Fiction-Epos mutiert zu einer eigenständigen Denk-Disziplin – das ist schon ziemlich ungewöhnlich.
Das noch verrücktere ist, dass die „Wissenschaft“, die Hari Seldon in dieser Fiktion verkörpert, etwas sehr Realistisches hat. Sie nennt sich PSYCHOHISTORIK und berechnet die Zukunft aus den voraussichtlichen REAKTIONEN von Menschen auf Ereignisse und Entwicklungen. Dabei macht sie sich – wie beim Verhältnis von Wetter und Klima – zunutze, dass individuelles Verhalten zwar nicht „berechnet“ werden kann, die Massendynamik von Millionen oder Milliarden Menschen aber schon.
Hari Seldon im O-Ton:
„Ich kann das Schicksal eines einzelnen Menschen nicht voraussagen. Aber ich sehe die Menschen. Ich sehe sie sehr genau. Sie alle machen die Zukunft, jeder Einzelne. In Quadrillionen Entscheidungen.“
Könnte man das nicht auch für so viele Prozesse unserer Zeit sagen? Dass diese von MASSENPSYCHOLOGIE geprägt sind, wobei der einzelne Mensch keine Rolle spielt, aber die kollektive menschliche Dynamik ALLES ist?
Man denke an den Ukrainekrieg …
Oder den bösartigen Populismus in der Politik …
Sehen Sie sich hier unten einige Schaubilder und Charts der PSYCHOHISTORIK an, die im Internet kursieren. Es gibt sogar FACHBÜCHER darüber. Fake oder Wahrheit? Ernst oder Scherz? Manchmal sind solche Unschärfen richtig interessant. Vielleicht hat die Zukunft längst angefangen und wirkt über Fiktionen zu uns zurück. Vielleicht leben wir selbst in einer seltsamen Schleife, die sich ständig in den Schwanz beißt. Oder sind in ein galaktisches Rabbithole gefallen. Ein Kontinuum, wo alles wiederkehrt, aber sich trotzdem nichts wiederholt … Wie kann das sein? Genau das wollen wir herausfinden …
Ansonsten gibt es in FOUNDATION auch wunderbare Planetenbilder und grandiose Weltraumschlachten, Androiden, Rebellen, kampfstarke Frauen und schwule Kommandanten. Und einen Raumschifftypus, der einfach unschlagbar sexy ist: Imperiale Sprungschiffe! Dagegen kommen intergalaktische Gurkenschiffe wie eine Star-Wars-Falcon nicht an …
Ich verspreche, das war meine letzte Sci-Fi-Besprechung.
Weitere werden vielleicht trotzdem folgen.
Der Ausdruck „Noumena“ kommt bei Sextus Empiricus vor und bezeichnet dort „das Gedachte“, (mit dem Nous als zugeordnetem Vermögen) im Gegensatz zum den Sinnen Erscheinenden, den φαινόμενα.
Periodicals in the Collection
Journal of Psychohistory, Volume 33, No. 2, Fall 2005 – The Psychology and Theocracy of George W. Bush
Journal of Psychohistory, Volume 33, No. 1, Summer 2005 – Peace Counseling: A New Profession
Journal of Psychohistory, Volume 32, No. 4, Spring 2005 – Ending Child Abuse
Journal of Psychohistory, Volume 32, No. 3, Winter 2005 – The New 9/11 Scandal
Journal of Psychohistory, Volume 21, No. 2, Fall 1993 – Group-Fantasies of World Collapse
Nachrichten sollten uns erzählen, was in der Welt passiert. Das tun sie nicht. Stattdessen sind aus Medienorganisationen durch eine Mischung von kommerziellem Druck, kognitivem BIAS und kulturellen Gewohnheiten moderne Doom-Weltuntergangs-Maschinen geworden. Man gibt noch nicht einmal vor, eine Balance anzubieten. Deshalb glauben wir, dass das größte Problem der Öffentlichkeit heute nicht Fake News sind, oder Filter Bubbles, oder Polarisierung, oder Elitismus. Das größte Problem des Journalismus sind SCHLECHTE NACHRICHTEN.
Future Crunch, internationale Website für konstruktiven Journalismus. 9.8.23
Sind Sie auch der Überzeugung:
dass der Kampf gegen die Klimakatastrophe „in Wahrheit“ verloren ist?
dass in Sachen CO2-Reduzierung überhaupt nichts vorangeht und alle Regierungen versagen?
dass Menschen prinzipiell unfähig sind zum Wandel.
dass also die Zukunft verloren ist. Und sich unser Planet in eine unrettbare Gluthölle verwandeln wird?
Nach uns die Sintfluten!
Wie kommt es eigentlich, fragt die einflussreiche Journalistin und Kolumnistin Rebecca Solnit, dass so viele Menschen lieber unentwegt und intensiv nach Gründen und Beweisen für den unweigerlichen Weltuntergang suchen, als ihre Energie in WANDEL zu investieren? Und nach praktischen Wegen für eine LÖSUNG der Klimakrise zu suchen?
Der Erneuerbare-Energien-Experte Mark Z. Jacobson twitterte neulich:
„Angesichts der Tatsache, dass Wissenschaftler, die die Entwicklung der erneuerbaren Energien studieren, die globale Energiewende sehr wohl für machbar und möglich halten, hören wir täglich auf Twitter und allen anderen Kanälen von denjenigen, die das NICHT studieren, dass es völlig unmöglich sein soll!“
Zwei Gruppen gibt es, die derzeit den Diskurs über die Ökologie- und Klimafrage dominieren:
Denier: Die Leugner, die die Erderwärmung entweder für nicht-existent halten, oder denen es völlig egal ist, dass sich die Atmosphäre erhitzt. Verankert sind sie meist im reaktionär-rechten und rechtsradikalen Lager und nutzen die Frage der Ökologie für ihren Kulturkrieg. Sie sind in der Minderheit, aber sehr lautstark.
Doomer: Die Verzweifelten, die den Kampf gegen die Klimakatastrophe verloren gegeben haben und sich in eine Haltung von Frustration, Wut und Hilflosigkeit zurückziehen. Sie sind in der Mehrheit, aber sehr hilflos.
Denier und Doomer liefern sich einen ständig eskalierenden Deutungskampf. Die Denier müssen dabei den defätistischen Job („Die Klimakatastrophe ist sowieso unaufhaltsam!“) gar nicht mehr machen. Das besorgen die Klima-Doomer viel besser. Die sind eher grün und progressiv, und wollen die Welt retten. Aber weil sie verzweifelt sind, machen sie den Job der Verunmöglichung besser als die Leugner. Sie glauben oft das, was in den Medien dauernd verbreitet und von „Experten“ behauptet wird: E-Autos sind eigentlich umweltschädlich. Wenn man weniger Öl verbrennt, verbrennen andere mehr. So entsteht eine Allianz der Verhinderung: Die Argumente der Doomer und Denier treffen sich in einer Art moralischem Triumphalismus: Die Doomer machen die Denier für den Untergang der Menschheit verantwortlich. Die Denier freuen sich über die Schützenhilfe bei der Darstellung des Wandels als Unmöglichkeit.
Das Tabu der guten Nachricht
Warum hören wir so wenig von positiven Veränderungen, gerade im Ökologischen?
Die erste Antwort ist einfach: Alles, was wir über die Welt erfahren, stammt aus den Medien. Positive Meldungen werden so gut wie nie wahrgenommen, weil sie kein Aufmerksamkeitspotential haben. Sie sind im Algorithmus der Erregungs-Steigerung, der „Clickbaiting-Logik“, nicht relevant.
Welche Meldung würde wohl häufiger angeklickt? – Klimawandel führt zu immer schlimmeren Katastrophen! (Die Bilder dazu sind beeindruckend.)
Oder: – Solarenergie wird zum weltweiten Boom! (Statistiken sind abstrakt.)
Dazu kommt die moralische Barrikade. Positive Informationen unterliegen im Kontext katastrophischer Warnungen dem Vorwurf der Verharmlosung. Wenn man sie „wahr-nimmt“, könnten das den Eindruck erwecken, „es wäre gar nicht so schlimm und man müsste gar nichts mehr tun“.
Man muss durch schlechte Nachrichten die Menschen sozusagen vor falschem Optimismus schützen.
Die Vorstellung, dass Angst, Schrecken und moralischer Druck Menschen zum Wandel motivieren, ist aber leider falsch. Auch unsere gute Greta ist in gewisser Weise an diesem Paradox gescheitert: Je mehr man sich fürchtet, desto starrer wird man. Das Anzeigen des Schlimmsten bewirkt meistens das Gegenteil: Reaktanz.
Der Dreischritt des Wandels
Gesellschaftliche Veränderungen geschehen immer in einer Art Dreischritt. Zuerst kommen starke Ideen auf, mit einer faszinierenden Aura. Zum Beispiel das „Grüne Super-Mem“, das in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bereits weite Teile der Gesellschaft eroberte.
Im zweiten Schritt werden die Kosten und Mühen der Transformation immer deutlicher. Es kommt zu einer Art Backlash – die „reaktionäre“ Phase. Die Schwurbel-Phase. In dieser Phase stecken wir heute fest. Es scheint, dass der ökologische Wandel zu Ende ist, weil er unentwegt „bestritten“ wird. Aber das ist eine Täuschung. Gerade in der Phase des Tumults, der Umstrittenheit, formt sich das Neue endgültig aus.
Aktualisierung schafft neue Realität
Heute sind trotz des andauernden anti-ökologischen Shitstorms 90 Prozent der Deutschen der Meinung, dass ein ökologischer Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweisen nötig und sinnvoll ist. Ist das nicht erstaunlich? Trotz des unentwegten Trommelfeuers, der unheiligen Allianz von Deniern, Doomern und Defätisten, sind die grundlegenden Einsichten immer noch intakt.
Hier liegt der Kern des Wandel-Paradoxes: Während Menschen verängstigt sind, sind sie doch gleichzeitig für ein Thema sensibilisiert. Sobald sich konkrete HANDLUNGS-FENSTER auftun, entscheiden sich viele Menschen zu konstruktivem Verhalten. Und so beginnt die dritte Phase der gesellschaftlichen Veränderung durch AKTUALISIERUNG: Menschen treffen Entscheidungen in ihrem privaten Umfeld, wenn diese möglich werden.
Echter Wandel, das zeigt die Geschichte, kann ganz klein anfangen. Und dann zu einem großen Strom zusammenfließen.
Eine besondere Rolle spielen beim Übergang in ein neues Prinzip die Tipping Points. Tipping Points kennen wir normalerweise nur aus katastrophischen Zusammenhängen: beim Schmelzen der Eiskappen, beim Umdrehen des Golfstroms. Es gibt aber auch POSITIVE Tipping Points. Punkte, an denen Durchbrüche stattfinden, die sich gegenseitig verstärken und dann nicht mehr aufzuhalten sind.
Solche Akzelerationen geschehen gerade in der Energiewende. Die Erneuerbaren sind deutlichen an einem Tipping Point nach oben angekommen.
Der Solar-Turbo
Die Absatzzahlen für Solaranlagen auf Privathäusern (aber auch bei größeren Maßstäben) gehen seit etwa einem Jahr steil nach oben. Ein regelrechter Solar-Boom ist entstanden. Dabei spielen Mikro-Balkon-Anlagen eine Rolle, aber vor allem der Markteintritt großer Solar-Anbieter, die die Installation auf Privathäusern preiswert und komfortabel machen. Oder gar Leasing-Modelle anbieten.
Der Anteil des erneuerbaren Stroms in Deutschland hat sich in diesem Sommer drastisch erhöht, im Schnitt zwischen 15 und 20 Prozent.
Das ist deutlich mehr, als wir für das 80-Prozent-Ziel für das Jahr 2030, das die deutsche Bundesregierung ausgegeben hat, benötigen würden.
Der geplante Zuwachs bei Windkraftwerken liegt zwar immer noch unter der Ziellinie (um ca. 15 Prozent), die beschleunigten Genehmigungen kommen erst langsam in Gang. Dafür liegt die Solar-Installation mehr als 20 Prozent ÜBER Kurs!
Wärmepumpen waren – erinnern Sie sich? – vor einigen Monaten das Allerletzte. Nicht erhältlich, teuer, will keiner haben, schlechte Technik. Habecks Wolkenkuckucksheim. Jetzt wurde in deutschen Medien berichtet, dass Wärmepumpen „starke Einbrüche” erleben. Stimmt das? Gesunken sind die Anträge auf staatliche Zuschüsse – vor allem weil es noch kein fertiges Gesetz gibt. Der private Markt für Wärmepumpen hingegen boomt. Die Hersteller stellen sich international auf, bauen neue Werke, die Preise sind am Fallen.
Lesen Sie auch überall, dass Elektroautos sich nicht verkaufen? Stimmt nur nicht. Angela Merkel wurde ausgelacht, als sie vor zehn Jahren das Ziel von 1 Million E-Autos auf deutschen Straßen 2020 ausgab. Heute, drei Jahre später sind es 2 Millionen, allerdings mit Hybrid-Fahrzeugen (was sich aber demnächst ändert). In Bezug auf die Gesamtflotte sind das immer noch nur 2 Prozent, aber durch positive Tipping Points kann sich der Zuwachs leicht pro Jahr verdoppeln.
Rechnen wir: 2-4-8-16-32 … Damit wären 15 Millionen E-Autos im Jahr 2030 leicht zu schaffen… Nein, so steil wird es nicht nach oben gehen. Aber selbst, wenn es nur 10 Millionen wären, wäre das auch schon ganz gut! In den 30er Jahren könnte es dann ganz schnell gehen. Ab dann gilt die Regel des kulminierten Kipp-Punkts: Ab einer gewissen Schwelle will keiner mehr einen rumpeligen Brenner fahren. Selbst die FDP nicht.
Es entsteht sozusagen ein Neues Normal.
In China sind über ein Drittel der Neukäufe inzwischen elektrisch – die Hälfte aller Elektroautos weltweit fahren auf chinesischen Straßen (an die 20 Millionen). China geht den „Norway Way“ (dort sind 90 Prozent der Neukäufe heute elektrisch). China droht ein Autohändlersterben – weil die Händler auf Verbrennermodellen sitzenbleiben. Einer der Gründe ist die neue chinesische Abgasnorm 6b. Sie soll dafür sorgen, dass die chinesischen Städte smogfrei werden und ist strenger als die EU-Norm 7.
Die neuen Emissionsstandards der amerikanischen Umweltbehörde zielen darauf, dass mehr als die Hälfte aller Neuwagenkäufe 2030 an E-Autos gehen. EPA-Chef Michael S. Regan: „Leute, die Elektroautos kaufen, werden über die Lebensdauer der Fahrzeuge hinweg Einsparungen sehen, weil sie nichts für Benzin und wenig für Wartung ausgeben müssen.“
In den ärmeren Schwellenländern sind Rikschas und Dreirad-Fahrzeuge Durchbruch-Träger bei der E-Mobilität. 2025 sollen allein in Indien 70 bis 80 Prozent der knatternden Zweitakter, die einen Großteil des urbanen Verkehrs in den Schwellenländern ausmachen, elektrisch fahren – heute sind es schon 50 Prozent. In vielen anderen Ländern, Indonesien, Sri Lanka, ist ebenfalls ein gewaltiger Boom für E-Rikschas entstanden. www.mckinsey.com
Der grüne Energieboom weltweit
In den Wüstengebieten der Erde werden im Moment hunderte von gigantischen Solarkraftwerken gebaut, die durch ständige Absenkung der Kosten eine relevante Wasserstoffproduktion immer wahrscheinlicher machen. Das größte Kraftwerk (in China) hat eine Fläche von 64 Quadratkilometern. Bis 2030 schätzt man ein Gesamtvolumen von 6000 GW Wind und 5000 GW Strom. Neue Techniken ermöglichen die Stromproduktion zunehmend auch in der Nacht.
Die globale Stromproduktion hat einen »erneuerbaren Kipppunkt« erreicht: 2023 wird der globale Zubau CO&sub2;-neutraler Energieversorgung erstmals größer sein als die Zunahme des globalen Energieverbrauchs (Ember:) „Das Wachstum in Wind- und Solarerzeugung allein (plus 557 Terawattstunden) reichte für 80 Prozent des Nachfragewachstums im Jahr 2022 (plus 694 Terawattstunden). Im Jahr 2023 wird das Wachstum sauberer Energie wahrscheinlich das Nachfragewachstum übertreffen.”
In seiner neuesten Meta-Studie hat das Rocky Mountain Institut, gegründet vom bekannten Ökologen Amory Lovins, die positiven Trends der weltweiten Dekarbonisierungs-Anstrengungen zusammengefasst. Fazit: Wir sind noch lange nicht am Ziel – aber viel weiter als wir fürchteten. Erneuerbare Energien und Dekarbonisierungs-Techniken erleben weltweit an vielen Fronten einen Durchbruch. Hier die Schlüssel-Charts:
Der Amazonaswald hat in den Bolsonaro-Jahren schwer gelitten. Jetzt aber tragen die Anstrengungen der neuen Regierung, illegale Goldminen und Rodungen zu verhindern und den indigenen Gruppen wieder mehr Selbstverwaltungsrechte gegeben zu haben, Fürchte. Die diesjährigen Waldverluste werden um ca. 60 Prozent unter den letzten Jahren liegen, Tendenz weiter sinkend. Übrigens waren die Rodungen des Amazonaswaldes vor 20 Jahren noch viel höher als in der Bolsonaro-Zeit.
Holen Sie am Ende dieses kleinen Kognitions-Experiments tief Luft.
Und lassen Sie Ihr ABER heraus:
ABER diese Zahlen sind ja viel zu optimistisch. Stimmen die überhaupt?
ABER die globale Erwärmung schreitet ja weiter voran…
ABER die Ölkonzerne sind ja so ungeheuer mächtig…
ABER das reicht ja noch lange nicht…
Stimmt.
ABER denken Sie bitte jetzt noch einmal darüber nach, welche Funktion das ABER für die Zukunft hat.
Wäre es nicht besser, das Gelingende anzuerkennen? Es wahr-zunehmen und auch zu genießen? Das Schlechte dabei nicht schönzureden, es aber nicht auf Dauer zu akzeptieren?
Ist das nicht auch das Rezept für ein gelungenes Leben?
Und wäre das nicht besser für uns alle, die Welt, die Zukunft?
Positive Weltnachrichten in den nächsten Ausgaben:
Indiens Geburtenrate ist fast so niedrig wie die Islands (Wussten Sie das?).
Die Welt wird gleicher – wenn man in globalen Maßstäben denkt.
Die Ausweitung von Naturschutzgebieten beschleunigt sich weltweit.
China wird zum Erneuerbaren-Transformations-Vorreiter (Schock!).
Der Kampf gegen Plastik feiert in Afrika Erfolge.
Die Menschheit macht erstaunliche Fortschritte beim Zugang zu Wasser-, Sanitär- und Hygiene-Zugängen.
Leseempfehlung:
Rebecca Solnit & Thelma Young Lutunatabua: NOT TOO LATE – Changing the Climate Story from Despair to Possibility (leider nur auf Englisch).
Ein ähnlicher Ansatz wie Maya Göpel oder andere öko-positive Ansätze: Der Versuch, die Transformation unserer Zeit mit neuer (erneuerbarer) geistiger Energie zu versorgen.
Zwei schöne Zitate zum Schluss:
Hope is not optimism. Optimism assumes the best, and assumes its inevitability, which leads to passivity, as do the pessimism and cynicism that assume the worst. Hope, like love, means taking risks and being vulnerable to being and being vulnerable to the effects of loss. It means recognizing the uncertainty of the future and making a commitment to try to shaping it.
„Es geht darum, von einem angstgesteuerten und konfusen Diskurs, der nur zur Apathie und Hysterie führt, zu einem zuversichtlichen Verständnis der Möglichkeiten zu kommen.“
Chad Frischman, Chairman des „Project Drawdown“, einer neuen systemischen CO2-Reduzierungs-Initiative, in einem TED-Vortrag 2018
Über das weitverbreitete Apokalypsegefühl und die Pflicht zur Zukunfts-Zuversicht
Zeichnungen: Julian Horx, aus der Serie „Sentient Beings“ www.julian-horx.com
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis treffe ich derzeit auf ein Phänomen, das mich an meine Jugend in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert: die „Doom-Spirale“. Es sind oft kluge, intelligente, empfindsame Menschen, die ihr Leben lang für Veränderung, Wandel, Fortschritt eingetreten sind, die jetzt die Flinte ins Korn werfen – um ein altes Sprichwort aus Jägerzeiten zu bemühen (oder waren es Kriegszeiten?).
Die Doom-Spirale führt dazu, dass man sich in eine zunehmende Negativität, ein Untergangsgefühl, einspinnt wie in einen Kokon.
Die Welt geht dem Ende zu, das sieht man doch überall.
Man kann ja sowieso nichts machen, der Planet ist kaputt.
Die Menschheit ist verrottet.
Die Zivilisation wird untergehen.
Der dunkle Kern der Doom-Spirale besteht in der Zukunftslosigkeit. Es gibt nichts mehr, worauf wir hoffen können. Wofür wir uns einsetzen wollen.
Moment, möchte ich dazwischenrufen. Seht ihr nicht, dass ihr betrogen werdet? Dass ihr einer Fata Morgana, einer fälschenden Spiegelung anheimgefallen seid, wie Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer in der Wüste Nirgendwo? (Boomer wissen, dass gleich Tur Tur, der Scheinriese, um die Ecke biegen wird, der sich erst als furchterregend, dann als höflicher teetrinkender englischer Gentleman erweist).
Wisst ihr nicht, dass unser Erregungs-Medien-System aus unseren Angst-Reflexen unentwegt Aufmerksamkeitsvorteile generiert? Alles muss skandalisiert, polarisiert, katastrophiert, übertrieben, zerlegt, zerstritten werden. Wenn eine Talkshow nicht mindestens mit der totalen Verarmung, dem Sterben aller Tiere und mit demnächst-100-Prozent für die AFD droht, wird sie gar nicht erst angesehen. Wenn die Haus-Preise hochgehen, ist es eine Katastrophe. Wenn sie runtergehen, steht der Untergang der Mittelschicht bevor. Der Staat soll alles regeln, aber auf keinen Fall irgendetwas klären. Deutschland ist unentwegt kaputt, alles ist am Ende. All diese Katastrophierung bringt Aufmerksamkeit, Erregung. Anzeigenumsätze. Aber ist es die Wirklichkeit?
Wonach sind wir geradezu süchtig, so dass wir es uns ständig irgendwie reinziehen müssen? Nach dem Negativen. Gefährlichen. Abstürzenden. Skandalösen. Mörderischen. Dem hemmungslos Übertreibenden. Hysterischen. Nichtgelingenden. Dem, was geradewegs in den Untergang führt.
Eben, sagen meine klugen apokalyptischen Freunde. Daran sieht man ja, dass alles verrottet. Dass wir uns in einem Zustand der Selbstauflösung befinden.
Ich versuche dann, der Untergangs-Melancholie mit positiven Informationen entgegenzuwirken.
Wusstet ihr, dass sich die bittere Armut auf der Welt in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als halbiert hat? Dass derzeit weltweit JEDEN TAG so viele Solar- und Windenergie-Anlagen installiert werden wie 2013 in einem ganzen Jahr?
Schon ernte ich ein mildes Lächeln. Aber dieser Superclown Trump wird die nächsten US-Wahlen gewinnen…
Seht ihr nicht, dass die Demokratie sich zwar in einer Krise befindet, dabei aber auch viele Gegenkräfte entstehen? Autokraten sind nicht überall im Vormarsch, im Gegenteil, im letzten Jahr haben sich in vielen Ländern demokratische Rechte weiter durchgesetzt (die wir aber nicht auf dem Schirm haben). www.theguardian.com/world/2023/
Wusstet ihr, dass allein in diesem Jahr der Anteil der erneuerbaren Stromerzeugung in Deutschland um rund 15 Prozent steil nach oben gegangen ist und weiter steigt – OBWOHL, oder vielleicht gerade WEIL, die Wärmepumpen-Hysterie tobte? Dass China so unfassbar viel in erneuerbare Energien investiert, dass es wahrscheinlich 2030 seinen Carbon Peak, den Gipfel seiner CO2-Ausstöße, erreichen wird?
Dass sich die Weltgemeinschaft auf erstaunliche Naturschutzziele geeinigt hat – auf gigantische neue Meeres- und Landschutzgebiete?
Noch mehr mitleidiges Lächeln. Die Chinesen bauen doch nur Kohlekraftwerke…
Haben wir uns jemals darüber gefreut, dass derzeit wieder 25.000 Blauwale durch die Meere ziehen? Dass so gut wie alle Wal-Arten sich wieder stabilisiert haben, gerettet wurden, weil wir uns als Menschheit tatsächlich darauf einigen konnten, den Walfang einzustellen?
Haben wir das jemals wahr-genommen?
Könnte das nicht auch für die CO2-Frage gelten? Am Anfang scheint es unmöglich, aber dann schaffen wir es doch…?
Den statistikaffinen Freunden empfehle ich den „Global Ignorance Test“ von Ola Rosling, der den Trotzdem-Fortschritt der Menschheit im Kontext der GLOBAL GOALS der Vereinten Nationen erklärt (www.gapminder.org). Oder die Website www.ourworldindata.org, die ein komplexes, realistisches Bild der generellen Veränderungen auf diesem Planeten liefert. Zum Beispiel zeigt sie, wie sich die Weltbevölkerung stabilisiert (ourworldindata.org/population-growth). Oder die australische Constructive-News-Website FUTURE CRUNCH (futurecrunch.com), auf der man alles lesen kann, was in den Redaktionen der Welt als „zu positiv, liest keiner“ in den Papierkorb geworfen wird…
Achselzucken.
Das Positive ist immer unsichtbar
Die Liste des Positiven ist lang, trotz allem unabweisbar Schlimmen. Nur:
Es interessiert niemanden.
Kein Empfang unter dieser Nummer.
Japan macht ja immer noch Walfang.
Und willst Du etwa die Klima-Apokalypse leugnen?
Wenn ich ein bisschen zynisch drauf bin, nenne ich das manchmal das Apokalyptische Spießertum. Die Untergangs-Komfortabilität. Man richtet sich bequem im Keller der Zukunftslosigkeit ein. Schaut ein paar Zombiefilme. Und hat es immer schon gewusst.
Ich habe diesen Untergangs-Genuss in meiner Boomer-Jugend in den 80ern selbst genossen. Als in Deutschland die Nachrüstungsdebatte tobte, die Atomkraftwerke noch tödliche Strahlung aussandten (wie sehr haben wir triumphiert, als wir 1986 Recht bekamen: Tschernobyl!). Als in den Flüssen noch Schaumberge schwammen, in der damaligen ENDZEIT, war alles sehr intensiv. Die Punks kamen mit ihrer „No Future“ Parole gut an. Umso mehr musste – oder konnte – ich mich dann wundern, dass die Welt im Kalten Krieg nicht unter-, sondern in eine ganz andere Richtung ging.
In eine erstaunliche Richtung.
Das war damals etwas anderes, sagen meine Doomsday-Freunde.
DIESMAL wird es klappen!
Diesmal fährt die Welt tatsächlich gegen die Wand.
Diesmal ist tatsächlich alles zu spät!
Endgültig.
Wir werden Recht gehabt haben.
Ich fürchte, es geht in Sachen Zukunft längst nicht mehr um „Informationen“. Es geht auch nicht um Wirklichkeit und „Realität“. Es geht um das innere FRAMING. Um die mentalen Fenster, durch die wir in die Welt schauen.
Wir FRAMEN die Welt mit Katastrophen. Und dann sehen wir durch diesen Tunnel in die Zukunft. Und was sehen wir: noch mehr Katastrophen. Größere Katastrophen. Das ist die „Availability-Bias”: die Verfügbarkeits-Verzerrung. Wir glauben an die Plausibilität dessen, was als „drastisches Bild“ am schnellsten verfügbar ist. Immer weiter gesteigerte Katastrophen, bis auch der Himalaya überschwemmt wird (mit diesem Trick ist Roland Emmerich ein Regisseur-Star geworden).
Der Begriff „Availability Bias” geht auf die Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahnemann zurück, die ihn 1973 prägten. In ihrer Arbeit zeigten sie damals, dass Menschen dazu neigen, die Eintrittswahrscheinlichkeiten eines Szenarios zu überschätzen, wenn sie sich dieses leicht vorstellen oder sich daran erinnern konnten.
Nehmen wir das Wetter. Auch früher gab es Hitzeperioden. Man schwitzte, und in den Krankenhäusern oder Altersheimen starben alte Menschen. Das war aber keine Tagesschau-Meldung. Bereits in meiner Kindheit kam es zu „Sintfluten“: Im Süden Europas und wurden Dörfer, Städte, Straßen überschwemmt, Keller liefen voll, Autos trieben durch die Straßen. Im amerikanischen Westen tobten Tornados. Nur waren damals noch nicht so viele Kameras aufgestellt, die das „Wetter“ filmten. Und Kommentatoren zur Stelle, die das Ganze als ZEICHEN DES KOMMENDEN interpretierten. In den Nachrichten kam so etwas höchstens unter „weitere Ereignisse“ vor.
Jetzt sind in München 36 Grad, und die Medien überschlagen sich mit TÖDLICHE-HITZE-Schlagzeilen. Und Tipps, wie man die „Höllenhitze“ überleben kann.
„Gewitterfront zieht über die Schweiz – 90 000 Blitze bis zum frühen Morgen.“
Hätte irgendjemand vor zehn, zwanzig, hundert Jahren Blitze gezählt? Und aus einer Gewitterfront eine Titelseite gemacht?
Der KONTEXT von Wetter ist jetzt die „Klimakatastrophe“. Und das codiert ein solches Ereignis völlig anders: Gewitter ist gleich Anzeichen des kommenden Untergangs. Aha. Auf diese Weise begeben wir uns wieder in einen inneren Harmoniezustand. Wir wissen Bescheid!
Vor acht Jahren war es in der Stadt, in der ich lebe, volle zwei Wochen lang über 40 Grad heiß. Damals war die Klimakatastrophe noch ein Minderheitenthema. Es war die Zeit der „Flüchtlingskrise“. Die „Wahrheit“ über die Hitze war, dass sie „importiert“ war. Es war „drückende Hitze aus Afrika“.
Vor 20 Jahren, 2003, wurde ich in meiner Ferienwohnung in einem mitteleuropäischen Waldgebiet Opfer einer fürchterlichen Flutkatastrophe, die tausende von Menschen obdachlos machte und auch Todesopfer forderte. Es war in der Tat ein apokalyptisches Ereignis, von dem ich heute noch manchmal Albträume habe. Bei Recherchen kam ich darauf, dass die Hochwasser in dieser Region im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch höher gewesen waren. Damals waren die Regionen aber noch viel weniger besiedelt, es gab keine Ferienwohnungen, und kaum Straßen. Wenn jemand ertrank, wusste das so gut wie niemand.
Im 12. Jahrhundert erfasste eine riesige Flut, die „Grote Mandränke“, das damals noch viel größere Schleswig-Holstein und schlug die Westküste in Stücke. Ungefähr 50.000 Menschen starben. So entstand die nordfriesische Insellandschaft, unter anderem die Reichen-Insel Sylt, auf der heute „schon wieder“ die Steilküste abbröckelt.
Damit will ich nicht den menschengemachten Klimawandel verharmlosen oder leugnen. Im Gegenteil. Es geht mir darum, wie unser MIND alles in eine Art katastrophische Bedeutung codiert. Und daraus eine Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung entsteht, die unsere Doom-Spirale unentwegt antreibt.
Meine Vermutung ist, dass wir uns durch die ständige Untergangs-Übertreibung vor der Kontingenz der Welt, ihrer chaotischen Unberechenbarkeit schützen wollen. Wir erreichen nie ganz die Ziele, die wir im Leben erwarten. Ständig können uns schreckliche Dinge ereilen. Wir können krank werden. Verlassen werden. Sterben. Das Risiko dafür ist ziemlich hoch, nämlich 100 Prozent. Das Apokalyptische bringt wieder Ordnung in diese Hilflosigkeit. Ordnet alles in einen Gesamtzusammenhang.
„Die Natur rächt sich an uns!“ ist ein Standardsatz meiner apokalyptischen Freunde.
Strafe muss sein.
Weltuntergangsdrohungen führen jedoch, das sehen wir immer wieder, nicht zu Wandel. Sondern zu einer „pessimistischen Genugtuung“. In der wir steckenbleiben wie in einem zähen Morast.
Die Hysterese
Hysterese, auch Hysteresis („Nachwirkung“; griech. hysteros (ὕστερος) „hinterher, später“), ist eine Wirkung, die verzögert gegenüber einer Änderung der Ursache auftritt. Der Begriff bezieht sich zunächst auf technische Steuerungs-Systeme. Etwa auf Thermostatsteuerungen einer Heizung. Die Temperaturen der Wohnung laufen den Sollwerten der Heizung immer hinterher. Daraus kann eine Interferenz entstehen, die das System in eine bestimmte Richtung „aufschaukelt“.
In der Systemsprache formuliert, handelt es sich bei Hysterese um ein Verhalten der Pfadabhängigkeit. Das System kann bei gleicher Eingangsgröße einen von mehreren möglichen Zuständen einnehmen. Auf die Gesellschaft übertragen heißt das: Erschütterungen, Krisen, Schocks können langfristige Nachwirkungen haben, die sich in einer Eigendynamik verselbstständigen.
Warum funktioniert NACH Corona irgendwie alles nicht mehr so wie im „Alten Normal“? Die Handwerker kommen nicht mehr. Ständig geht irgendwas kaputt. Daten auf Handys verschwinden. Man vergisst dauernd etwas. Verspätungen türmen sich. Leute sind nicht mehr zu erreichen. In Behörden und Krankenhäusern herrscht andauernder Nervenzusammenbruch. Flugzeuge bleiben auf dem Vorfeld stehen, Züge auf offener Strecke. Irgendwie ist „der Wurm drin“, in allen früheren Routinen und Selbstverständlichkeiten.
Es liegt womöglich daran, dass wir in eine gesellschaftliche Hysterese geraten sind.
Corona hat uns „traumatisiert“, weil das Virus uns drastisch darauf hingewiesen hat, dass die Welt unsicher ist. Diese Erfahrung übertragen wir – unbewusst – auf die Wirklichkeit. Wir über-reagieren in vielen Situationen. Wir agieren mit erhöhter Gefahren-Reaktanz. Wenn irgendetwas nicht klappt, geraten wir in einen Panik-Schwurbel. Dadurch schaukeln sich kleine Unwuchten, Fehler, die früher leicht kompensiert werden konnten, immer weiter auf.
Der Passagier drückt die Notbremse, wenn das Klo verstopft ist.
Flugreisende kommen 4 Stunden früher zum Flughafen, falls etwas beim Gepäckband schiefgeht, und verstopfen die Gänge.
Viele Leute sind ständig wütend und verhalten sich eskalierend.
Wenn Menschen verunsichert sind, übertreiben sie ihre Reaktionen auf Störungen. Es reicht, wenn nur einige ausrasten, um laufende Systeme zu chaotisieren. Das gilt für den Zugverkehr, das Gesundheitswesen, den Straßenverkehr, die Demokratie. Unwuchten schaukeln sich hoch, wenn wir uns nicht mehr beruhigen können.
Das nennt sich chaotische Selbstverstärkung.
Gesellschaften können in eine lang andauernde Hysterese fallen. Das begründet zum Beispiel die Zähigkeit totalitärer Diktaturen. Der Korea-Krieg vor 70 Jahren führte in Nordkorea zu einer hermetischen, totalitären Gesellschaft, die aus den Traumata eines brutalen Krieges entstand. Das Trauma führte zu einer „hysteresen Evolution“, aus der es kein Entrinnen mehr zu geben scheint.
Ähnlich kann man die Entwicklungen in Russland verstehen: Eine Gesellschaft, die IMMER an ihren Revolten scheiterte, IMMER vom nächsten Despoten tyrannisiert wurde, kaum eine starke Zivilgesellschaft bilden konnte, entwickelt als Grundzustand die lügende Paranoia. Und Paranoia ist ein sich-selbst-erzeugendes System.
Wenn man Krieg führt, bestätigt man damit die Grundannahme, dass überall nur böse Feinde lauern.
Man PRODUZIERT Feinde.
Diese werden sich in Selbstdefinition wieder als Opfer einspeisen…
Und so weiter.
Doom-Loop auch hier.
Lob der Enttäuschung
„Was wir sehen“, sagt der US-Autor Musa Al-Gharbi in seinem Buch We have never been woke, „ist ein sich selbst verstärkender negativer Zirkel. Ein DOOM LOOP, in dem Zynismus und Verzweiflung oft Nihilismus entstehen lassen, und Menschen kosmetisch-radikale Positionen einnehmen, weil sie im Grunde NICHTS mehr tun. Zynismus erodiert jene Arten von Verhalten, die öffentliches Vertrauen wachsen lassen, was wiederum unsere Kapazität unterminiert, tatsächlich Wandel zu erreichen. Wenn wir alle Probleme der Welt lösen wollen, überfordern wir uns ständig, und wir lösen kein einziges mehr.“
Wie entkommen wir dieser Negativ-Spirale, die uns in die Hysterese treibt?
Ich schlage vor, dass wir uns bewusst ENTTÄUSCHEN lassen.
Das klingt paradox. Ist Enttäuschung nicht etwas Negatives?
Vielleicht nicht. Der Untergangs-Glaube hängt ja vor allem damit zusammen, dass wir GEWOHNTE ANSPRÜCHE nicht loslassen können.
Wir wollen, dass alles immer so weitergeht.
Ohne Störungen.
Ganz perfekt.
Ich mache die Erfahrung, dass ein verblüffender Effekt entsteht, wenn ich etwas LOSlasse, auf das ich mich früher schrecklich angewiesen fühlte. Wenn ich weniger Fleisch esse, schmeckt das Fleisch besser. Oder das Gemüse wird plötzlich lecker. Man überlebt den Verlust, und STAUNT. Verzicht kann einen Möglichkeitsraum eröffnen. Und uns von Illusionen befreien, an denen wir festklammerten.
Wer es wirklich schafft, mit dem Rauchen aufzuhören, kennt das.
Wer wieder lernt, an die Zukunft zu glauben, auch.
Tara Isabella Burton schreibt im ATLANTIC: Eine Möglichkeit, aus dem „Doom Circle“ herauszukommen ist, sich wieder auf „Das Berühren des Grases“ zu beziehen („touching grass“). Das heißt, sich wirklich mit der Wirklichkeit, dem KONKRETEN statt dem Symbolischen zu beschäftigen. In kleineren Gruppen, die sich etwas vornehmen, was die Welt wirklich verändern kann, im Kleinen, aber Wahren. Solche impersonalisierte Arbeit kann uns helfen, unsere kollektiven Enttäuschungen in Zu-versichten zu verwandeln. Und uns daran erinnern, dass unsere heutigen Enttäuschungen untrennbar sind vom Glauben an eine bessere Welt, die wir uns selbst schulden – und einander.
Wenn man im Großen und Ganzen nicht mehr weiterkommt, hilft es, im Kleinen das Große zu finden.
Dort Verantwortung zu übernehmen, wo man kann.
Die Grundenergie der Zukunft ist die Zuversicht. Der Glaube daran, dass auch wenn etwas schlecht wird, es (wieder) besser werden kann. Diese Energie schulden wir unseren Kindern, der Welt. Aber auch uns selbst.
Die Welt wird wieder frisch, wenn wir sie mit neuen Augen sehen. Von vorn, von der wahrhaftigen Zukunft aus. Dann trollt sich das Doom-Gespenst in die Weiten des Universums. www.theatlantic.com
Ich habe eine Vision. Die Hoffnung einer kooperativen Demokratie.
Jedes Mal, wenn ich die aktuellen Politik-Debatten in den Medien verfolge – etwa Talkshows über Krieg, Klimawandel, Inflation, Bahnversagen, Verarmung, Teuerung, Hausbaukrise und jetzt eben Heizungshammer Wärmepumpe – Habeck versagt –, befällt mich ein merkwürdiges Gruseln.
Eine seelische Übelkeit.
Ich schaffe es dann trotzdem selten, abzuschalten. Irgendwie klebe ich am Bildschirm fest und lasse mich hineinziehen in diesen Sumpf der Klage, Gegenklage und Bezichtigung, angeleitet von ModeratorInnen, die im polemisierenden Verhörstil versuchen, möglichst viel Zunder aus der Debatte zu ziehen.
Nur einmal, ganz kurz, hat Sandra Maischberger dieses dunkle Spiel unterbrochen. Sie bat zwei Politiker aus „konträren Lagern“ am Anfang eines Gesprächs etwas Positives übereinander zu sagen.
Plötzlich lang ein ganz anderer Ton in der Luft.
DARF man Politiker gut finden?
Ich habe ein merkwürdiges Handicap in meiner politischen Wahrnehmung. Ich nenne es die Wohlwollens-Krankheit. Ich finde vieles, was Politiker in den öffentlichen Debatten sagen, ziemlich gut und richtig. Und zwar weitgehend unabhängig vom politischen „Lager“.
Kennen Sie das Gefühl, dass in einer Debatte eigentlich ALLE recht haben? Dass jeder Standpunkt bestimmte Facetten einer Realität abbildet, die man aber nur ALS GANZES verstehen kann?
Ich finde auch die Parteien gut (bis auf eine). Ich finde die Liberalen gut, weil sie sich um die Freiheit und Innovation kümmern. Ich finde die Grünen gut, weil sie sich ernsthaft um das große Zukunfts-Thema unserer Zeit kümmern, die ökologische Transformation. Ich finde die Konservativen gut, weil sie (meistens) auf Ausgleich und Vernunft setzen und in der Idee der Bewahrung verankert sind. Ich finde sogar die Linke gut, ich habe zumindest Empathie dafür, wie sie an ihrem hohen Moralismus sichtbar leiden.
Ich weiß nur nicht, warum das alles immer GEGENEINANDER stehen muss.
Manchmal denke ich mir still und heimlich: Könnten sich nicht die vernünftigen PolitikerInnen ALLER Parteien zusammentun und eine Partei der Lösung gründen? (Ich hätte sogar schon eine Kabinettsliste).
Eine rotschwarzgelbgrüne Koalition.
Sagen wir: die GP, die GUTE PARTEI.
Oder die KP. Die KONSTRUKTIVE PARTEI.
Sorry, das war ein kleiner Scherz. Ich höre schon die strengen Kritiker mit dem gereckten Zeigefinger: Aha, Sie wollen eine Einheitspartei! Sie haben offenbar das Wesen der Demokratie nicht verstanden! In einer Demokratie muss es krachen! Das ist das Wesen der Demokratie! Daraus entwickeln sich die besseren Möglichkeiten!
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das in einer hypermedialen Erregungs- und Aufmerksamkeits-Gesellschaft noch so stimmt.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass der EMPÖRISMUS – die jederzeitige Bereitschaft, sich aufzuregen, den anderen zu bezichtigen, den Skandal für die Wirklichkeit zu halten, mit Meinungen die Welt zu vernageln – uns auf einen gefährlichen Pfad führt:
In eine Hysterisierung der Öffentlichkeit, in der es nur noch um Ängste, Panik und Paranoia statt um Wege nach vorne geht.
In eine Infantilisierung des politischen Diskurses, die in Richtung auf eine Tribalisierung der Politik führt.
In eine düstere Negativität, in der kein Problem mehr als lösbar erscheint.
Jenseits von Lechts und Rinks
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, die in mancher Weise polarisierter war als heute. Damals bildete die Zuordnung zu den „Lagern“ von LINKS und RECHTS eine verlässliche Grundachse. Links war Freiheit, Jungsein, Toleranz, Progressivität, Demokratie, Veränderung. Rechts stand für Vergangenheit, Autoritarismus, dumpfes Denken. Inzwischen ist die Linksrechts-Achse so verschwurbelt, dass sie nicht mehr zur Orientierung taugt.
Konservative werden plötzlich infantil rebellisch. Linke Moralisten klingen wie autoritäre Priester. Rechte Parteien, die eigentlich die Diktatur wollen, marschieren mit Rebellions-Rhetorik auf. Sarah Wagenknecht spaltet die Linke mit rechtsemotionalen Parolen. Faschisten propagieren den fürsorglichen Sozialstaat. Der französische Politologe Philippe Corcuff nennt das Phänomen den „Konfusionismus“. Es gibt monströse Entwicklungen wie den libertären Autoritarismus (Elon Musk). Auch kommunistischer Kapitalismus (China) ist heute im Angebot.
Verbreitete Gründe für falsche Entscheidungen:
Annahmen, die auf zu engen Umfrage-Samples basieren.
Der Wille, dass die Welt so funktionieren soll, wie WIR es uns wünschen.
Konformität in Bezug auf Erwartungen/Autoritäten/Gruppen („group think“).
Um wieder ins Zukünftige zu kommen, brauchen wir ein konstruktives Denken (Fühlen) jenseits der alten Lager-Polaritäten. Ein Denken, das in Zusammenhängen statt Spaltungen funktioniert. In Verbindungen statt Identitäten. Sich an plausiblen Zukünften orientiert und VON DORT AUS Entscheidungen trifft, anstatt sich in erregten Gegenwarten zu verlieren.
Beispiel: Wie sieht eine Welt ohne Kohlenwasserstoffe aus, und wie kommen wir da hin? Was ist noch nötig? Was können wir verbessern? Was haben wir schon geschafft? (Anerkennung der Erfolge ist unglaublich wichtig; in den Medien lesen wir fast nur das Gegenteil; das Versagen, die Katastrophe). Was können WIR als Individuen, Organisationen, Unternehmen, Gruppen, dazu beitragen?
Nicht: Wer ist schuld, dass es so langsam vorangeht, und wer muss jetzt dringend mal niedergemacht werden … (es geht übrigens viel schneller voran als wir denken).
Zu einer solchen Zukunfts-Haltung gehört die Fähigkeit, liebevoll mit Komplexität umzugehen. In komplexen Gesellschaften gibt es „Wicked Problems“, die schwierig zu lösen sind. Zum Beispiel kann man nicht die Probleme im Gesundheitswesen einfach mit Forderungen „lösen“. Das Gesundheitssystem ist ein unfassbar komplexes System, mit unfassbar vielen kontroversen Interessen und inneren Paradoxien. Aber das heißt nicht, dass man es nicht VERBESSERN kann – in der Anerkennung der Schwierigkeit, dies zu tun.
Denken in Zusammenhängen kann man lernen. Wie sagte Robert Habeck einmal so schön? „Es könnte sein, dass auch der andere recht hat.“ Und der amerikanische Schriftsteller F. Scott Fitzgerald („Der große Gatsby“) formulierte: „Die wahre Prüfung einer erstklassigen Intelligenz ist die Fähigkeit zwei gegensätzliche Ideen im Kopf zu behalten und weiter zu funktionieren.“
Kooperative Demokratie als Praxis
Es lohnt sich, kooperativen Demokratien bei der Arbeit zuzuschauen. Denn sie sind nicht nur Wolkenkuckucksheime. Es GIBT sie tatsächlich.
In Irland regiert seit einigen Jahren eine progressiv-grün-konservativ-liberale Koalition. Ein offen schwuler Politiker mit Migrationshintergrund und ein eher konservativer Premier wechseln sich im obersten Staatsamt ab. Es erweist sich, dass Konservativismus, Ökologie und Liberalität in der politischen Wirklichkeit gut zusammenpassen. Das Land atmet eine zukunftsgewandte Leichtigkeit, ohne dabei in Übertreibungen und Hysterie zu verfallen.
Die Schweiz praktiziert seit mehr als 100 Jahren eine ALLES-Koalition – jede gewählte Partei entsendet Vertreter in die Regierung, das nennt sich „Konkordanz“. Die Regierung selbst ist eher ein Moderationsgremium als eine „Führungsmacht“. Ergänzend lässt eine lange geübte Basis-Demokratie die Bürger über zentrale gesellschaftliche Themen außerhalb von Parteigrenzen abstimmen.
In der Schweiz gibt es eine erfolgreiche GRÜNLIBERALE Partei. Welchen Blödsinn könnte uns eine solche Partei ersparen!
Man kann von der Schweiz halten, was man will (etwa von der Tendenz, fröhlich weiter als planetares Gelddepot zu funktionieren und auf „Europa“ herabzuschauen). Aber die Schweiz hat ein System der Selbststabilisierung des Demokratischen geschaffen, das so leicht nicht aus der Balance zu bringen ist. Auch von hauseigenen Populisten nicht.
In Dänemark hat sich nach vielen Polarisierungs-Tendenzen eine neue „Politik der dynamischen Mitte“ etabliert. Die Sozialdemokratie unter der Führung von Mette Frederiksen hat gelernt, sich den „Wicked Problems“ aktiv zu stellen. Und betreibt eine lagerübergreifende Reformpolitik (siehe die wunderbare Politik-Serie BORGEN, die die Vorgeschichte nachzeichnet).
Kein Mensch käme auf die Idee, über Wärmepumpen einen Kulturkampf anzuzetteln. Wärmepumpen sind in Dänemark ganz normal.
Der Gestaltungs-Zauber
Nennen wir es Neo-Politik: Eine Politik, die pragmatisch versucht, das ZUSAMMENSPIEL zwischen Staat, Gesellschaft, Institutionen, Bürgern, Wirtschaft zu verbessern. Auf regionalen, lokalen Ebenen funktioniert konstruktive Politik auch heute schon oft recht gut: Städte, Gemeinden, Dörfer, können regelrecht aufblühen, wenn sich die örtliche Politik statt Konflikte auszutragen in SYNERGIEN organisiert. Dann entsteht das, was der Philosoph Wilhelm Schmid den Anfänglichen Geist nannte („Was uns beflügelt“, ZEIT vom 1. Juni 23):
Es gibt offenbar zwei Arten von Geist. Der gute, anfängliche Geist ist naiv im besten Sinne. Er kommt ohne viele Worte aus. Menschen spüren ihn und sind begeistert. Alles passt, es könnte so bleiben. Dann kommt der ungute spätere Geist, der hin und her geht, also „diskurriert“ und dabei viele Worte macht. Er ist ein mürrischer Geselle. Er entzweit Menschen, denn er stößt sie darauf, dass sie nicht einer Meinung sind. Das begeistert nicht viele.
Überall in Europa – und darüber hinaus – suchen Demokratien wieder nach dem „anfänglichen Geist“. Neue gesellschaftliche Bündnisse entstehen (siehe Polen, Georgien, sogar die Türkei). Parteien lösen sich von den alten Dogmen, neue Bewegungs-Parteien entstehen (in Thailand etwa „Move Forward“). Zur Neo-Politik gehören auch innovative Formen der Bürgerbeteiligung, Experimente mit Konventen, „Assemblages“ oder geführte Zukunftsdebatten, in denen nicht immer nur die Schreihälse zu Wort kommen. Kleinere Gesellschaften wie Island, Irland, Portugal, aber auch Kolumbien haben damit gute Erfahrungen gemacht. Auch in Deutschland gibt es solche Projekte. Wir nehmen es nur (noch) nicht wirklich wahr. Wir würdigen es nicht.
Wenn wir die Demokratie nicht schlüsselfertig an die Despoten abgeben wollen, müssen wir uns in den Soziotechniken und MINDSETS des Politischen etwas einfallen lassen.
Sonst können wir die Regierungsgeschäfte gleich einer KI überlassen. Die gehört dann Elon Musk, und weiß sowieso alles besser.
Jeder Trend erzeugt irgendwann auch einen Gegentrend. Auch der Trend zu Populismus und Autokratie. Ich kenne immer mehr Menschen, die aus dem medialen Meinungszirkus aussteigen. Die sich für die Zukunft engagieren, indem sie Verbündete statt Gegner suchen. Die vom MEINEN ins TUN kommen. Ins Zukunft-Sein.
Zukunft hat auch etwas mit Glauben zu tun. Zum Beispiel mit Glauben an die Evolution der Demokratie.
Friedrich Merz hat sich auf dem Zukunftskongress der CDU am 27. April zu einer Haltung des Zukunfts-Konstruktivismus bekannt. Ein Denken und Handeln in Möglichkeiten. Er hat vor der sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung des Pessimismus gewarnt und einen Perspektivenwechsel eingefordert. Wenn man die ökologische Debatte als reine Verzichts-, Verbots- und Verlust-Debatte führt, so Merz, kommt man nicht weiter. In der Klimadebatte geht es darum, die POTENTIALE der Energiewende neu zu bewerten. Die bereits errungenen Erfolge zu würdigen, wahr-zunehmen und zu verstärken. Ökologie und Ökonomie endlich zu vereinen. Von den Lösungen her zu denken anstatt nur über Probleme zu lamentieren.
Das finde ich wunderbar. Ich freue mich sehr über die Resonanz und das Zitieren.
Ausschnitt aus der Rede von Friedrich Merz am CDU-Zukunftskongress, 27. April 2023, Berlin
Quelle: youtube.com
Das fossile Denken (und Fühlen)
Warum tun wir uns, als Individuen und Gesellschaft, so schwer, uns gemeinsam in eine Richtung zu bewegen, über die wir uns im Grunde einig sind? Also in Richtung einer dekarbonisierten, vom Fluch der Kohlenwasserstoffe befreiten Wirtschaft und Gesellschaft?
Vielleicht ist das wirklich eine Identitätsfrage.
Wir alle sind Kinder des BIG BOOM, des gewaltigen Wohlstandsaufstiegs, der mit dem Ende des letzten großen Krieges einsetzte. Das „fossile System“, die Logik der Verbrennung und Extrahierung und Vernichtung von Rohstoffen, hat unsere inneren Selbstbilder, unseren Freiheitshorizont, ja unsere IDENTITÄTEN geprägt. Wer mit dem Aufstieg des Verbrennungs-Automobils in den 60er Jahren groß geworden ist, dessen inneres Sein ist sozusagen mit dem Benzin (oder Diesel) verheiratet. Autos sind so etwas wie Weltbewältigungs-Maschinen. Sie sind mit Gefühlen von Kontrolle, Freiheit, Status, Selbstwert, Komfort und (vor allem bei Männern) Machtgewinn verbunden. Autos müssen dröhnen, zittern, röhren, jedenfalls bei den Jüngeren. Und sie müssen jedes Jahr, oder alle zwei Jahre, mehr PS, mehr Komfort, mehr WUMMS auf die Räder bringen. Das kann Lebenssinn erzeugen. Und eine große Frustration, wenn es irgendwann als Lebenssinn nicht mehr funktioniert.
Wer seit seiner frühen Jugend den Geschmack von viel Schweinefleisch als Geborgenheit und Sättigung erlebt hat, als körperliche Beruhigung im Chaos der Welt, der wird dauerhaft an Gewicht zulegen. Und er wird dieses Sättigungs-Gefühl, diese segensreiche Tröstung, verteidigen. Gegen all die unheimlichen dünnen, nervösen unheimlichen VeganerInnen aus den Großstädten. Und gegen die fade Ersatzwurst, die die „Ökos“ zu sich nehmen.
So ist aus der Klimafrage eine Art Identitarismus geworden, der von beiden Seiten auf einer hochsymbolischen Ebene geführt wird. Wir erschöpfen uns in Kulturkämpfen um Wurstessen, Recht auf Schnitzel und die Freiheit, dumme Männerwitze zu machen. Dagegen rennt ein Hypermoralismus des Ökologischen an, der uns auch nicht weiterbringt. Eins schaukelt das andere hoch. Aus dieser Negativ-Spirale herauszukommen wäre eine Befreiung der Zukunft vom Joch der Hoffnungslosigkeit.
Dazu wäre die Vor-Stellung hilfreich, dass es jenseits des Verbrennungsprinzips einen anderen, eben einen BESSEREN Wohlstand geben kann als den fossilen, überhitzten. Einen Fortschritt, der nicht nur unsere Energieformen, sondern auch das Zusammenleben, die Kommunikations-formen, Zeit-Ökonomien und Gesundheits-Potentiale betrifft. Diese Vision einer postfossilen Gesellschaft ist viel weiterverbreitet als wir glauben. Und zwar quer zu allen politischen Lagern, in so gut wie allen Milieus.
Es ist verständlich, dass Menschen, die ihre Lage als unsicher empfinden, weil sie in eine vergifteten oder im Niedergang befindlichen Welt zu leben glauben oder einfach das Gefühl haben, ihre Autonomie und Souveränität zu verlieren, die Forderung erheben, die Kontrolle über ihre Umwelt zurückzugewinnen.
Der französische Soziologe Gérald Bronner
Allerdings gibt es ein kleines – sorry – Problem in der Praxis. Die CDU – jedenfalls viele ihrer Mitglieder in Ländern, Gemeinden, Medien – handeln häufig in die entgegengesetzte Richtung. Immer wenn sich Lösungen in Richtung Dekarbonisierung, abzeichnen, wird eine irrwitziger polemischer Aufwand getrieben, um genau das zu verhindern.
Branchen, die sich ökonomisch bewährt haben wie Kohle, Luftfahrt, Automobil – werden in einer bestimmten Weise fetischisiert. Es ist so gut wie unmöglich, in Deutschland eine ernsthafte Mobilitätsdebatte zu führen, ohne in bizarr unproduktive Verbotsdebatten zu geraten.
Man betreibt einen aggressiven Feindbildaufbau gegen als „Kulturgegner“ markierte Personen. Robert Habeck, der marktwirtschaftlichste Grüne, wurde immer weiter in eine marktfeindliche Ecke geschoben, in die er wahrhaftig nicht hingehört (während die CDU gleichzeitig in mehr und mehr Bundesländern mit den Grünen koaliert).
Dazu kommt ein Ausspielen der sozialen gegen die ökologische Frage. Das „Mitnehmen“ der „Kleinen Leute“ bedeutet in den meisten Fällen: Was nicht sofort superbillig ist, wird als sozialer Skandal gebrandmarkt. An anderer Stelle wissen Konservative sehr genau, dass Preise schnell fallen, wenn die Nachfrage steigt und die Wirtschaft reagiert.
Und schließlich ist da die Polemisierung von Lebensstil-Veränderungen als hysterisierte Gefahr. Beispielhaft Markus Söders (nicht direkt CDU, aber eben doch) Geschichte von den grünen Insektenburgern, die „die Leute demnächst alle essen müssen“.
Klar, war ja nur ein kleiner Scherz. Aber es wirkt eben sehr ins Destruktive.
Dabei war die CDU schon viel weiter. In den 90er Jahren stellte sie die ersten aktiven Umweltminister, nach vielen Debatten unterstützten sie die Schwulenrechte, und die Frauen in der CDU setzten letztlich die Erweiterung der Kinderbetreuung durch. Wo die Konservativen den Weg der politischen Integration gingen, sich gesellschaftlichen Wandlungsprozessen öffneten und sie moderierten, konnten sie Protest in Mäßigung und Verantwortung umformen. In ihren guten Zeiten konnten sie Technikwahn von Technikanwendung unterscheiden und ökonomistischen Exzessen einen zivilgesellschaftlichen Gegenentwurf entgegensetzen.
Wo das nicht gelang, zerfielen sie. Oder wurden vom Populismus zerrieben.
Genuss ist die letzte Instanz
Verwöhntheit der Lebensmodus.
Quengelei ein legitimes Stilmittel.
Wut die latente Drohung.
Bernd Ulrich, die ZEIT, Verschärfte Welt, ZEITmagazin 31/22
Die Ökologie des Wandels
Um in Richtung Zukunft klüger zu werden gilt es, den Unterschied zwischen Optimismus und Zuversicht zu verstehen.
Optimismus kann eine Fassade sein, hinter der sich Wandelfeindlichkeit verbirgt. Optimismus ist eine Form der passiven Erwartung: Alles wird schon gut werden, wenn wir dran glauben.
Zuversicht – oder „Possibilismus“, also das Denken in konstruktiven Möglichkeiten – handelt hingegen von der Gewissheit, dass wir gemeinsame Lösungen finden können. Zuversicht nimmt uns selbst in die Verantwortung. Begleitet uns sozusagen in den Möglichkeitsraum, in dem wir mündig Handelnde werden können.
Das ist, so wie ich es verstanden habe, das Menschenbild der CDU.
In den Lösungen der Zukunft werden immer auch Begrenzungen eine Rolle spielen. Und ja doch, auch Verbote. Zivilisation ist nichts anderes als eine Ordnungs-Entwicklung, die manches ausschließt. In Gesetzen, Regeln und Regulierungen ebenso wie in Marktanregungen. Gerade eine Ordnungspartei wie die CDU sollte das wissen. Und weiß es natürlich auch. Aber vergisst es manchmal gerne.
Auch Verzicht ist im konservativen Weltbild nicht per se etwas Negatives. Exzesse einzudämmen kann zu neuen Freiheiten führen. Ein Verzicht auf das pure MEHR ebnet den Weg zum BESSEREN.
Ich habe eine Ver-mutung (mit Bindestrich geschrieben): Nach einer Zeit der ständigen Polarisierung, die die Demokratie an den Rand ihrer Fähigkeiten gebracht hat, beginnt jetzt eine neue Phase, in der man mit Konstruktivität wieder Mehrheiten gewinnen kann. Viele, sehr viele Menschen haben die Ebene des politischen Streites á la BILD und Anne Will satt. Sie sehnen sich nach einem echten Zukunftsdiskurs, der Win-Win-Prozesse definiert und die fossilen Spaltungen überwindet.
Dazu gehört Jammerverzicht, Kooperationsbereitschaft mit allen gesellschaftlichen Gruppen, und eine zurückhaltende Weisheit. Vielleicht sehnen wir uns deshalb manchmal nach Angela Merkel. Zukunft ist eine Entscheidung. Ich bin dankbar, dass Friedrich Merz das tief und ganz verstanden hat. Und ich wünsche ihm viel Glück und Gelassenheit bei dieser Aufgabe.
“Any intelligent fool can make things bigger, more complicated, and more violent. It takes a touch of genius – and a lot of courage – to move in the opposite direction.” Ernst Friedrich Schumacher, deutsch-amerikanischer Nationalökonom
Wie lässt sich WANDEL modellieren? Basis- Wandlungsprozesse aller Art, ob Börsenkurse, Bevölkerungsverläufe oder Marktprozesse, lassen sich in Kurven ausdrücken. Das wissen wir schon aus der Schule. Aber der Umgang mit Kurven für komplexe ZUKUNFTSMODELLE bringt einige Probleme mit sich. Kurven werden oft unvollständig dargestellt. Man zeigt nur bestimmte Ausschnitte eines Verlaufs, um einen „Trend“ zu beweisen. Oder nur auf einen einzigen Faktor reduzierte Kurven, also aus ihren KONTEXTEN gerissen. Dadurch werden sie auf falsche Weise „linearisiert“.
Einer der klassischen Darstellungs-Fehler ist das, was man EXPONENTIELLE Illusion nennen könnte.
Sigmoid-Kurven haben immer einen sechsstufigen Ablauf:
1. Statik (noch tut sich nichts)
2. Akzeleration
3. Aufstieg (die Kurve geht steil)
4. Abflachung
5. Tipping Point
6. Plateau/Stabilisierung oder Abstieg
In vielen Kurvendarstellungen wird der Verlauf jedoch rechts abgeschnitten. Ganz besonders beliebt ist das bei der Weltbevölkerung, oder dem CO2-Ausstoß. Die Kurven gehen rechts immer steiler nach oben, was in einer Projektion von „Bevölkerungsexplosion“ oder „Klimakatastrophe“ mündet. Auch die Profiterwartungen von Unternehmen werden oft so dargestellt (vor allem von Börsenanalysten). Durch das Abschneiden entsteht der Eindruck, der AUFSTIEG wäre endlos, er würde „immer steiler“. Das soll Angst machen. Oder Investitionen triggern.
Es gilt jedoch immer die erste Grundregel der dynamischen Welt: JEDE KURVE HAT IRGENDWANN EINEN TIPPING POINT!
Kein Prozess kann ewig weitergehen. Exponentialität zerstört das System, das sie hervorbringt. Und jeder Trend erzeugt einen Gegentrend, der ihn irgendwann zum Stillstand oder zum „Kippen“ bringt!
Jemand, der sich besonders intensiv mit der Systemik von Sigmoid-Kurven beschäftigt hat, ist der amerikanische Kinderarzt und Pharmazeut Jonas Salk (1914 – 1995). Salk schenkte der Menschheit Anfang der 50er Jahre das Polio-Vakzin, den Impfstoff gegen die Kinderlähmung. Er entwickelte jenen Totimpfstoff, den die meisten von uns entweder als Doppelritzung der Haut oder später auf einem Zuckerstück bekamen, um gegen eine der schrecklichsten Infektionskrankheiten immun zu werden. 1955 antwortete Salk in einem Interview auf die Frage, wem das Patent gehöre: „Well, the people, I would say. There is no patent. Could you patent the sun?“ („Naja, ich würde sagen, den Menschen. Es gibt kein Patent. Könnte man die Sonne patentieren?“).
Neben seiner Forschertätigkeit war Salk ein universalistischer Humanist. Er beschäftigte sich sein ganzes Leben mit den Geheimnissen des Wandels. Dabei griff er auf philosophische Konzepte wie Tikkun olam zurück. Dieser hebräische Begriff stammt aus der jüdischen Philosophie und heißt „Welt-Reparatur“ oder „Konstruktion für Dauer“. Heute würde man sagen: Nachhaltigkeit.
Ein spezielles Interesse hatte Salk an der Entwicklung der Weltbevölkerung. Er sah bereits in den 50er Jahren hellsichtig voraus, dass die Weltbevölkerungskurve irgendwann ihren Zenit erreichen würde. Damals schon sanken die Geburtenraten in den Industrieländern, und Salk sah als Immunologe und Kinderarzt den Zusammenhang zwischen Kindersterblichkeit und der Abflachung der Bevölkerungskurve voraus, als noch niemand diese Weitsicht hatte.
Salk nutzte die Sigmoid-Kurve zudem in ihrer erweiterten Bedeutung als Metapher für universelle Veränderungsprozesse, die sowohl in menschlichen Lebenswelten als auch in der Natur als auch in Wirtschaftsprozessen stattfinden. Er sah in der Kurvendynamik universelle Prinzipien am Wirken. Prinzipien, die auch den Anteil der erneuerbaren Energien abbilden können. Oder die Reifung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Oder den Übergang zu einer neuen Epoche.
Krisen sind Übergangsphänomene in dynamischen Kurvensystemen!
Eine seiner Grunderkenntnisse: Eine Sigmoid-Kurve besteht immer aus zwei Teilen. In ihrem aufsteigenden Teil herrschen expansive Erwartungen: Optimismus, Aufbruch, Dynamik. Wenn die Kurve ihre steilste Stelle überschritten hat, an ihrem INFLECTION POINT, dem Punkt der Umkehr, entsteht jedoch eine neue Grundstimmung. Man spürt, dass etwas zu Ende geht. Sich nicht mehr im gewohnten Sinne steigern lässt. Das führt zu einer Phase der Verunsicherung, der Wutbereitschaft, der Konfusion. Trend folgt auf Gegentrend. Paradoxien wuchern. Bedeutungen verschieben sich. „Vergangenheits-Rebellionen“ entstehen (Nostalgie-Schwurbel).
Der eigentliche Epochen-Wandel findet jedoch im Hintergrund statt – in einer zweiten Linie, die den Aufstieg eines neuen Paradigmas abbildet. Dieses Paradigma – oder Supermem – kündigt sich bereits im ALTEN Normal an, bleibt dort aber noch in einer Minderheits-Position. Denken wir an den Aufstieg des Christentums ab dem 4. Jahrhundert. Die Renaissance. Die Aufklärung. Es waren zunächst immer „untergründige Strömungen“, die von Eliten getragen wurden, die einen neuen MINDSET ankündigten.
MEME sind die kulturellen Gegenstücke zu den GENEN. Während Gene das Wachstum von Organismen steuern, bestimmen MEME die Wandlungsprozesse von Kulturen. Es handelt sich um Ideen, Grundsätze, Überzeugungen, Ideologien, NARRATIVE, die sich laufend in komplexen Gesellschaften bilden. Sie „infizieren“ Hirne, springen von Mensch zu Mensch und formen dabei grundsätzliche Modelle der Wirklichkeit. Wenn sich einzelne Meme zu einem SUPERmem zusammenfügen, können sie ganze Gesellschaften oder Epochen prägen.
Die ökologische Wende passt genau in dieses Schema. Noch gelten in unseren mental-sozialen Systemen die Paradigmen des fossilen Industrialismus. Der momentane Streit um die Ökologie bildet den Kampf einer absteigenden Idee gegen eine aufsteigende Idee ab. Die grundlegende Dynamik der neuen Idee (eines so genannten Supermems) wird jedoch zu ihrer Durchsetzung führen. Wobei das alte Supermem nicht völlig verschwindet, aber „überschrieben“ wird.
Sigmoid-Kurven können uns helfen, wenn es darum geht, Epochenwechsel zu verstehen. Sie dienen dazu, Epochen und großflächige Veränderungsdynamiken zu modellieren, soziokulturellen Wandel sichtbar zu machen. Voraussetzung ist, dass wir die systemischen KONTEXTE verstehen, die in kurvilinearen Systemen herrschen. Jede Kurve ist ja nur ein Bild von EFFEKTEN, es geht aber auch darum, die EINWIRKUNGEN zu verstehen. Kurven in ihrer realistischen, systemischen Komplexität einzusetzen, ist ein wichtiges Fundament der systemischen Zukunftsforschung. Und eine ständige Herausforderung, in Zusammenhängen zu denken.
Lesenswert:
Jonas Salk und Jonathan Salk, „A NEW REALITY – Human Evolution for a Sustainable Future“, City Point Press 2018
Erhältlich bei: www.amazon.de
Derzeit werde ich manchmal gefragt, warum die Politik total versagt und die Menschheit offensichtlich mit vollem Tempo in den Untergang rast. Wieso streiten sich die Politiker in nächtlichen Sitzungen anstatt endlich ernsthafte Maßnahmen gegen den Klimatod zu beschließen? Warum lassen sich die Grünen, diese Trottel, immer wieder von der Benzinlobby über den Tisch ziehen? Und bauen jetzt sogar noch Autobahnen!
Ich antworte dann etwas vorsichtig: Vielleicht liegt es ja auch an unserer Wahr-Nehmung. Mit Bindestrich. Dem, was wir für die Wirklichkeit halten.
Wir leben in einer Aufmerksamkeits-Ökonomie. In unserem medialen System, das unentwegt nach unserer Gehirnzeit (unserer Aufmerksamkeitsspanne) verlangt, sind vor allem negative, angstmachende und skandalisierende Impulse gefragt.
In einer Studie der Wissenschaftszeitschrift Nature Human Behaviour wurden 105.000 Schlagzeilen und Subzeilen und 370 Millionen Klicks in Online-Medien untersucht. Die Forscher fanden heraus, dass jedes negative Wort, also alles was mit Katastrophen, Skandalen, Vorwürfen, Streits, die Wahrscheinlichkeit eines Klicks um 2 Prozent erhöht. „Positive Wörter verringern hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass die Meldung angeklickt wird, signifikant nach unten“, sagen die Forscher.
Wie heißt das so schön im Englischen? It’s boom time for doom time…
Mir ist auch aufgefallen, dass sich in den Deutungsmedien zunehmend ein aggressiv-zynischer Interview-Stil gegenüber Politikern durchsetzt. Während früher eher ein geradezu unterwürfiger Tonfall herrschte („Wie sehen Sie das denn, Frau Merkel, aha“!), dominiert heute eher ein ruppiger, geradezu unverschämter Ton, der immer auf die gleichen Standardfragen zurückgreift:
„Wie soll denn bitteschön die Verkäuferin beim Aldi damit umgehen?“
„Aber müssen wir nicht Angst haben, dass…“ (Beliebiges bitte einsetzen).
„Ist das nicht alles furchtbar naiv?“
„Aber wo soll denn der ganze Strom für die Energiewende herkommen?“
„Und wer bitteschön, soll denn die ganzen Wärmepumpen bauen?“
Ich nenne das das Unmöglichkeits-Verhör. Der befragte Politiker gerät immer in die Defensive, denn alles, was er antwortet, klingt immer wie eine Legitimation seiner Unfähigkeiten. So dreht sich alles immer im Kreis des Empörungs- und Geht-Nicht-Karussells. Es hat etwas mit Respektlosigkeit zu tun, und das gefährdet auf Dauer die Demokratie. Es öffnet dem Populismus Tür und Tor und zerstört die Sicht auf Lösungen, die meistens auf der Hand liegen.
Derzeit bauen die Wärmepumpen-Produzenten massiv Kapazität aus.
Und nein, wir MÜSSEN nicht immer Angst haben. Wir könnten auch nach sinnvollen Lösungen gemeinsam suchen. Dazu können auch Kompromisse gehören. Auch funktionierende Autobahnen wären nicht schlecht. Denn wenn wir ehrlich sind, werden wir auch weiter Autofahren.
Die Weisheit des Wandels
Ist Ihnen aufgefallen, dass Wandel sich meistens irgendwie rückwärts ereignet? Also nicht durch Vorausschau und Planung, sondern durch nachträgliche Akzeptanz. Nicht auf dem Wege der Prä-Stabilisierung (ein Begriff von Leibniz). Sondern durch RE-Stabilisierung.
Als in den 70er Jahren der Auto-Sicherheitsgurt eingeführt werden sollte, waren die Zeitungen voll von Autofahrer-Wutausbrüchen, die den heutigen shitstorms ähnelten. Die lebensrettende Wirkung des Gurtes wurde von vielen Männern schlichtweg geleugnet. Mein Onkel Karl schaffte sogar aus Protest gegen Freiheitsberaubung sein Auto ab und kam damit als Held des Widerstands in die Zeitung (allerdings kaufte er einen Monat später einen neuen Golf mit Dreipunkt-Sicherheitsgurt).
Als die Grünen in den 80er Jahren ein Gesetz zur Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe vorschlugen, war der (west)deutsche Bundestag ein Tollhaus von höhnisch grölenden Männern. Einige Jahre später war das Gesetz beschlossen. Und fühlte sich ganz richtig an.
Als in den Neunzigern die Debatte über das Rauchverbot in Restaurants aufkam, marschierten die Gastronomen zusammen mit den Zigarettenlobbys auf und polemisierten gegen die genussfeindliche Verbotskultur. Ein paar Jahre später waren alle heilfroh, dass Kinder und Alte in die Restaurants zurückkehrten, die nun nicht mehr nach Teer und Nikotin stanken (einige Kneipen gingen pleite, aber man vermisst sie kaum). Aus einem Meinungsstreit wurde ein Win-Win-Spiel. Die Raucher hatten nun draußen vor der Tür eine Zweitgemeinschaft, wenn es am Tisch zu langweilig wurde.
Als um die Jahrtausendwende zum ersten Mal über die Rechte der Schwulen debattiert wurde, war die Häme enorm. Dass heute in 15 Länder der Erde Homosexuelle heiraten können und es sogar in ganz normalen Reihenhäusern eher normal ist, schwule Freunde und Bekannte zu haben, konnte sich niemand vorstellen.
Als in den 70er Jahren die sozialen Bewegungen aufkamen — Frauenbewegung, Ökologiebewegung, Emanzipationsbewegungen — wurden sie erbittert bekämpft. Später setzten die Konservativen die meisten der Reformgesetze für eine liberale, offene Gesellschaft um.
Ist es nicht erstaunlich, was alles möglich ist, wenn man die Welt von vorne sieht?
Das Prinzip des Wandels ist paradox. Erst scheint alles unmöglich. Später wird es das Neue Normal. Der Streit beleuchtet das Problem, und dadurch werden die Bremsen gelockert, die uns im Alten festhalten. Oft haben wir das Gefühl, wir kämen überhaupt nicht voran. In Wirklichkeit ist alles längst unterwegs. Wir können es nur nicht wahr-nehmen.
Lärm geht dem Wandel voran
Wie das Wandel-Paradox innerlich funktioniert, kann man auch am Beispiel der E-Mobilität verdeutlichen. Als E-Autofahrer habe ich jahrelang die Wut der Fossilfahrer erleben dürfen. Man hat mir sogar schon Öl auf die Autoscheibe geschmiert, und ein tiefgelegter Audi-Fahrer mit vier riesigen Chromauspuffen nannte mich einen „lügenden Umweltverbrecher“.
In der Tat glaubt ein großer Teil der Fossilfahrer, dass E-Autos umweltschädlicher sind als die „richtigen“ Autos. Nach einer aktuellen Studie bemängeln 57 Prozent die Umweltschädlichkeit der Akkus, 49 Prozent deren begrenzte Lebenszeit. 63 Prozent führen als Argumente gegen den Kauf eines E-Autos das zu gering ausgebaute Ladesäulennetz, 66 Prozent die zu geringe Reichweite an. Ein nicht unerheblicher Teil der Männer will heute wieder einen Benziner kaufen. Da weiß man, was man hat.
Wenn man jedoch selbst E-Autos fährt, macht man erstaunliche Erfahrungen. Ich bin noch nie stromlos hängengeblieben, auch im Winter nicht. Ich habe an Berghütten geladen, auf versifften Autobahnraststätten und mit Kabel durch die Fenster von Nachbarn oder Freunden. Heute ist das alles nicht mehr nötig. Elektronen sind im Universum häufiger als Kohlenwasserstoffe. Die Reichweiten steigen stetig, und E-Autos werden immer eleganter. Wenn man einmal eingestiegen ist, möchte man nicht mehr zurück in die alten Rappelkisten. In manchen Städten fahren E-Autos mit mehr als einer halben Million Kilometer auf dem Tacho (ein Alptraum für die Autoindustrie).
Wandel beginnt in der Veränderung der Perspektiven. Während ich in den guten alten Dieselzeiten gerne tausend Kilometer ohne Pause heruntergerissen habe (und dann ziemlich dumm im Kopf war) genieße ich inzwischen das Pause machen. Ich reise mehr als ich rase. Allerdings dauert eine Vollladung heute kaum mehr als 20 Minuten. Das ist schon wieder zu kurz zum Kaffeetrinken.
Weil ich mich jetzt für das Mögliche interessiere (und nicht mehr nur für das, was nicht geht), weiß ich, dass Elektroauto-Technologie sich stetig weiterentwickelt. In den nächsten Jahren kommt eine neue Batteriegeneration auf den Markt, die deutlich weniger seltene Erden braucht. In den USA stehen die ersten Vollrecycling-Anlagen für Lithium-Ionen-Akkus kurz vor der Eröffnung, in Deutschland gibt es Probeläufe. Viele Elektroauto-Firmen dekarbonisieren jetzt auch die Produktion der Fahrzeuge. Und so weiter.
Haben Sie davon gehört?
Wir nehmen wahr, was in unsere Erwartungen passt.
In Norwegen stieg die Prozentzahl der Elektrofahrzeuge bei den Neuwagen in acht Jahren von 20 auf 80 Prozent. Dort hat man ganz andere Diskussionen, nämlich darüber, wie man die Erneuerbaren noch schneller ausbaut. Die normative Kraft des Faktischen. Spätestens wenn mehr als die Hälfte Autofahrer elektrisch unterwegs sind, kommt man sich mit seinem Verbrenner plötzlich ziemlich blöde vor.
Könnte das mit Ölheizungen und vielem anderen Fossilen, was nicht in die Zukunft passt, nicht auch so gehen?
In der Geschichte wie im richtigen Leben gibt es Phasen des Übergangs, in denen das Alte noch nicht aufgehört hat und das Neue noch nicht richtig begonnen hat. Wichtig ist, dass wir in solchen Konfusionsphasen, nicht nur in Richtung der Angst blicken. Sondern auch dem Gelungenen eine Möglichkeit geben.
Deutschland hat trotz einer radikalen Energiekrise im vergangenen Jahr seine CO2-Reduktionen eingehalten. In vielen Medien wird das als eine Art höheres Versagen interpretiert. Es hätte ja noch besser kommen müssen…
Ich nenne das eine Anspruchs-Verblendung.
In den Wüsten der Erde werden derzeit rund 1.000 gigantische Solarkraftwerke gebaut, teilweise mit neuen Speichertechniken. Die Gesamtkapazität liegt bei 500 bis 600 Kernkraftwerken. Haben Sie jemals davon gehört?
In diesem Jahr wurden zwei erstaunliche globale Umwelt-Abkommen abgeschlossen. Das Abkommen über die globalen Meeres-Schutzgebiete. Und das globale Wasserschutz-Abkommen. Interessiert Sie das? Oder sind „sowieso“ der Meinung, dass „Abkommen nichts bringen“?
Ich erinnere nur an das FCKW-Abkommen, das half, das Ozonloch zu schließen. Oder das Walfangverbot, dass dazu führt, dass heute die allermeisten Wal-Arten sich wieder erholen.
In den meisten entwickelten Industrienationen sinken die CO2-Ausstöße. China bringt jedes Jahr so viel Erneuerbare-Energie-Kapazität ans Netz wie ganz Europa und Amerika heute produzieren.
Es ist leicht, auf solche positiven Meldungen mit negativem „Whataboutismus“ zu reagieren („Und was ist mit China = Kohlekraftwerke?!“). Damit steht man immer kritisch da, und das Kritische gilt ja als moralisch gut.
Das Kritische kann aber auch leicht das Reaktionäre werden.
Ein probates Mittel, Wandel nicht wahrzunehmen, ist auf „den Menschen“ zu schimpfen, der eben egoistisch, faul und wandlungsunfähig ist. Aber in dieser negativen Anthropologie steckt auch ein gehöriges Stück Selbstbeweihräucherung.
Eine neue Studie des Umweltministeriums zeigt, dass 86 Prozent in Deutschland einen Lebensstil-Wandel zugunsten der Dekarbonisierung bejahen. In der PACE-Studie sagen zwei Drittel, dass es für eine postfossile Zukunft einen übergreifenden Konsens jenseits der Parteien und Interessensgruppen geben sollten.
Jetzt gibt es eine neue Umfrage, in der „nur die Hälfte” der deutschen Bevölkerung den Klimawandel für ein ernstes Problem hält. Wirklich? Die Hälfte wäre ja auch schon etwas. Und eine alte Erfahrung sagt, dass Meinungen oft so erscheinen, wie man in sie hineinfragt…
In den meisten entwickelten Industrienationen existiert heute die stabile „Ökologische Klasse” (Bruno Latour), die sich aus allen möglichen Schichten und Milieus zusammensetzt. Sie muss noch nicht einmal die absolute Mehrheit ausmachen, um für die Zukunft wirksam zu sein.
Positive Tipping Points
Die „Tipping Points“, die Umkipp-Punkte, die wir im Kontext des Klimawandels so fürchten, gibt es nicht nur in katastrophischer Richtung. In dynamisch-komplexen Systemen kommt es an bestimmten Punkten zu Emergenzen, in denen das System sein Richtung ändert. Dadurch entsteht früher oder später ein „Neues Normal“, eine neue Selbst-Stabilisierung.
In technologischen Innovationsprozessen gilt die Regel der „dynamischen Skalierung“: Wenn eine innovative Technologie etwa 20 Prozent des Gesamtmarktes erreicht hat, entsteht ein Beschleunigungseffekt, der zum Durchbruch führt. Das haben wir beim Internet erlebt, und es wird mit der Dekarbonisierung nicht viel anders sein.
In einem ganzheitlichen Modell der Klimawende hat die Grazer Systemforscherin Ilona Otto ein Diagramm der Tipping Points in Richtung einer dekarbonisierten Welt dargestellt. Wenn bei den erneuerbaren Energien bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, im Bildungs- und bei den Wertesystemen sich etwas tut, wenn 25 Prozent der Menschen sich aktiv für die Klimawende engagieren, mehr Menschen in dekarbonisierten Umwelten (etwa grünen Städten) leben, wenn Finanzmärkte durch ökonomische Inputs reagieren, kommt es zu einer sich-selbst-verstärkenden Konvergenz. Dann „kippt“ das System vom fossilen Prinzip in eine post-fossile Dynamik.
Ein solches Modell stellt die Herausforderungen der Zukunft nicht als Unmöglichkeiten dar, sondern als Potentiale. Es ist wie ein Win-Win-Spiel, das wir mitspielen können. Statt uns in die Defizite zu verrennen, können wir Stück für Stück die Wirklichkeit verbessern. Wir alle, als Individuen, Familien, Gruppen, Gesellschaften, sind Wirkende in diesem neuen Kontext.
Zukunft ist eine Erfahrung, für die man sich entscheidet.
PS: Hier noch ein Stück aktueller SPIEGEL-Immerschlimmerismus-Prosa: Es ist eine harte Zeit für die Deutschen, und vielleicht haben auch Sie das Gefühl, in einen perfekten Sturm geraten zu sein: Die Inflation frisst das Geld auf, nach jedem Einkauf schaut man kopfschüttelnd auf den Kassenzettel, die Folgen von Putins Krieg kosten auch dieses Land Unsummen, und jetzt will die Regierung auch noch das Land klimafreundlich umbauen. Nur wer soll das alles bezahlen? Vor allem das Aus für Gas- und Ölheizungen wird unfassbar teuer werden, für Häuschen-Besitzer und Mieter. Noch nie wurde so erbittert über Wärmepumpen, Pelletheizungen oder Wasserstoff geredet und gestritten, auch in den Marathon-Sitzungen des Koalitionsausschusses jetzt. SPD und FDP fürchten offenkundig die Wut der Wählerinnen und Wähler, die Grünen dachten vor allem ans Klima. Heraus kam ein Kompromiss, der wohl niemanden glücklich macht, vor allem da eine neue Umfrage zeigt, dass ungefähr die Hälfte der Deutschen Klimapolitik nicht für besonders wichtig hält. Die neue SPIEGEL-Titelgeschichte beschreibt, wie es zum Showdown in Berlin kam – und was das jetzt für uns alle bedeutet.
Was bedeutet das? Es bedeutet, dass man sich eigentlich nur noch die Kugel geben kann. Oder das Magazin abbestellen. Und hinausgehen in die Welt, um neue Erfahrungen zu machen, die einen ver-wandeln.
Die Digitalität bietet keinen Kritiküberschuss wie die Buchdruckgesellschaft, sondern einen Kontrollüberschuss.
Dirk Baecker
When information is cheap, context is more valuable than ever.
WIRED
1. Das Gespenst
Was glauben Sie? Werden die neuen Künstlichen-Intelligenz-Systeme die Welt zerstören? Oder die Menschheit retten?
Allein der Entweder-oder-Charakter dieser Frage weist darauf hin, dass etwas nicht stimmt. Nämlich unser Verständnis dessen, worum es eigentlich geht.
„Künstliche Intelligenz“ ist ein Begriff, über den man eigentlich nicht sprechen kann. Denn es handelt sich um einen Mythos. Ein Gespenst. In seinem Inneren wohnt ein Paradox; das, was der Systemforscher Niklas Luhmann einen „Kategorienirrtum“ nennt.
Menschen nehmen die Welt mit Sinnen und Körper wahr. Sie bilden Modelle über die Zukunft. Haben Zweifel, Gefühle, Körper und Bewusstsein. Das ermöglicht Differenzierungen, mit deren Hilfe man kreativ, variabel, lernend mit der Welt umgehen kann. Das ist das Wesen von Intelligenz.
Das Künstliche hingegen folgt vorgefassten Regeln. Es wiederholt sich selbst, in endlosen Schleifen. Es kennt keine Zweifel und verfolgt keine Pläne. Keine Hoffnungen, Irrtümer und Sehnsüchte. Es lernt nicht. Es kaut nur alles wieder.
Als verletzliche, sterbliche Wesen sehnen wir uns wie verrückt nach Wundern und Allmacht. Nach einer Instanz, mit der wir sprechen können, und die uns eine höhere Wahrheit verkündet. Wenn Gott tot ist, suchen wir die Antwort in Maschinen.
Wenn Maschinen mit uns sprechen, oder Bilder malen, dann glauben wir, dass sie etwas Intelligentes, Menschliches tun. Wir lassen uns hypnotisieren, in eine Täuschung, eine Euphorie ziehen. Wir betreiben Anthropomorphing.
„Anthropomorphismus bedeutet das Übertragen menschlicher Eigenschaften auf nichtmenschliche Entitäten – Wetter, Tiere, Pflanzen, Maschinen.“ (Wikipedia).
Der MIT-Forscher Joseph Weizenbaum wies diesen Effekt schon im Jahr 1966 mit seinem Programm ELIZA nach. Er war erschüttert, wie leicht sich Menschen durch simple Algorithmen täuschen ließen. ELIZA simulierte eine Therapie-Situation. Es verhielt sich wie ein Psychologe, der immer nur Fragen auf Stichworte stellte.
Benutzer: „Ich habe ein Problem mit meiner Mutter.“
Allein, dass uns ein Programm Fragen stellt, erzeugt in unserem Hirn eine Zwischenmenschlichkeits-Illusion. Diese entwürdigende Verwechslung von „KI“ mit menschlichen Eigenschaften führt unter anderem dazu, dass wir uns vor dem Falschen fürchten. Bei der Einführung des Internets haben wir uns immerzu vor dem Überwachungsstaat gefürchtet. Vor Orwells „1984“, der Unterdrückung durch staatliche Kontrolle, der „Datendiktatur“. Dabei haben wir lange Zeit übersehen, dass mitten in unserer Kultur ein gigantischer Echoraum für Bösartigkeit, Betrug, Hass, Fälschung, Übertreibung und Aufmerksamkeits-Terrorismus entstand. Toxische Medialiät. Wir starrten in die falsche Richtung. Der französischer Soziologie Gérald Bronner nennt die Konsequenzen des „sozialen“ Internets eine „Kognitive Apokalypse“. Eine Zerstörung von Zusammenhängen, Bedeutungen und Beziehungen.
In Sachen Künstlicher Intelligenz wiederholt sich das Ganze. Die Übergriffigkeit. Die Illusionen. Die blinde Euphorie. In was lassen wir uns da hineinlocken? Und wie kommen wir da wieder raus?
2. Entwertung
Die eigentliche Frage lautet: Welche menschlichen Probleme gäbe es, die die eine „Künstliche Intelligenz“ tatsächlich sinnvoll lösen könnte?
Es gibt eine begrenzte, praktische, spezialisierte „KI,“ die für die Menschheit und den Fortschritt äußerst sinnvoll ist. Stellen wir uns ein System vor, das das Zusammenspiel von Millionen erneuerbarer Energiequellen steuern kann. Auf jedem Haus eine Solaranlage, überall Windstrom, Batteriesysteme – um auf diese Weise aus der fossilen Energiewelt auszusteigen, bräuchten wir kompetente Steuer-Systeme, die uns verlässlich mit Elektronen versorgen.
Oder ein System zur Konstruktion passgenauer Krebs-Medikamente im Rahmen der neuen CRISPR- und RNA-Techniken.
Solche Systeme können komplexe Probleme intelligent lösen. Aber sie wären nicht „an sich“ „intelligent“. Es sind Expertensysteme, Werkzeuge, die wir dringend brauchen, um in einer komplexe(re)n Welt zurechtzukommen.
Sie sprechen nicht mit uns. Sie tun nicht als ob. Sie machen ihren Job, und das ist gut so.
Bei den KI-Systemen, die jetzt veröffentlich werden, handelt es sich jedoch um semantische – oder generative – „Crawler“. Also um eine Software, die das Internet „durchkriecht“, alles in sich einsaugt, und daraus einen scheinbar autonomen Output generiert.
Die Software DALL-E malt Bilder. Das Grafikprogramm, hat über das Internet ALLE Bilddateien eingespeichert, die es überhaupt gibt. Alle Maler, alle Bilder, alle Stile, aller Zeiten. Es kann aus diesen gespeicherten Bildern Varianten bilden. In Sekundenschnelle zaubert es zum Beispiel auf den Befehl EINE STADT IM DALI-STIL eine Stadt hervor, in der lappende Uhren von den Häusern hängen.
Oder MALE EINEN HUND IN RITTERRÜSTUNG IM RENAISSANCE-STIL!. Geht ganz schnell.
Ein Wunder an Kreativität! Oder?
ChatGPT schreibt Texte und spricht „mit uns“. Zumindest hört es sich so an. Das Programm kann wunderschöne Gedichte im Shakespeare-Stil verfassen. Texte schreiben, die irgendwie an Doktorarbeiten erinnern. Oder zehntausend romantische Liebesbriefe schreiben – in 4,3 Sekunden.
Noch mehr Wunder!
Natürlich ist all das ein Irrtum. Eine Blendung. DALL-E kann kein einziges Kunstwerk hervorbringen, denn Kunst ist immer das Erzeugen von kreativer Differenz. Eines kognitiven Unterschieds in der menschlichen Wahrnehmung. DALL-E macht hingegen eine Art Malen nach Zahlen, greift dabei aber auf das genuine Kreative zurück – zerstört und dekonstruiert es.
ChatGPT erzeugt Texte durch probabilistische Schleifen, ähnlich wie bei einem Wortergänzungs-Programm im Smartphone. Es wird deshalb alle Klischees, Vorurteile, Dummheiten abbilden, die sich in den Myriaden von Texten im Internet abbilden. Und das Ergebnis wieder in seinen Speicher einspeisen …
Was entsteht, wenn man alle Farben und Formen zusammenrührt?
Grauer Brei.
Zehntausend künstliche Liebesbriefe haben nichts mit Liebe zu tun.
Sondern mit Verachtung.
Natürlich kennt die KI keine Verachtung. Diejenigen, die sie für bestimmte Zwecke nutzen werden, aber schon.
3. Enteignung
Sehr aufschlussreich für den Aufstieg und das Desaster der digitalen Plattform-Ökonomie ist die Serie „The Playlist“ auf Netflix. Gezeigt wird der spektakuläre Aufstieg von Spotify, der weltweiten Musikplattform aus Schweden. Und zwar aus 5 Perspektiven.
Aus der Perspektive der Vision des Nerd-Gründers, der sich in seinem Computerkeller langweilt und die ungeheure Bedeutung von Musik für Jugendliche begreift.
Aus der Perspektive des Startup-Investors, eines ziemlich schrägen Freaks mit den üblichen ADHS-Symptomen („Elon-Musk-Syndrom“).
Aus der Perspektive der Rechtsanwältin, die mit den Musikproduzenten um die Musikrechte verhandelte.
Aus der Perspektive eines Coders.
Und aus der Perspektive einer talentierten Musikerin, die durch Spotify arm wurde. An diesem Punkt geht die Story in die Zukunft und spielt im Jahr 2024, wo ein weltweiter Aufstand der Musiker gegen Spotify stattfindet.
Der Film macht eine Art Prophezeiung, die auf das eigentliche Problem der Plattformökonomie hinweist.
Auch wunderbar erhellend: „WeCrashed“, über den spektakulären Aufstieg und Zusammenbruch von WeWork bei AppleTV. Ein Lehrstück über Startup-Gier.
Der gloriose Erfolg von Spotify konnte nur funktionieren, weil durch ein „disruptives“ Geschäftsmodell die Musiker, die Künstler, an den Rand des Marktes gedrängt wurden. Die Bedingungen, mit denen sich Spotify um 2010 die meisten Musikrechte kaufte, wurden von den großen Musikfirmen mit ihren mächtigen Anwälten diktiert. Die Tantiemen wurden meistens im Verhältnis 70 zu 30 verteilt (30 % für die Musiker). Spotify hat die Musikszene damit weiter gespalten. Das System hat statt einem ZWEI Intermediäre produziert: Spotify selbst als „Gatekeeper“. Und die großen Produzenten, die VOR Spotify durch Piraterie schon fast ausgestorben waren.
Man könnte das Grundprinzip des digitalen Über-Business PARASITÄRE DIGITALITÄT nennen. Im Unterschied zu einer konstruktiven Digitalität setzt sie keine kreativen Potentiale frei, sondern beutet sie aus. Und erzeugt dabei die ILLUSION von Kreativität.
Wenn wir darauf hineinfallen, sind wir selber schuld.
4. Verdrehung
Die amerikanische Tech-Website C-Net nutzt schon seit Jahren KI zum Erstellen von Grundtexten der Finanzberatung. Diese stellten sich jetzt als voll mit Verdrehungen und Fehlinformationen heraus. Der Aufwand solche Fehler zu finden und zu korrigieren, wird von den Redaktionen vermieden. Damit wäre ja der kostensparende Effekt von Text-KI hinfällig. Die Redakteure müssten das, was die Bots an Fehlern aus dem Netz ziehen, aufs Neue recherchieren und verifizieren.
Eine KI behauptete neulich, man dürfe nur Sudanesen, Israelis und Iren foltern. Woher sie das hatte, lässt sich nicht mehr vollständig nachvollziehen – solche Systeme sind eine Black Box.
Um derartigen Ausrutschern entgegenzuwirken, werden derzeit in Kenia Menschen an Bildschirmen für 2 Dollar pro Stunde damit beschäftigt, die gröbsten Fehler beim Sourcing der Künstlichen KI auszuschalten. time.com/6247678/openai-chatgpt-kenya-workers
Spätestens an diesem Punkt erinnert das Ganze an die Versprechungen von Mark Zuckerberg, seine soziale Plattform „demnächst“ in einen Hort menschlicher Zuneigung zu verwandeln. Oder an die Filmserie MATRIX. Die KI-Systeme sind sichtlich schlauer geworden. Sie nutzen nicht die menschliche Körperwärme (wie in MATRIX) und versorgen die Hirne mit Illusionen, sondern sie beuten menschliche Arbeitskräfte aus, um sich selbst zu korrigieren.
Wie bizarr ist das denn?
Eine weitere Anwendung, die durch semantische KI ganz groß rauskommt, ist das, was man „Künstliche Höflichkeit“ nennen könnte. Neuerdings gehen große Hotelketten dazu über, Kundenbeschwerden mit Künstlicher Intelligenz zu beantworten. Wenn ein Kunde sich über kaputte Duschwannen oder ächzende Betten beschwert, folgt schon 5 Minuten später eine ausgewählt höfliche Entschuldigung, in der der Kunde überschwänglich für seinen Hinweis gelobt wird, mit dem Angebot einer Preisermäßigung und eines Upgrades.
Sind wir nicht Serienbriefe im Marketing schon lange gewohnt? Der Unterschied ist nur, dass die KI-Schein-Zuwendung massenhaft individualisieren kann. Eine Art neuer Enkeltrick.
Die erste Zerstörung, die die semantische KI anrichtet, ist die Zerstörung des Autorenprinzips.
Die zweite ist die Entwertung von Wahrheit als anstrebenswerte Kategorie.
Die dritte Zerstörung besteht in einem generellen Vertrauensverlust allen Kommunikationen und semantischen Produktionen gegenüber. Ist das echt? Oder tut das nur so?
Redet der nicht schon wie eine KI?
DALL-E wird zunächst den kreativen grafischen Markt zerstören. Illustratoren, Zeichner, Designer werden es plötzlich sehr schwer finden, überhaupt noch Geld mit ihrer Kunst zu verdienen.
Dann sind Journalisten, Autoren, Texter an der Reihe. Und sogar Drehbuchschreiber, die aktuellen Helden der narrativen Kreativität. Speisen wir doch einfach die Algorithmen der erfolgreichsten Krimiserien, Komödien, Sci-fi-Stories in die Maschine – und lassen sie die OPTIMIERTESTE Krimiserie, Komödie, Sci-Fi-Serie ausrechnen!
Die mit den meisten Zuschauern.
Haben Sie manchmal das Gefühl, dass das längst der Fall ist?
Alle Filmserien verlaufen nach dem immergleichen Muster.
Optimiert.
Zu Tode optimiert.
Aber könnte es nicht wunderbare soziale Anwendungen der kommunikativen KI geben, die Bildungs- und Armutsprobleme lösen?
WEF-Gründer Klaus Schwab beschrieb die Entwicklung eines indischen Programmierers, die es Bewohnern eines abgelegenen indischen Dorfes ermöglichte, komplexe Behördendienste in Auftrag zu geben. Nur wenige Monate habe es gedauert von der Entwicklung des zugrundeliegenden KI-Modells in den USA bis zur konkreten Anwendung im ländlichen Indien.
Aber was heißt „komplexe Behördendienste in Auftrag zu geben“?
Ist es nicht das eigentliche Problem von Armut, dass man genau das nicht kann?
Wer also gibt hier den Auftrag?
Viele argumentieren: Die KI setzt Kreativität frei, indem sie Routinen routiniert. In den Schulen zwingt sie die Pädagogen, endlich das wahrhaft Kreative zu lehren. Information wird derweil von der KI vermittelt. Das scheint ein plausibler Gedanke. Er basiert aber wiederum auf einem Kategorienfehler. Wissen ist keine „Information“. Sondern ein durch menschliche Kommunikation und emotionale Übertragung erzeugter Zusammenhang.
Bildung ist Erfahrung, Intuition, Beobachtungs-Kompetenz, die durch menschliche BEGEGNUNG entsteht.
Kreativität ist die Fähigkeit, mit Wissen fragend umzugehen.
Menschen sind Begegnungs-Wesen. Jeder weiß das, der einen Lehrer/eine Lehrerin hatte, der – ein echtes Wunder! – das Feuer der Physik, der Astronomie oder sogar des Lateins entzünden konnte.
KI in der Schule wird das heute schon gefährliche Halbgoogeln in ungeahnte Dimensionen steigern. Die Nichtkompetenzen unerträglich vermehren.
Semantische KI schürt die Illusion, nichts wissen zu müssen, weil man alles abfragen kann.
Wenn wir rasend schnell Antworten aller Art erhalten – wozu sollen wir Fragen finden, die uns interessieren?
Und jetzt sollen wir auch noch kreativ sein? Nein Danke!
5. Eine kleine Floppologie
Wir vergessen gerne die digitalen Flops. Dabei sind Flops, als Beispiele für Marktversagen, besonders lehrreich. Sie zeigen uns, wo Technologie an ihre menschlichen oder systemischen Grenzen gerät. Und womöglich auch, wie wir Technologie besser, sinnvoller einsetzen und entwickeln könnten.
Nicht funktioniert haben die ulkigen intelligenten Roboter-Kisten, die autonom Güter in den Städten ausliefern sollten. Erinnern Sie sich? Eine Zeitlang war das die Superstory auf Investoren-Konferenzen. Von den Dingern ist ebenso wenig zu sehen wie von den Drohnen, die uns die Pizza auf den Balkon liefern sollten. Wer möchte schon dauernd über Roboterwägelchen stolpern oder unter einem surrenden Drohnenhimmel leben? Zumal in Zeiten des Ukraine-Krieges …
Hätte man das nicht gleich wissen können?
Google Glass, einer der „Besten Erfindungen des Jahres 2012“ (TIME Magazin), war die erste Augmented-Reality-Brille auf dem Markt. Dem Gerät schwappte eine Hasswelle entgegen. Auf vielen Cafétüren in den Hip-Metropolen stand das Motto „No Glassholes!“ – Keine arroganten Idioten mit AI-Brille erlaubt! Was die Konstrukteure nicht erahnten und verstanden, war der psychologische Abwehreffekt, den das Gerät in sozialen Situationen hervorrief. Du weißt etwas, was ich nicht weiß – und verweigerst damit menschliche Kommunikation auf derselben Ebene!
Dennoch hält sich der AR-Hype bis heute, zäh wie ein Dreiwochen-Kaugummi. „Ich bin begeistert von AR“, verriet der Apple-CEO Tim Cook auf einer Preisverleihung in Irland 2018. „Ich glaube, das wird das nächste große Ding und unser komplettes Leben durchdringen. Wir können über einen Artikel sprechen, und zu gleichen Zeit die gleiche Sache betrachten. Oder man liegt unter dem Auto und wechselt das Öl. Wenn man nicht sicher ist, wie das geht, kann man AR benutzen.“
Wirklich? Wahrscheinlich hat Tim Cook niemals einen Ölwechsel an seinem Auto gemacht. Und haben wir nicht längst ganz andere Probleme? Too much information.
Information overload!
(Anmerkung: AR-Systeme sind sehr sinnvoll in komplexen professionellen Orientierungs-Situationen: bei Operationen, in Laboren, bei komplexen Lager-Logistiken, in Reinraum-Fabriken etc.)
Im Jahr 2014 machte der erste „Emotionale Heimroboter“ in den USA Schlagzeilen. JIBO, ein niedliches Gerät für den Wohlfühl-Bereich, mit einem einzigen Auge, das Blinzeln, Zwinkern und sogar böse gucken konnte. JIBO konnte reden, Lieder mit der Familie singen, Fotos machen und den Kindern Gutenachtgeschichten vorlesen. Er brachte es als Erfindung des Jahrhunderts auf die Titelseite des TIME Magazins, als erster „menschlich kommunizierender Computer“. Entworfen wurde er von Cynthia Breazeal, einer MIT-Forscherin, die sich auf emotionale Mensch-Maschine-Kommunikation spezialisiert hatte. Nach etwa 6.000 Auslieferungen des Geräts war Schluss. Die User nahmen das ständige Emotionalisieren von JIBO als nervend und übergriffig wahr.
Den Einsamen machte das Ding ihre Einsamkeit nur noch deutlicher.
Gescheitert ist im Grunde auch das autonome Autofahren – jedenfalls auf absehbare Zeit. Nicht nur, weil uns Elon Musk mit diesem feuchten Traum einfach an der Nase herumgeführt hat. Damit alle Autos autonom herumfahren könnten, müsste man zuerst die Städte, Straßen, die gesamte öffentliche Infrastruktur „autonomfahrgerecht“ umbauen. Eine Welt nur für die Sensoren von Autos konstruieren. Sonst wird es nicht gehen, denn der moderne Verkehr ist ungeheuer komplex. Autonomes Autofahren würde also wieder zu einem MATRIX-Effekt führen: Die Maschinen bauen UNSERE Umwelt in ihrem Sinne um.
Abgesehen davon halten 80 Prozent aller männlichen Autofahrer (90 Prozent der weiblichen) die Idee, das Steuer loslassen zu sollen, für eine blöde Idee.
(Was nicht heißt, dass es nicht in sauber geplanten chinesischen Städten, amerikanischen Vorstädten oder abgegrenzten Arealen Inseln autonomen Verkehrs geben kann.)
Und so sind die digitalen Über-Versprechen reihenweise gescheitert oder tief in die Krise geraten. Die Idee, Krypto-Geld mit gewaltigen (meist fossil betriebenen) Rechenzentren herzustellen und damit reich und sexy zu werden, ist zumindest an ihre Grenzen gestoßen. Gescheitert am Markt sind NFTs, jene Besitzcodes für Kunst, deren Sinn von Anfang an niemand verstand. Gescheitert ist Twitter als demokratisches Debattier-Medium. Gescheitert, jedenfalls in der breiten Anwendung, sind die „intelligenten Sprachassistenten“ – die Vorläufer der Sprachbots. Alexa und Siri werden für Wetterberichte oder Plattensammlungen benutzt, kaum für mehr. Die Amazon-Sprachassistenten-Unit machte 2022 10 Milliarden Dollar Verlust. Ein großer Teil der Mitarbeiter musste gehen.
Weitgehend gescheitert ist Second Life, der Vorläufer des gloriosen METAVERSE. Lag es nur darin, dass es zu wenige Polygone zeichnen konnte?
Ein stockender Markt sind auch die gloriosen VR-Brillen. Jetzt bringt Sony sein neues Modell VR2 auf den Markt. Warum will der Entertainment-Cyberspace einfach kein Massenmarkt werden? Wollen wir nicht alle auf schönen, bunten Planeten mit Zauberern den coolen Monstern entkommen? Wer schon einmal eine Außenbord-Operation an der ISS mit 3-D-Brille gemacht hat (ich habe das), weiß, wo die Grenzen liegen. Es ist wahnsinnig anstrengend. Der Cyberspace macht Übelkeit und Kopfweh, auch und GERADE, wenn er hoch aufgelöst ist. Nach einer halben Stunde Wunderwelt sehnt man sich zurück in die verdammte Realität, in der man Dinge spüren, fühlen, riechen kann. Und festen Boden unter den Füssen hat. Computerpsychologen sprechen von der Realitäts-Nostalgie.
Die Flops erzählen uns Geschichten über die Grenzlinien zwischen HUMANUM und TECHNIKUM. Allerdings muss man diesen Geschichten auch zuhören und sie genau verstehen, um etwas über die Zukunft zu erfahren.
Viele superdigitale Angebote, die heute auf den Markt kommen, sind keine Technologien, die menschliche Probleme lösen sollen. Sondern Technologien auf der verzweifelten Suche nach Problemen.
Semantische KI kann eigentlich keine wirklichen Probleme lösen. Sie kann weder Informationen besser auslesen, denn sie hat kein Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit, die Irrtümer korrigieren könnte. Noch kann sie Kreativität ermöglichen. Sie kann all das nur simulieren, was sie zu „tun“ vorgibt.
Allerdings kann sie neue Probleme schaffen, die sie dann gegen Gebühr zu lösen vorgibt.
Und vielleicht geht es genau darum.
Die Anbieter arbeiten gerade an einer Software, die feststellen kann, ob ein Text von einer KI oder einem Menschen geschrieben wurde. Die Genauigkeit beträgt allerdings nur 30 Prozent. Wer höhere Genauigkeit will, muss demnächst ein UPGRADE zahlen.
Das klingt nach einem echten Geschäftsmodell.
6. Die Fortschrittsfalle
Wird es gelingen, die semantische KI aufzuhalten, oder wenigstens abzubremsen, bis wir ihre Anwendungen sinnvoll differenzieren können?
Diese Illusion sollten wir uns nicht machen.
Der technische Fortschritt verläuft, wie die ganze menschliche Geschichte, nach den blinden Evolutions-Gesetzen von trial and error. Technologien setzen sich nicht in Formen der PRÄstabilisierung durch (ein Begriff des Philosophen Leibnitz), also durch Planung, Voraussicht, Integration. Sondern durch REstabilisierung. In der Bewältigung von Krisen und Fehl-Anwendungen, die mit ihnen erzeugt werden.
Mit anderen Worten: Erst im Scheitern werden wir klüger.
Hoffen können wir auf das Immunsystem der menschlichen Kultur. Es gibt im Umgang zwischen Mensch und Maschine einen Effekt, den Computerforscher „Uncanny Valley“ nennen. Das unheimliche Tal.
Wenn Menschen mit sehr menschenähnlichen Maschinen konfrontiert werden, etwa mit täuschend echt aussehenden humanoiden Robotern, entsteht Ekel. Eine innere Abwehr. Dieser Effekt könnte auch zu einer Art Immunreaktion gegen die semantische KI führen. Gegen die Einsamkeit, in die uns „denkende Maschinen“ stürzen.
So, wie es heute einen Trend zur Fleischverweigerung gibt, könnte es auch eine Anti-KI-Bewegung geben. Nein, ich rede nicht mit Maschinen. Grundsätzlich nicht.
Kann ich jetzt bitte einen REALEN Mitarbeiter sprechen?
Nein? Dann danke ich für dieses Gespräch. Auf Nimmerwiedersehen.
Jeder Trend, der über-mächtig zu werden droht, erzeugt irgendwann einen Gegentrend.
Immer mehr Menschen versuchen derzeit, der Über-Digitalisierung zu entkommen. Den Algorithmen, die unser kommunikatives Leben in hysterische Aufmerksamkeits-Spiralen, Stress und Oberflächlichkeiten verwandelt haben, zu entfliehen.
Immer mehr Menschen verstehen, dass digitale Technologien keine Demokratien retten, Krankenhäuser verbessern oder die Klimaerhitzung stoppen können. Noch nicht einmal eine kaputte Heizung können sie reparieren. Darauf wird es aber in Zukunft besonders ankommen: Die Dinge reparieren.
Wir können auf Gegen-Rebellionen hoffen. Wenn jeder Text nur noch banal ist, alle Bilder nur noch Abklatsch sind – dann wird das ORIGINAL wieder begehrenswert.
Es ist gut möglich, dass der KI-Hype der letzte Größenwahn des Digitalismus ist. Ein lustiges, bizarres Spielzeug, das bald wieder in den Schubladen oder Kellern verschwindet wie sprechende Puppen oder Roboter mit Wackelaugen.
Danach kommt nur noch der magische Quantencomputer, der uns verspricht, schneller rechnen zu können als das Universum selbst.
Vielleicht müssen wir durch diese Versuchung hindurch.
Aber vielleicht müssen wir nicht unbedingt mit Karacho hineinfahren.
Uns festkleben an der Illusion, dass man das genuine Menschliche den Maschinen überlassen kann.
Wie sagte Henry David Thoreau so schön im Jahr 1837?
„Wenn irgendein wirklicher Fortschritt gemacht wird, verlernen und erlernen wir aufs Neue das, von dem wir dachten, wir wüssten es längst.“
Pressezitate
In a new blog post, the company admitted that its Bing Chat feature is not really being used to find information – after all, it’s unable to consistently tell truth from fiction – but for „social entertainment“ instead.
„The model at times tries to respond or reflect in the tone in which it is being asked to provide responses that can lead to a style we didn’t intend,“ the company wrote. „This is a non-trivial scenario that requires a lot of prompting so most of you won’t run into it, but we are looking at how to give you more fine-tuned control.“
The news comes after a growing number of users had truly bizarre run-ins with the chatbot in which it did everything from making up horror stories to gaslighting users, acting passive-aggressive, and even recommending the occasional Hitler salute.
Wofür nutzen wir die künstliche Intelligenz von ChatGPT wirklich?
Erste Erkenntnisse stellen der Menschheit kein gutes Zeugnis aus.
von Michael Moorstedt
Innerhalb weniger Wochen nach ihrer Veröffentlichung haben mehr als hundert Millionen Menschen die KI namens ChatGPT benutzt. Um auf eine derartige Verbreitung zu kommen, haben andere Angebote, die heute das Internet prägen, Jahre gebraucht.
Inzwischen wird eifrig daran gearbeitet, die Anwendung in die bekannten Suchmaschinen- und Officeprogramme zu integrieren. Google kündigte in der vergangenen Woche seine eigene Chat-KI namens Bard an. Von einem KI-Wettrüsten ist schon die Rede. Die Nachrichten, wie sagt man, sie überschlagen sich. Und es festigt sich die Ahnung, dass sich die Art und Weise, wie Menschen Informationen organisieren, grundlegend ändern könnte. Im besten Fall würde diese neue Art der Suche nicht nur Links liefern, durch die sich die Nutzer dann selbständig klicken müssen, sondern gleich fertige Handlungsanweisungen: Computer, was soll ich tun?
Der US-amerikanische Autor und Unternehmer John Battelle hat die bei Google und Co. millionenfach und im Sekundentakt eingegebenen Anfragen einmal als „Datenbank der Intentionen“ bezeichnet. „Diese Informationen stellen in zusammengefasster Form einen Platzhalter für die Absichten der Menschheit dar – eine riesige Datenbank mit Wünschen, Bedürfnissen und Vorlieben, die aufgespürt, vorgeladen, archiviert, nachverfolgt und zu allen möglichen Zwecken ausgebeutet werden kann“, schrieb Battelle. Und weiter: „Ein solches Ungeheuer hat es in der Kulturgeschichte noch nie gegeben, aber es wird von heute an mit Sicherheit exponentiell wachsen. Dieses Artefakt kann uns außergewöhnliche Dinge darüber sagen, wer wir sind und was wir als Kultur wollen.“
Die Absichten und Vorsätze der Welt – hier sieht man sie ungeschönt.
Statt kollektiver Selbsterkenntnis entstand mit der Suchmaschinenoptimierung dann freilich eine riesige Nischenindustrie, die sich darauf versteht, ohnehin populäre Themen weiter zu verstärken und die kollektive Aufmerksamkeit der Nutzer zu Marketingzwecken zu steuern.
Wird es mit der neuen Technologie anders? Lässt sie mehr Selbsterkenntnis zu? Auf der Website showgpt.co kann man nachlesen, was sich die Nutzer von der KI wünschen. Hier werden die Prompts genannten Anweisungen, die andere Nutzer in die Chatzeile tippen, auszugsweise veröffentlicht. Nach einer schnellen Durchsicht ergibt sich ein sehr heterogenes Stimmungsbild: Jemand möchte eine Zusammenfassung von „Moby-Dick“ für die morgige Buchpräsentation. Ein anderer wünscht sich ein fiktives Streitgespräch zwischen Schopenhauer und Nietzsche, darüber, wer der bessere Philosoph war. Die Szene solle bitte in einem Faustkampf enden. Manches ist bemerkenswert einfallslos, wie jener Nutzer, der der KI den Satz „Kannst du neue Geschäftsideen ohne Geld?“ diktiert.
Philosophie-Fanfiktion und fauler Businesszauber – soll es das mit den kulminierten Absichten und Vorsätzen der Menschheit gewesen sein? In Wahrheit muss man nur mal wieder dem Geld folgen. Welche Anwendungen auf Basis künstlicher Intelligenz sind in den vergangenen Wochen und Monaten neu aufgetaucht? Wofür würden die Menschen bezahlen? Was ist, wie es in der Branche heißt, die Killer-App?
Da wäre zum Beispiel bedtimestory.ai. Für eine monatliche Gebühr von 9,99 US-Dollar können gestresste, aber zahlungskräftige Eltern die KI personalisierte Gutenachtgeschichten für ihre Kinder erstellen lassen. In einer ganz anderen Lebenssituation befinden sich wahrscheinlich die Nutzer eines Programms namens Keys. Mit der kann man von der KI erstellte Texte in Dating-Apps nutzen. Die Software reagiert entweder auf die Nachrichten der Person von Interesse, schlägt aber auch flotte Eisbrecher-Sätze oder – am anderen Ende der Konversation – diplomatische Schlussmachformulierungen vor.
Auch wenn die beiden Beispiele sehr unterschiedlich wirken, verdeutlichen sie sehr gut ein Problem. Aus Gründen intellektueller Faulheit versucht man selbst in intimsten Momenten genau die Dinge auszulagern, wegen derer das Leben überhaupt erst bedeutsam wird. Da taucht gleich noch eine Frage an die KI auf: Computer, wann wirst du mich überflüssig machen?
Vor 100 Jahren, in den goldenen Anfängen des 20. Jahrhunderts, zeichnete der Jugendstil-Künstler Winsor McCay im New York Herald wöchentlich eine fantastische Comic-Seite. Sie schilderte die nächtlichen Abenteuer von Little Nemo, einem Jungen im Schlafanzug, der nach dem Einschlafen in eine futuristische Traumwelt gerät. Es ist der Beginn der industriellen Beschleunigung, und ständig geht etwas schief. Möbel beginnen zu laufen, Häuser fliegen davon, der Boden öffnet sich und offenbart Monster, monströse Herren in Anzügen und Zylinder machen alles kaputt. Nemos Schlafanzug wird zum Clownskostüm, und am Schluss fällt der erschöpfte Junge mit seiner Decke aus dem Bett und reibt sich die Augen: „Habe ich das alles nur geträumt?“.
Fühlen Sie sich in diesen Jahren auch manchmal wie Little Nemo in Slumberland?
Und wie ist das mit den „neuen Jahren“?
In einer Neujahrsausgabe des Cartoons tanzt eine Gruppe irrer Greise um ein neugeborenes Kind, dass das NEUE Jahr symbolisieren soll.
So ähnlich geht es uns heute mit der Zukunft.
Das Alte tanzt besoffen im Kreis herum.
Und wir schauen ziemlich perplex aus der Wäsche.
Die Omnikrise
Geht es Ihnen auch so, dass sie das Wort „Krise“ nicht mehr hören können? Ständig werden neue Super-Krisen ausgerufen, vermutet, befürchtet, angekündigt. Die „Verkrisung” der Welt hat ungeahnten Ausmaße angenommen.
Im Englischen hat sich der Begriff polycrisis durchgesetzt, auf Deutsch „Stapelkrise“. Ich selbst finde den Begriff OMNIKrise charmant. OMNI heißt im lateinischen alles, im Sinne von das Ganze, das Zusammenhängende. Omnikrise meint eine Krise, die nicht nur in der äußeren Welt stattfindet. Sondern auch, ja vor Allem, unsere innere Wahr-Nehmung umfasst.
Neurowissenschaftler und Kognitionspsychologen sagen uns schon seit geraumer Zeit, dass die Welt, wie wir sie wahr-nehmen, nicht die „wirkliche“ Welt ist. Es ist aber sehr schwer, das zu glauben, wenn man glaubt, dass das, was man glaubt, die Wahrheit ist.
Vielleicht ist das der wahre Kern der heutigen Krise: Dass wir nicht mehr an so etwas wie Wahrheit glauben können. Eine Omnikrise erzwingt eine kognitive Dissonanz. Innere Wirklichkeit und Wahrnehmung passen plötzlich nicht mehr zusammen. Alles fühlt sich plötzlich verschoben an. Die Realität schmeckt anders. Riecht komisch. Selbst der Fußball, den wir immer so liebten, ist plötzlich etwas ganz anderes geworden. Was rechts ist, was links, was gerecht ist und was Freiheit, steht plötzlich zur Disposition.
Das kann einen echt wahn-sinnig machen.
Wir ahnen gleichzeitig, dass das ALTE NORMAL nicht wiederkehrt. Der ursprünglichen Krisenbegriff geht ja davon aus, dass NACH einer Krise alles so weitergeht wir früher. Das Virus geht, der Frieden kommt, und alles ist wieder „in Ordnung“. Das erste kosmische Gesetz des Universums ist aber die Zahnpasta-Regel. Wenn die Zahnpasta aus der Tube ist, bekommt man sie nicht mehr hinein.
Zeitschleifen
Einer der existentiellen Erfahrungen der letzten Jahre ist, dass der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmt. Wir machen die Erfahrung, dass immerzu die Vergangenheit zurückkehrt, die wir schon lange „entsorgt“ zu haben glaubten.
Die neuesten Streaming-Filmserien spiegeln diese Schleifen-Logik, in der alles unentwegt wiederkommt, wider. In Beforeigners, einer witzigen norwegischen Crime-Fantasy-Serie, landen Reisende aus früheren Epochen — Steinzeit, Wikingerzeit, frommes 18.Jahrhundert – im modernen Oslo unserer Tage. Sie tauchen plötzlich aus Blubberblasen im Hafenbecken auf. Als „Timigranten“ erhalten sie ordnungsgemäß Asyl, und das Ganze ist auch eine nette Satire auf das bürokratische Super-Wohlfahrts-System, das sich in Skandinavien entwickelt hat.
Man merkt aber schnell, dass sie im Grunde immer schon da waren, die Timigranten. Dass die Filmserie in Wirklichkeit von einer multitemporalen Gegenwart handelt, in der die Steinzeit, die Wikingerzeit, das fromme 18. Jahrhundert in gewisser Weise nie aufgehört haben …
In der Langzeitserie Dark irren verschiedene Freundes- und Menschengruppen in einer Kleinstadt so lange in Zeitschleifen herum, bis sich das ganze Universum auflöst. Auch eine Lösung. Ähnliche Phänomene gibt es in den „Stranger-Things“-Serien bei Netflix und Co. In der neuen Produktion der Dark-Autoren, „1899“ gerät ein Auswandererschiff bei der Fahrt über den Atlantik in einen Zeitstrudel, in dem sich alles immer im Kreis dreht.
Wie heißt das so schön? Die Zeit ist aus den Fugen…
Die Vergangenheit kehrt zurück.
Immer wieder.
In einer endlosen Schleife.
Und gleichzeitig verschwindet die Zukunft.
Hinter einem Vorgang an Undeutbarkeit.
So kündigen sich Epochenwandel an:
Das Neue fährt durch den Nebel.
Die große Zukunfts-Enttäuschung
Vor drei Jahren brach ein Virus aus einem Tiermarkt in China aus. Und nutzte die vielfältigen Wege der globalen Welt, um sich bis in den letzten Winkel der Erde zu verbreiten.
Das Virus zeigte uns unsere Verletzlichkeiten. Unsere Abhängigkeiten von- und miteinander, mit denen wir echte Schwierigkeiten haben. Das Virus hat uns auch auf paradoxe Weise klargemacht, wie ERSCHÖPFT wir alle längst waren. Das Alte Normal, dass wir jetzt herbeisehnen, war eben alles andere normal. Es war längst überhitzt, verlogen, verzweifelt. Das brachte uns zur schwierigen Frage, ob wir womöglich Krisen BRAUCHEN, um innezuhalten.
Vor einem Jahr (könnte man den Monat Februar nicht einfach streichen?) ratterten riesige Panzerkolonnen über die ukrainische Grenze. Dieser Krieg zeigte, dass das uralte Böse immer noch existiert. Das Böse aber hatten wir längst abgeschafft, nach Disneyland verbannt, als Missverständnis oder Entertainment definiert. Dass sich das Böse in der Wirklichkeit ausbreiten kann wie eine Epidemie, über Meme, Ideologien, KONSTRUKTE, dass es ganze Gesellschaften kontaminieren kann, haben wir lange einfach ausgeblendet. Obwohl es schon in den Balkankriegen, und spätestens seit dem 11. September und dem Islamischen Staat klar war: Menschen sind nach wie vor zu unfassbaren Verbrechen fähig, wenn sie sich in irgendeinen dunklen Glauben verrannt haben. Das Zeitalter der Rationalität ist auch gleichzeitig das Zeitalter der rasenden Irrationalität.
Enttäuschungen schmerzen. Wir wollen sie nicht wahr-haben, um keinen Preis, denn dann müssten wir ja zugeben, dass wir uns geirrt haben.
„Kritik der Enttäuschung ist streng genommen nicht berechtigt“, schrieb Sigmund Freud 1915, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs. „Denn sie besteht in der Zerstörung einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, dass sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, dass sie irgendeinmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.“
Sigmund Freud, Gesammelte Werke 10, Die Enttäuschung des Krieges, 1915
Irren ist nicht nur menschlich, es ist auch notwendig. Und Enttäuschungen können auch produktiv, ja zukunftsweisend sein, wenn wir sie mit Bindestrich schreiben. Lassen wir es auf der Zunge zergehen: ENT-Täuschung.
Wenn wir uns von Täuschungen befreien, kann die Welt wieder frisch werden.
Wir können sie mit neuen Augen, mit klarem Blick sehen.
Und vielleicht auch wieder einen klareren Blick auf die Zukunft werfen.
Dem Philosophen und Psychotherapeuten Paul Watzlawick („Anleitung zu Unglücklichsein“) verdanken wir die Erkenntnis, dass man echte Probleme nicht auf derselben Ebene lösen kann, auf der sie entstanden sind. Wenn man immer mehr von den alten Mitteln und Methoden einsetzt, wird das Ergebnis immer kleiner. Das ist der kollektive Stress, den wir heute, im Abgang der alten, fossilen Industriegesellschaft erleben. Immer höherer Einsatz veralteter Rezepte mit immer geringerem Grenznutzen.
Zur „Lösung“ brauchen wir einen Wechsel auf die nächste Ebene, ein „Reframing“ der Sichtweisen. Watzlawick nannte das „Lösungen zweiter Ordnung“.
Lob der Desillusionierung
Hier einige Illusionen, von denen wir uns produktiv ent-täuschen könnten:
Die Illusion, dass alles immerzu MEHR werden kann, ohne irgendwann seine Qualität zu verlieren.
Die Illusion, dass Fortschritt durch Ersetzen des Alten durch das radikal Neue entsteht (Disruptions-Ideologie).
Die Illusion, dass Technik ALLES lösen kann. Eine der größten Technomanien geht soeben zu Ende: Die Digitale Illusion. Die versprochenen Produktivitätsgewinne der Informationstechnologien sind weitgehend ausgeblieben (sie betrafen eher die Gewinne der Digitalfirmen als die breite Wirtschaft). Dort, wo das Internet die menschliche Kommunikation überformte, sind unfassbare Folgeschäden für die sozialen Zusammenhänge entstanden, die wir immer noch leugnen oder verdrängen. Wir leben in einer Phase des „Digital burnout“, oder des Techlash. Weite Teile der Internetökonomie, etwa die Kryptowährungen, erweisen sich derzeit als Luftnummern. Den Rest räumt Elon Musk gerade ab.
Die Illusion, dass das Böse von alleine aus der Welt verschwindet.
Die Illusion, dass komplette Autonomie möglich ist.
Die Illusion, dass Wirklichkeit und Wahrheit dasselbe sind …
Undsoweiter.
Die Zukunfts-Verschwörung
Ich halte nichts von guten Vorsätzen zu Jahresbeginn, und auch nicht von Stimmungs-Aufrufen. Sinnvoller wäre es, etwas miteinander zu vereinbaren. In der Unschuld des neuen Jahres möchte ich versuchen, mich mit Ihnen zu verschwören. Wir könnten untereinander beschließen, drei Aspekte zu berücksichtigen, die für die wahre Zukunft essentiell sind:
Akzeptanz
Wir sind es gewohnt, „kritisch“ zu sein. Dagegensein, gegen ALLES und vor allem „die da oben“, ist eine allgegenwärtige Pose geworden. Wir haben uns von Bürgern in Konsumenten verwandelt. Am liebsten würden wir alles, was uns nicht gefällt, reklamieren und zurückschicken. Wie bei Amazon, kostenlos.
In einer Zeit des Wandels verwandelt sich das ewige DAGEGENSEIN jedoch in infantile Nörgelei.
Es wird Zeit, auch mal wieder einmal etwas GUT zu finden.
FÜR etwas einzustehen.
Etwas zu verteidigen.
Dazu gehört das Eingeständnis, dass sich vieles, was wir, einfach erwarten, nicht immer zur Verfügung steht. Aber nicht, weil böse Absichten oder unfähige Menschen dahinterstecken.
Es gibt einfach „Wicked Problems“. Das sind verhexte, komplexe Probleme, die sich nicht so einfach lösen lassen.
Nehmen wir das Gesundheits-System. Es ist weder „skandalös unterfinanziert“ noch „versagt“ es die ganze Zeit. Es ist nur verdammt schwierig, ein hochkomplexes Gesundheitssystem zu organisieren, zu finanzieren, laufend zu verbessern. Das Gesundheitssystem leidet unter einem Paradox, dass es von innen heraus „paradox verhext“. Je älter wir werden, desto mehr Krankheiten entwickeln wir. Je mehr medizinische Erfolge möglich sind, desto multimorbider werden die Menschen. Und desto teurer wird alles. Das Gesundheitssystem (eigentlich ist es ja ein Krankheitssystem) erzeugt also seine Krise durch seinen Erfolg. Da es nicht mit der Vorsorge, mit gesunden Lebensweisen der Menschen, durch einen positiven Feedback-Loop verbunden ist, ist es in einer Systemfalle eingeschlossen. Man müsste es völlig dekonstruieren und neu konzipieren, um es aus dieser Falle zu befreien.
Aber versuchen Sie das einmal…
Ein hochmodernes Zugsystem, in dem alle Züge IMMER pünktlich fahren, ist nur in einer total kontrollierbaren Umwelt möglich. Sozusagen als Modelleisenbahn. Schnurgerade Trassen durchs ganze Land kann man in Japan oder China bauen, wo die Eigentumsverhältnisse so sind, dass man jederzeit für eine Bahntrasse enteignen kann.
In einem topographisch so vielfältigen und von sehr differenzierten Mobilitätsmustern durchzogenen Land wie Deutschland ist das sehr schwer. Aber wir erwarten natürlich, dass das System perfekt funktioniert.
Sonst werden wir sehr wütend.
Armut ist ein ganz besonderes „Wicked Problem“, vor allem in einem Wohlstandsland. Der klassische Moralismus behauptet, die Ursache von Armut wäre der Mangel an Geld. Aber Geld ist nur EIN Faktor. Dauerhafte Armut in einer reichen Gesellschaft ist eher das Resultat mangelnden Zugangs. Zu Kompetenzen, Verbindungen, Kulturtechniken. Zu Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen. Geld allein verschiebt nur die Grenzen zwischen dem, was als arm und nicht-arm empfunden wird. Die allseits geforderten Basis-Einkommen könnten das Problem sogar noch verschärfen.
Es geht nicht darum, alles „kritiklos gut zu finden“. Aber etwas Schwieriges als schwierig anzuerkennen befreit uns von dem Fluch, unsere Ansprüche immer höher zu hängen, und dann immerzu an ihnen zu scheitern. Es bewahrt uns auch an der rüden Abwertung der Leistung Anderer, die meistens mit der wohlfeilen Kritik an Allem und Jedem verbunden ist.
Meinungsverzicht
Die größte Zukunfts-Kunst besteht darin, auf Meinungen zu verzichten.
Nein, ich will nicht die Meinungsfreiheit beschneiden. Es ist nur die Frage, welche FUNKTION Meinungen in einer hypermedialen Gesellschaft wie der unseren eigentlich erfüllen.
Früher waren Meinungen ein Zeichen für Differenzierung. Für die Entwicklung geistiger Eigenständigkeit. Meinungen erweiterten das Bewusstsein, indem sie sich mit anderen Meinungen trafen und sich zu einem GESAMTBILD verbanden. Zu WAHRHEITEN verdichtet werden konnten. Meinungen waren mit dem Interesse verbunden, von anderen Meinungen zu lernen.
Heute, in einer hypermedialen Gesellschaft, in der es vor allem auf Erregung und Aufmerksamkeit ankommt, wirken Meinungen in eine völlig andere Richtung. Sie müssen möglichst abseitig sein, möglichst aggressiv, um „Klicks“ zu erzeugen. Klicks sind Erregungen im Hirn, die unsere Aufmerksamkeit fesseln. Sie werden leicht zu Aggressions-Elementen. Zu parasitären MEMEN. Die Welt wird VERMEINT, mit der ausschließlichen Absicht, die eigene Meinung millionenfach durchzusetzen. Was aber dem Wesen der Meinung, die ja in ihrem Wesen anschlussfähig an andere Meinungen sein sollte, widerspricht.
Wie sagte der Psychologie-Philosoph Paul Watzlawick so schön? „Die eigentliche Ursache des Leids liegt in unserer Unwilligkeit, Tatsachen als reelle Tatsachen und Ideen als bloße Ideen zu sehen, und dadurch, dass wir ununterbrochen Tatsachen mit Konzepten vermischen. Wir tendieren dazu, Ideen für Tatsachen zu halten, was Chaos in der Welt schafft.“
Üben wir deshalb zusammen die Kunst, auf Meinungen zu verzichten. Nicht alles unentwegt zu bewerten. Das ist am Anfang schwer. Aber wir werden auch belohnt: Es öffnet sich eine neue Tür zur Wirklichkeit. So wie der Verzicht auf Völlerei den Genuss wieder ermöglicht. Und wir lernen wieder, etwas zu tun, was wir seit unserer Kindheit für uncool hielten. Staunen.
Staunen
Wir sind, auch das hängt mit der Übermedialisierung zusammen, unfassbar abgeklärt. Wir wissen ja alles schon. Uns kann niemand mehr ein X für ein U vormachen (obwohl wir manchmal U und X gar nicht unterscheiden können). Wir sind scheinbar allwissend. Wir können ja alle „Informationen“ sofort aus dem Internet ziehen, und dann wissen wir Bescheid.
Weil wir uns in einer Wissens-Illusion befinden, können wir nicht mehr STAUNEN. Staunen findet statt, wenn eine positive Kognitive Dissonanz stattfinden. Wir werden sozusagen „nach oben“, ins Positive, enttäuscht.
Paul Watzlawick hat von der „sanften Kunst des Umdenkens“ gesprochen, die damit verbunden ist, dass wir die Welt mit neuen Augen sehen lernen.
Es gibt eine Menge „Experten“, Professoren, Spezialisten, die sich als professionelle Schlechterwisser betätigen. Schlechterwisser sind jene Neunmalklugen, die sich auf eine Unmöglichkeits-Theorie spezialisieren, etwa „Staatsschulden werden die Welt ruinieren“ oder „Ausländer verderben die Kultur“. Sie bringen es im Allgemeinen zu großem Ruhm in Talkshows oder „kritischen“ Medien, in denen der Negativitäts- und Angstbedarf hoch ist. Sie benehmen sich aber wie Elefanten im Porzellanladen der Hoffnungen und Lösungsmöglichkeiten. Sie wollen beweisen, dass nichts gelingen kann, und dabei produzieren sie enorme negative Energien.
In der Wirklichkeit erlebt man dann oft, dass die angesagten Katastrophen nicht passieren. Dass es sich um KONSTRUKTE handelte.
Ich träume von einer Kultur, in der man für seine negativen Zukunfts-Bilder selbst verantwortlich ist. Wie wäre es, wenn für jede Anklage, jede Defizit-Verkündung, jeden Jammeranfall, auch ein ernsthafter konstruktiver Vorschlag gemacht werden müsste? Das würde viele sinnlose Diskussionen zumindest in ein interessantes Chaos verwandeln….
STAUNEN ist die Gegenkraft gegen die Verzweiflung.
Staunen ist eine Form des menschlichen MIND, das Unerwartete wahrzunehmen. Und sich dabei mit der Zukunft zu verbünden.
Wie sagte der wunderbare Psychiater Stephen Grosz? Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir gehen.
sondern eine IDEE in unserem heutigen Bewusstsein.
Etwas, das wir erschaffen
Und das uns dabei verwandelt.
Anstatt wie üblich zu fragen: Was kommt auf uns zu? könnten wir schließlich die Fragerichtung der Zukunft umdrehen:
Was erwartet die Zukunft VON UNS?
Lassen Sie diese Frage eine Weile auf sich wirken. Merken Sie, wie sich die Perspektive verändert? Die Zukunft wird zu etwas Lebendigem, wenn wir uns in eine aktive Beziehung zu ihr setzen.
Die Zukunft braucht uns.
Zukunft ist eine Entscheidung.
Nehmen wir die Bettzipfel in die Hand, und machen uns auf den Weg zu den Monstern und Wundern. Dass wir dabei aus dem Bett fallen, und uns die Augen reiben, ist ganz natürlich. Rappeln wir uns wieder auf. Träumen wir weiter. Nicht überall warten nur Monster. Es gibt auch eine Menge Zauberhaftes.
Ein interessantes Neues Jahr wünscht Ihnen,
Ihr Matthias Horx
“
„The future is a dimension we need to pay attention to, because we are all stakeholders of it.“
Seth Goldenberg
wie jedes Jahr möchte ich Ihnen „zwischen den Jahren“ etwas Zu-Muten. Ich möchte Ihnen MUT zusprechen (beziehungsweise zu-schreiben).
70 bis 80 Prozent der Deutschen (in anderen Ländern ist es nicht viel anders) sehen dunkel in die Zukunft. Ich weiß nicht, ob Sie dazugehören. Aber was fangen wir damit an, dass so viele Menschen überzeugt sind:
ALLES WIRD IMMER SCHLECHTER!
ALLES!
An dieser Überzeugung möchte ich ein bisschen rütteln. Ganz sanft.
Fangen wir mit einem Wahrnehmungs-Experiment an. Lesen Sie bitte diese Meldung ruhig und aufmerksam: Nach dem internationalen Walfangverbot von 1946 (das 1986 in ein allgemeines Moratorium des Walfangs umgeformt wurde) haben sich die meisten der 80 Unterarten der weltweiten Walbestände erholt. Einige Arten wie der Buckelwal sind schon weitgehend zu ihren alten Beständen (80.000 Exemplare) zurückgekehrt. Pottwale, Minkwale, Orkas, selbst die selten geworden Blauwale vermehren sich kräftig und ziehen wieder in großen Schwärmen und Familien durch die Meere. Und sind bis auf wenige Ausnahmen (etwa Nordkaper) heute nicht mehr vom Aussterben gefährdet …
Was löst diese Meldung in Ihnen aus? Lassen Sie mich raten: Erstmal sind Sie skeptisch. Misstrauisch. Woher stammt diese Meldung? Von der Lebertran-Industrie? Schnell schauen Sie im Internet nach. Dort stoßen sie auf Geschichten über Wale, die Plastik verschlucken und daran verenden, am Ufer gestrandet sind, in Japan immer noch gejagt werden … Über die heutigen Walpopulationen gibt so gut wie keine Veröffentlichungen. Auch bei Wikipedia – nichts über die heutige Situation!
Der Punkt ist: Diese Meldung existiert nicht.
Und trotzdem ist sie wahr.
Positive Entwicklungen sind eine Leerstelle in unserer Wahr-Nehmung.
Wir können uns nicht über Erfolge freuen.
Und wenn es Erfolge gibt, erwarten wir Perfektion.
Und das ist ein gigantisches Problem.
Für die Zukunft.
Das menschliche Gehirn ist als Gefahrenmelder konstruiert. Als große Alarmglocke. Wir nehmen negative Meldungen zehnmal intensiver wahr als positive. Wir GLAUBEN auch den negativen Meldungen viel häufiger – obwohl sie viel öfter übertrieben oder sogar falsch sind.
Positive Entwicklungen sehen wir sehr oft als Verharmlosungen.
ABERISMUS und Whatsboutismus
Sie werden wahrscheinlich bemerkt haben, dass in Ihrem Hirn sofort eine Suchoperation nach dem Prinzip „ABER“ begonnen hat: WENN das mit den Walen tatsächlich stimmen SOLLTE (Sie sind ja skeptisch!), WAS ist dann mit den Korallenriffen, dem Arten- und dem Wäldersterben, der Klimakatastrophe …?
Das ist eine Variante des Whatsaboutismus. Ihr Hirn sucht nach vergleichbarem Negativem, um die grundnegative Voreinstellung aufrechtzuerhalten.
ABERISMUS ist eine Art Grund-Denkmuster. Lesen Sie einmal in einem Meinungsmedium wie dem „SPIEGEL“ nur die Überschriften und Vorspänne. In 80 Prozent geht es um Schreckliches, Gefährliches, Drohendes, Negatives. Wenn es doch einmal etwas Positives gibt, steht spätestens in der zweiten Zeile ein fettes ABER.
Wenn die Kriminalitätsrate sinkt, könnte sie ja wieder steigen.
Wenn sich die Regierung einigt, könnte sie sich ja wieder zerstreiten.
Wenn die Wirtschaft sich erholt, könnte es ja demnächst eine tiefe Rezession geben.
Wenn die Mittelschicht NICHT „auseinanderbricht“, könnte sie ja demnächst verarmen.
Nie kann etwas „für sich“ positiv sein. Jede Verbesserung erzeugt sofort die nächste Gefahr, die nächste Krise. Alles wird an einem Ideal gemessen, das kaum erreichbar ist. Das ist die Doom spiral trap. Die Abwärtsspiralenfalle.
Denken wir einmal andersherum: Wenn die internationale Gemeinschaft die Wale, diese wunderbaren Meeressäugetiere, weitgehend retten konnte –, könnte so etwas nicht auch mit anderen Herausforderungen gelingen?
Etwa mit der Erderhitzung?
Es stimmt: Die bisherigen Veränderungen reichen noch nicht aus. Aber die Menschheit hat es immerhin geschafft, sich von einem Erwärmungspfad von vier, fünf Grad zu entfernen. Jetzt geht es darum, um zwei Grad zu kämpfen. Und das zu erreichen, ist keineswegs aussichtslos.
Stellen wir uns vor, die Klimawende würde generell sogar ganz gut funktionieren. Trotz, oder gerade WEGEN des ewigen hässlichen Streits, der sich darum entfacht hat (siehe dazu diesen Text von Robinson Meyer in „The Atlantic”: The Paris Agreement Is Working … for Now).
Sofort meldet sich der negative Zwerg in uns. Also NEIN, das geht ja GAR nicht! So DARF man nicht argumentieren! Der Zwerg wird richtig wütend. Er behauptet, dass es UNVERANTWORTLICH ist, so etwas zu behaupten. Verharmlosung! Das grenzt an Klimaleugnung!
Es gibt längst so etwas wie Negativ-Tabus. Untergänge, denen nicht widersprochen werden darf.
Wir leben in einer kollektiven, medial verstärkten Negativ-Blase.
In einer apokalyptischen Arroganz.
Einem UNGLAUBEN gegenüber der Zukunft.
Der selbstherrlich ist.
Weil er die vielen Verbesserungen,
Die Segnungen und Fortschritte.
Das Engagement der Engagierten.
Abwertet. Ignoriert. Geringschätzt.
Nicht wahrnimmt und würdigt.
Wie kommen wir da raus?
Die folgenden „Trendmeldungen“ stammen zu einem großen Teil von der australischen Konstruktiv-Journalismus-Seite futurecrunch.com.
Versuchen Sie beim Lesen, Ihrem inneren Aber-Teufel und dem Negativen Zwerg einmal eine Auszeit zu gönnen.
Genießen Sie es einfach einmal – das Positive!
Lassen Sie sich positiv verblüffen!
“
„Pessimisten haben immer recht. Meine Befürchtung ist, dass sie dermaßen davon begeistert sind, dass sie keine Anstrengungen unternehmen, falsch zu liegen.“
Steward Brand
Good News 2022
Zwischen den Jahren 2000 und 2020 hat der Anteil der Menschen mit Zugang zu sicherer Wasserversorgung von 3,8 auf 5,8 Milliarden zugenommen. 2 Milliarden Menschen mehr in nur 20 Jahren können heute sauberes Wasser nutzen! World Health Organization
Der Zugang zu ELEKTRIZITÄT stieg in einem ähnlichen Zeitraum von 83 Prozent auf 91 Prozent. (Der hoffentlich vorübergehende Ausfall der Elektrizität in der Ukraine wird diesen grundlegenden Trend nicht zerstören.) trackingsdg7.esmap.org
Der Anteil von Menschen, die mit Holz, Holzkohle, Kerosin, Dung oder gar Müll/Plastik kochen, fiel von 53 Prozent auf 36 Prozent weltweit – was heißt, dass 2,5 Milliarden Menschen MEHR jetzt elektrisch oder mit sauberen Öfen kochen. futurecrunch.com
Die Kinderarmut in den USA ist in den letzten 25 Jahren um 59 Prozent gesunken. 1993 lag die Armutsrate noch bei eins zu vier, heute bei eins zu zehn. Die Zahlen sind zwar nur bis 2019 erhoben, die Corona-Jahre haben aber nach den ersten Schätzungen den Trend nicht wesentlich gebrochen. www.childtrends.org
Überhaupt hat sich ein verblüffender Gegentrend zur sozialen Spaltung in den USA entwickelt: Das Ungleichheitsproblem hat sich dort zum ersten Mal in einer Generation verbessert. Die Armutsrate der USA fiel 2021 um 7, 8 Prozent. Der Wohlstand der unteren 50 Prozent verdoppelte sich in den letzten 2 Jahren. Man vermutet, dass dieser Effekt mit der neuen Arbeitsknappheit nach Corona zusammenhängt – die Löhne können steigen, und die Nachfrage nach Jobs ist größer als das Angebot. Bloomberg
Der Anteil von Früh-Schwangerschaften ist WELTWEIT von 64 pro 1000 Mädchen im Jahr 2000 auf 42 gesunken. Und zwar in ALLEN Regionen der Welt (mit geringen lokalen Ausnahmen). www.who.int
Korallenriffe können sich in einem erstaunlichen Ausmaß selbst regenerieren. Im Jahr 2015 fegte einer der drei schlimmsten je beobachteten El Nino-Ströme über die Korallenriffe der pazifischen Insellinien und zerstörte die Hälfte von ihnen. Sechs Jahre später blühten die Korallenriffe dort wieder, mit mehr als 43 Millionen Kolonien pro Quadratkilometer. National Geographic
Maßnahmen zur Vermeidung von Nahrungsmittelverschwendung fangen an zu greifen. In London beginnen Händler, keine Ablaufdaten mehr auf Packungen zu drucken. In Kalifornien und Frankreich wird unverkäufliche Ware zu bestimmten Zeitpunkten von den Supermärkten ausgegeben. Und Südkoreas konsequentes Recycling/Kompostierungsprogramm wirkt: Im letzten Jahrzehnt sankt der Food waste von 3400 auf 2800 Tonnen pro Tag. New York Times
In Schottland, einst ein einziger dichter Wald, entwickelt sich ein äußerst spektakulärer Wiederaufforstungs-Trend. Einerseits wird er von ausländischen „Green Lairds“ (Grünen Landlords) getrieben, die große Mengen von Land aufkaufen und aufforsten. Unter ihnen auch reiche Amerikaner, die oft Widerstand von Jägern und Naturschützern erleben, die den „natürlichen“ Zustand des Landes schützen wollen (der aber gar nicht „natürlich“ ist). Andererseits gibt es aber auch Initiativen aus den Communities wie die Tarras Valley Nature Reserve. The National
Die erste Ernte einer sehr klimanützlichen Pflanze ist eingebracht: Einige Tonnen der Alge Asparagopsis wurde an der Küste von West-Australien geerntet. Wenn man sie dem Futter für Kühe zumischt (5 Gramm pro Kilogramm genügen), stoßen diese bis zu 95 Prozent weniger Methan aus. Asparagopsis-Farmen könnten weltweit ein riesiges Geschäft werden, von bis zu 100 Millionen Dollar jährlich bis 2025, da die Anwendung als Klimaausgleichs-Bonus verkauft werden kann. www.abc-net.au
Ja, es gibt vollstreckte Todesurteile in der Diktatur Irans. Unfassbare Brutalität. Aber im gleichen Jahr wurde die Todesstrafe in Malaysia, Sambia, der Zentralafrikanischen Republik, Papua New Guinea und Equatorial Guinea abgeschafft. In 70 Prozent der Staaten sind Todesurteile jetzt gesetzlich nicht mehr möglich.
Ja, es gab in diesem Jahr schrecklich viel Gewalt gegen Frauen. Und gegen sexuelle Minderheiten. Aber Pakistan verabschiedete ein strenges Gesetz zum Schutz von Frauen am Arbeitsplatz. Indiens höchstes Gericht verbietet der Polizei die Verfolgung von Prostituierten und gab ihnen das Recht zu Sozialleistungen, Wahlrecht und Bankkonten. Die Philippinen untersagten Kinder-Heirat und erließen Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen. Kolumbien dekriminalisierte Abtreibung, Mexiko ebenso wie Sierra Leone verbesserte reproduktive Rechte, und in Liberia wurden ähnliche Gesetze auf den Weg gebracht. Slowenien legalisierte Same-Sex-Heiraten (das 31. Land), ebenso wie Kuba nach einer Volksabstimmung. Singapur ebenso wie Antigua, und Barbuda dekriminalisierte Homosexualität … die Liste ist noch länger, aber es soll einstweilen genügen.
Kleine Test-Zwischenfragen:
Wie viele Morde gab es im letzten Jahr (2021) in Deutschland, einem Land mit 83 Millionen Einwohnern?
Antwort: 220 de.statista.com
Wie hoch ist der Durchschnitt der Jahres-Schätzung von Morden in Deutschland in einem gut durchmischten Publikum bei Vorträgen? 2.500 (eigene Test-Erfahrung)
Wie viele Deutsche glauben, dass die Gewalt- und Mordrate STEIGT? 60 Prozent
Wie viele grausige Morde sieht ein durchschnittlicher Bürger jedes Jahr in Fernsehen, Film, Kino, Internet? Das ist schwer zu schätzen.
Laut dem Media Activity Guide benutzen Deutsche 4 Stunden täglich das Fernsehen, 80 Minuten das Internet, 70 Minuten das Smartphone. In jedem zweiten Film kommen Mord- und Totschlag vor. Pro Krimi gibt es statistisch 2,5 Tote. Es gibt eine ganze „Crime Industry“, die einen großen Teil unseres medialen Kosmos ausmacht.
Pakistan, von Überschwemmungen gebeutelt, ist gleichzeitig eine der am wenigsten berichteten Entwicklungs-Erfolgsgeschichten der letzten Dekaden. Zwischen 1990 und 2019 stieg die Lebenserwartung um 7,2 Jahre, die Schulzeit um 2,9 Jahre, das Einkommen um 64 Prozent, der Anteil der Menschen unter der Armutsgrenze sank von 50 auf unter 20 Prozent. hdr.undp.org
Vor drei Jahren startete Pakistan das „Zehn-Billiarden-Baum-Projekt“, was viel kritisiert wurde – heute ist das Land auf der Zielgerade für 15 Milliarden Bäume. Auch die benachbarte Mongolei macht mit und spendiert 1 Prozent seines GDP für eine Milliarde Bäume, um die Wüstenbildung einzudämmen. dunyanews.tv
Noch vor der Artenschutzkonferenz in Montreal im Dezember wurden 2022 Millionen Quadratkilometer Land unter Naturschutz gestellt. Zum Beispiel die Calakmul Biosphere Reserve in Mexiko mit 1,3 Millionen Hektar. Oder 4000 Quadratkilometer Wald in Belize, Guatemala, Bangladesh (Mongabay). Oder Indonesiens neues Raja Ampat Archipelago, wo Korallenriffe und wunderschöne Küstenregionen geschützt wurden. Ecuador erweiterte die Rechte der Indigenen zum Schutze der Wälder. Burundi pflanzte 150 Millionen Bäume, um die Existenz von Dorfgemeinschaften zu sichern, und Afrikas Great Green Wall funktioniert jetzt in Niger, wo erstaunliche 200 Millionen Bäume gepflanzt wurden. Auch Indonesien schaffte signifikanten Fortschritt beim Schutz seiner tropischen Sumpfgebiete.
Man kann die Opfer von Corona auch andersherum rechnen. Covid-Vakzine retteten nach neuesten Rechnungen 19,8 Millionen Menschen vor dem Tod. Allein Indien vermied 4,2 Millionen Covid-Tote, die USA 1,8 Millionen. Dank der schnellen Fortschritte bei den Impfungen stehen immer mehr Mittel auch gegen andere infektiöse Bedrohungen zur Verfügung, etwa gegen das in Europa stark kursierende RS-Virus. www.vox.com
Wladimir Putin ist der beste Transformator von dumpfer Fossilität zu einer Welt der erneuerbaren Energien. Im Jahr 2022 schaltete die Entwicklung der Erneuerbaren in einen neuen Gang, auch wenn man das in Deutschland, wie üblich, nur als STREIT wahrnimmt. Die IEA erhöhte ihre Prognose zum Ausbau der Erneuerbaren wie noch nie, um 76 Prozent im Vergleich zu vor zwei Jahren und geht jetzt davon aus, dass die Kohle endgültig im Jahr 2025 überholt sein wird. www.iea.org
19 Europäische Staaten erhöhten angesichts des Krieges ihre Pläne für die Erneuerbaren, und schon aus Kostengründen werden sie diese Zusagen auch einhalten (müssen), 9 Anrainerstaaten der Nordsee entwickelten einen massiven Ausbauplan für Offshore-Windkraftwerke. Am kräftigsten wird der Anteil aber beim „Carbon-Weltmeister“ (pro Kopf) USA steigen, wo massive staatliche Investitionen nach Ansicht vieler Analysten einen starken Widerstand gegen die Dekarbonisierung überwunden haben. Man schätzt, dass allein die Erfüllung der Renewable-Pläne der USA ein ganzes Grad Erderwärmung „sparen“ könnten. Schon jetzt erleben die USA einen Riesen-Boom von Solarinstallationen auf Dächern, das Gros der amerikanischen Autoindustrie setzt massiv auf E-Cars. The Atlantic
China wird gerne als der größte Klimasünder von allen gebrandmarkt. Jetzt aber mehren sich die Zeichen für einen Tipping Point des Carbon-Ausstoßes Chinas noch in diesem Jahrzehnt. Allein der Windenergie-Anlagen-Zubau 2020 – 2025 wird 870 Megawatt betragen, das ist so viel wie die gesamte vorhandene Kapazität der USA. Die heutige Jahresproduktion von Solarzellen von 295 GW (ca. 200 Kernkraftwerke) wird nach den Marktberechnungen auf 940 GW im Jahr 2025 steigen, das sind 6 Prozent der gesamten Stromproduktion der Welt JÄHRLICH. Dadurch werden zahlreiche Kohlekraftwerks-Bauten storniert, weil sie sich immer weniger rechnen. Lauri Myllyvirta PV Magazine
Viele überdimensionale Solar- und Wind-Projekte sind geplant, wie eine Offshore-Windfarm von gigantischen Ausmaßen bei Chaozhou, mit 43 Gigawatt, das sind rund 38 große Atomkraftwerke.
Kennen Sie auch Leute, die ständig über die Umweltschädlichkeit von Lithium als Rohstoff für die Elektromobilität reden (nicht selten Männer mit erheblichen Auspuffen an ihren Autos)? Nur ein paar Zahlen: Im Jahr 2021 wurden 4,2 Milliarden Tonnen Öl gefördert, 40.000 Mal so viel wie Lithium. Insgesamt wurden bislang 160.000 Tonnen Lithium geschürft, im Vergleich zu 68 Millionen Tonnen Aluminium und sagenhaften 2,6 Billionen Tonnen Eisen. Lithium kann man übrigens auch aus Grundwasser gewinnen, es ist fast überall vorhanden. Und es lässt sich recyceln. Die ersten Anlagen laufen gerade an. Bloomberg
Die Verkäufe von Elektroautos erreichen 2022 über 10 Millionen gegenüber 6,6 Millionen im letzten Jahr. Das ist noch sehr wenig, aber die Kurve steigt derzeit schnell an; sie geht in den exponentiellen Teil über. E-Autos sparten bereits 1,7 Millionen Barrel Öl bis Ende 2022 ein. In China allein waren 30 Prozent der Neukäufe elektrisch (2021: 13 Prozent), in Norwegen 90 Prozent. Die Investitionen in den CO2-freien Transport-Sektor weltweit stehen heute bei 450 Milliarden Dollar, besonders bei E-Lastwagen sind enorme Fortschritte sichtbar.
Folgende Tierpopulationen haben sich 2022 deutlich erholt oder sind in eine günstigere Position gekommen (kleiner Auszug):
Tiger
Saiga-Antilopen
Gabon-Elefanten
Giraffen
Einhornige Nashörner
Goldener Löwen-Tamarin
Wölfe
Rhinos
Northern Spotted Owl
Haie
Schildkröten
Pirarucu
Atlantischer Kabeljau
Thunfisch
Fischadler, Kranich und Löffelstör,
Kondore
… to be continued!
Hat Deutschland wirklich nichts erreicht mit seiner „Energiewende“? Sind die erneuerbaren Energien nicht eher durch Kohle und Atomkraft ersetzt worden, führt der Ukraine-Krieg also geradewegs in die Re-Fossilisierung? Das ist ein weit verbreitetes Negativ-Gerücht in deutschen Medien. Sehen Sie hier die Zahlen von einer anderen Warte aus betrachtet: Chadvesting.
Übrigens: Die erwarteten Zuwächse von Wind- und Solarenergie-Zubau in Deutschland sind in diesem Jahr auf dem erwarteten Pfad geblieben. (Quelle: „DIE ZEIT“)
Die CO2-Ausstöße der Welt werden mit einiger Wahrscheinlichkeit noch in diesem Jahrzehnt ihren PEAK erreichen (was allerdings nicht heißt, dass der atmosphärische Anteil von CO2 schnell sinkt; das dauert Jahrzehnte). Die Weltdatenbank ourworldindata.org hat die neuesten Daten der CO2-Entwicklung veröffentlicht, und darin zeigen sich interessante Anhaltspunkte. Wenn wir die langfristigen CO2-Ausstöße verfolgen, wird deutlich, dass die Kurve in den letzten Jahren deutlich abgeflacht ist. Corona brachte eine Zickzack-Linie in den Verlauf, was auf einen bevorstehenden „Tipping Point“ hinweisen könnte.
Auch wenn die CO2-Ausstöße momentan wieder steigen, sind „Langfrist-Entwicklungen“ sichtbar, die in eine positive Richtung weisen. Der „ECONOMIST“ veröffentlichte eine Grafik, die das Verhältnis von CO2-Senken und -Zuwächsen darstellt:
Interessant ist auch der Verlauf der Per-Capita-Emissionen, die im globalen Maßstab stagnieren, in den großen Industrienationen aber deutlich fallen. Da die Weltbevölkerung immer weniger wächst, deutet sich hier eine Wende an:
Wann WÄRE es denn genug?
KANN es JEMALS genug sein?
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass viele dieser Meldungen aus anderen Regionen der Erde stammten. Das führt zu einem seltsamen Reflex des Aussortierens: Geht mich das was an? Was habe ich damit zu tun, wenn in Vietnam die Armut sinkt oder in Pakistan Mangrovenwälder geschützt werden?
Wir stoßen hier auf den Effekt des katastrophischen Narzissmus. Wir nehmen nur Entwicklungen wahr, die in unser KONZEPT, unser momentanes Erwartungssystem von Bedrohungen passen.
In Umfragen zum Zukunftsbild der Menschen stoßen wir auch immer wieder auf das Phänomen des apokalyptischen Cocoonings. Wenn man Menschen nach ihrem eigenen Befinden in ihrem Nahbereich fragt (Familie, Nachbarschaft, Dorf, Stadt), antworten sie meistens: „Ganz gut, ich habe Hoffnung für die Zukunft.“ Aber je größer die befragte Distanz nach außen ist, desto schlechter wird die Welt. Deutschland: Kaputt. Europa: Katastrophe. Der Rest der Welt: Reden wir erst gar nicht drüber!
Wir fühlen uns auf eine seltsame Weise mitten in einer kaputten Welt recht wohl. Wie kann das sein?
Wir sind professionelle Schlechterwisser.
Wir suhlen uns gerne in erwartetem Unglück.
In der Annahme,
Immer recht zu haben.
Aber wie wäre es,
Wenn wir das Bessere schätzen lernen.
Auch wenn es zunächst nur klein ist.
Anstatt mit dem großen Angsthammer
auf alles einzuschlagen,
was uns Hoffnung machen kann.
Frohes Fest!
Und gute Zukunft,
Ihr Matthias Horx
“
„Wenn wir die Geschichte der Menschheit im 21. Jahrhundert verändern wollen, müssen wir die Stories verändern, die wir uns selbst erzählen.”
Mehr positive Meldungen aus der Tiefe des Planeten: futurecrunch.com
Für einen Grundkurs in nicht-naiver Zuversicht rate ich, den neuen „Global Ignorance Test“ von Ola Rosling zu machen. Ola arbeitet für die UNO und die „Global Goals“ und kämpft im Erbe seines Vaters Hans Rosling gegen die negative Ignoranz. Im Test sind 48 Fragen zu beantworten, die uns über unsere globalen Trend-Wahrnehmungsverzerrungen aufklären und uns mit dem wahren Stand der Fortschritte der Menschheit vertraut machen. Leider nur in Englisch: www.gapminder.org
Empfehlen kann ich die Bücher der Neurowissenschaftlerin Maren Urner: „Raus aus der ewigen Dauerkrise“ (2021) und „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ (2019).
In Deutschland gibt es nicht allzu viele Ansätze des Konstruktiven Journalismus. Angstbeschwörung zählt immer mehr als Lösungs-Konstruktivität. Immerhin: das Online-Magazin PERSPECTIVE DAILY versucht, dem alltäglichen Doomsday etwas entgegenzusetzen.
Hinweisen möchte ich noch auf meine KLIMA-REGNOSE, einer konstruktiven Zukunfts-Studie zur Klimawende: onlineshop.zukunftsinstitut.de
Als Trend- und Zukunftsforscher werde ich oft gefragt: Wie „findet“ man eigentlich Trends? Wann ist ein Trend ein Me-gatrend, wie definiert man das – mit welchen Kriterien?
Komplexe Trendforschung hat mit einer bestimmten Tech-nik der Weltbeobachtung zu tun. Man tritt einen Schritt zurück, um zahlreiche Phänomene in ihrem Zusammenhang zu sehen. Ein dynamisches Muster zu erkennen.
Trend-Definitionen entwickeln sich aus einem Anamnese-Prozess. Einer Befragung der Umwelt und ihrer Signale. Zu-nächst geht es um Zeichen, Symbole, Hinweise – „Clues“, die sich verdichten, die uns Fragen stellen: Wie kommt es zu diesem Phänomen? Ist das nur Zufall? Oder gibt es höhere Zusammenhänge?
Sind Ihnen schon einmal folgende Phänomene aufgefallen?
Die Regalmeter für Themen wie Selbsthilfe, Selbstveränderung und Bewusstseinsveränderung in den Buchhandlungen (analog und virtuell) verbreitern sich weiter und weiter.
Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit Meditation und Achtsamkeits-Haltungen. Fernöstliche Philosophien diffundieren in die Gesellschaft und ersetzten (oder ergänzen) alte christliche Muster.
Das Gefühl, in einer nur noch von rasenden medialen Phänomenen geprägten Welt zu leben, und dadurch einen regelrechten Realitätsverlust zu erleiden – den eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen zu können –, steigt.
Mentale Themen wie Neurowissenschaft, Kognitive Psychologie und Bewusstseinsveränderung erleben einen erstaunlichen Boom.
Die Arbeitswelt verändert sich in Richtung Sinn-Anspruch und Selbstbestimmung: Corona hat Phänomene mit sich gebracht wie „The Great Resignation“. Der große Ausstieg. So nennen die Amerikaner das Phänomen, dass Millionen US-Bürger nach Corona nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen zu-rückgekehrt sind. Das gibt es nicht nur in den USA, und nicht nur bei Billigjobs. Immer mehr Menschen kündigen im Sinne der Selbstfindung. Überprüfen ihre Lebens-Strukturen. Ihre existentiellen Entscheidungen.
Nach Corona nimmt das „Ich-bin-dann-mal-weg“-Syndrom deutlich zu. Immer mehr Zeit wird in Retreats, Kuren, Selbst-findungs-Workshops zugebracht. Viele üben „meditative“ Sportarten (Wandern, Pilgern, Surfen) aus, gehen auf lange Auszeiten und Reisen zur Selbstfindung.
Natürlich erscheint das alles erst einmal zusammenhanglos. Man kann es leicht als „elitär“ denunzieren. Die einzelnen Phänomene sind für sich genommen auch nichts Neues – immer schon hat es Aussteiger, Sinnsucher gegeben, die sich vom „Lärm der Welt“ absondern wollten. Und müsste man, wenn man von Megatrends spricht, nicht eher das Gegenteil behaupten? Leben wir nicht im TikTok-Zeitalter der immer kürzer getakteten Erregungen und Oberflächlichkeiten, der Profanitäten und unfassbaren Blödsinnigkeiten? Alles wird immer kurzfristiger, flacher, trivialer, unbewusster – ist DAS nicht der Haupt-Trend?
So scheint es.
Aber jeder Trend erzeugt irgendwann einen Gegentrend. Die Globalisierung, die seit dreißig Jahren einen wahren Turbo eingeschaltet hat, brachte den Gegentrend zum reaktionären Nationalismus (und zur Heimatsuche) hervor. Der Großtrend der Urbanisierung erzeugt die Sehnsucht nach dem Landleben. Die rasende Digitalisierung kippt irgendwann in das Bedürfnis nach dem Real-Analogen. Nach dem, was man anfassen und berühren kann.
MEGATRENDs verlaufen in Zyklen, in denen sie sich selbst verändern. Von Zeit zu Zeit bilden sie Kipppunkte, TIPPING POINTS. Das liegt auch daran, dass Megatrends zur Übertreibung neigen. Sie sind so mächtig, dass sie ins Gegenteil umkippen können.
Es ist wie bei Meereswellen: Manchmal sind die Unterströmungen, die in eine ganz andere Richtung führen, stärker als das Geschehen an der Oberfläche.
Nehmen wir zum Beispiel einen Schlüsseltrend unseres soziokulturellen Universums: Individualisierung.
Eine kleine Geschichte der Individualisierung
Individualisierung bedeutet, dass die Selbstdefinition von Menschen sich immer weniger an Klassen, Schichten, Normen und anderen Zugehörigkeiten ausformt. In Wohlstandsgesellschaften steigt der Selbstbezug ständig an, gerät die Selbst-Verwirklichung immer mehr ins Zentrum der Identität. Die „Gesellschaft der Singularitäten“ entsteht.
Allerdings ist dieser Prozess nie ganz vollständig. Schon deshalb, weil Menschen immer auch soziale Wesen sind. Und ANDERE brauchen, um sich selbst zu finden.
Radikale Individualisierung würde also ins Nichts führen. In eine Gesellschaft, die keine mehr wäre.
Individualisierung hat sich in drei Phasen entwickelt:
Rebellion
In der ersten Phase des Individualismus-Trends entwickeln Menschen ihre Identität in Abgrenzungen und Rebellionen. Die eigene Identität wird aus einer Verneinung heraus entwickelt: Ich will nicht so werden wie die Anderen. (Heute dient „Dagegensein“ nicht mehr der Befreiung, sondern kommt aus der rechten Ecke und spielt mit aggressiver Unterwerfung).
Hedonismus
In der zweiten Phase wird der Hedonismus zur zentralen Werteorientierung der Gesellschaft. Hedonismus ist die Ideologie des individualisierten Genusses als zentraler Lebenssinn. Konsumkultur und Individualismus verbinden sich zu einer Ideologie des maximalen Erlebens: Steigerung der Lebensintensität, Konsum-Maximierung, Feiern bis der Arzt kommt! Spätestens seit Corona steht der Arzt allerdings ständig mitten im Raum. Und im Angesicht des Krieges und einer Klima-Krise ist das Immer-mehr-Spaß-haben ziemlich unlustig geworden.
(Re-)Kontextualität
In der dritten Phase der Individualisierung, der Reifungsphase, kommt es zu einer Rekursion (Rückbeziehung) auf existentielle Lebensfragen. Man will sich wieder in Beziehung setzen: Was bin ich? Wer bin ich geworden? Wie stehe ich in der Welt? Man sucht nach neuen Kontexten und Sinnbezügen. In Bezug auf das Arbeits- und Beziehungsleben, aber auch auf die Frage, wo und wie Wandel, Selbst-Veränderung, noch möglich ist.
Wer bin ich – und wenn ja, wie kann ich mich ändern?
Eine Hinwendung zum Inneren, oder einer neuen Spiritualität, wäre nicht das Gegenteil des Individualisierungs-Trends, sondern seine Fortführung auf einer anderen Ebene. Im hedonistischen Individualismus ist jeder nur noch für sich allein. Das führt zu einer verstärkten Suche nach Bindungen, Verlässlichkeit, Bezügen, die auch vertikale Ebenen einschließen – jene Dimensionen, in denen wir über die Grenzen unserer eigenen Existenz hinausreichen.
Schlüssel-Jahre oder „Kipppunkte des Zeitgeistes“
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin schildert in seinem Buch „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ die Ereignisse, die sich im Jahr 1977 vollzogen. Die linke Terrorgruppe RAF startete ihre Selbstmord-End-Offensive und beendete die rebellische Unschuld der Hippie-Ära. Etwas Tragisches kam plötzlich in die Welt, in dem sich die visionären Träume der Gesellschaftsveränderung ins Negative umformten. Gleichzeitig wurde der Personal-Computer präsentiert. Punk, Disco und Hip-Hop boomten. Viele junge Sinnsucher (ich selbst gehörte auch dazu) suchten das einfache Leben auf dem Land, gingen auf Weltreise und Selbstfindungs-Trips. Der Ashram des Gurus Bhagwan in Poona in Indien wurde von jungen Menschen aus Europa und Amerika überrannt.
Befinden wir uns heute, anno 2022/23, in einer ähnlichen Schlüsselzeit? Wir erleben wieder Phänomene der unauflösbaren Tragik: Krieg, Seuchen, faschistoide Erregungswellen, unaufhaltsame globale Erhitzung. Phänomene, die uns hilflos und ohnmächtig machen.
Das Außen überwältigt uns. Und im Inneren fühlt es sich leer an.
“
Wenn die Zeiten von einem unübersichtlichen Wandel geprägt sind, verlagert sich der MINDSET von Außen nach Innen. Das prägte Epochen wie die deutsche Romantik, das Fin de Siècle oder die Rebellionszeiten der 60er/70er Jahre. Einer Ära der Außenorientierung folgt ei-ne Phase der Innerlichkeit. Und manchmal passiert beides zugleich. Dann werden aus Wendezeiten echte Wandelzeiten.
Viele Menschen leiden hochgradig an Digitaler Erschöpfung. Digitalisierung war in den letzten Jahrzehnten so etwas wie ein Transzendenz-Ersatz. In der METAVERSE-Fiktion versucht der Digitalismus noch einmal ein letztes Utopieversprechen, das aber längst unglaubhaft geworden ist. Man spricht vom Digital Burnout oder der Outrage Fatigue, die Empörungs-Erschöpfung angesichts unendlicher Hass-, Wut- und Fake-News-Wellen. Der französische Soziologe Gérald Bronner hat das die „Kognitive Apokalypse“ genannt (siehe sein gleichnamiges Buch).
Immer mehr Menschen suchen Wege aus der toxischen Medialität, die unsere Hirne vernebelt und unsere Wahrnehmungen der Welt verzerrt. Immer mehr Menschen versuchen, ihre Aufmerksamkeits-Ressourcen von den medialen Ausbeutungssystemen zurückzugewinnen, zu denen sich die Social-Media-Plattformen entwickelt haben.
Das wäre der eigentliche Kern von MINDCHANGE: Bei den eigenen Empfindungen, den eigenen Gefühlen und Wahr-Nehmungen neu anzufangen. Aussteigen aus einem System, das auf ständige Angst- und Erregungs-Steigerung setzt. Sich selbst wieder wahrnehmen können. Vielleicht entwickelt sich hier eine Befreiungs-Bewegung, die nicht mehr auf gesellschaftliche Veränderung zielt, sondern – zunächst – auf die Befreiung des Geistes.
Vor einem guten Jahrzehnt definierte das Zukunftsinstitut den SELFNESS-Trend. Damit war – in Abgrenzung zur damaligen „Wellness“-Welle (die eher auf passive Verwöhnung zielte) – die Weiterentwicklung zu einem authentischen Selbst gemeint. MINDCHANGE geht noch ein Stück weiter. Es geht dabei um die Fähigkeit mentaler Souveränität.
Fernöstliche Denkschulen lehren in unzähligen Varianten schon immer, wie man den MIND in eine andere Position zur Welt bringt. Viele Psychologie-Schulen haben die Ideen des mentalen Konstruktivismus aufgenommen und an die moderne Welt angepasst. Die Welt ist vor allem eine Vorstellung, die wir selbst produzieren. Es geht darum, die eigenen Gedanken, Ge-fühle, Wertungen, Konstrukte nicht mit der Wirklichkeit – und mit sich selbst – zu verwechseln.
Das zentrale Stichwort lautet SELBSTWIRKSAMKEIT. Es geht um die Fähigkeit, die inneren FRAMES, die eigenen WahrnehmungsMuster, zu erkennen und zu erweitern.
Nicht immer gleich jeder Angst verfallen.
Die eigenen Schwächen umarmen.
Erregungsgemeinschaften meiden.
Die Welt mit neuen Augen sehen.
Den inneren Nörgel-Troll verabschieden.
Der Psychologe Daniel Siegel spricht in seinem gleichnamigen Buch „MINDSIGHT“ („Geistessicht“ funktioniert als Übersetzung nur halb gut):
„Mindsight ist eine konzentrierte Aufmerksamkeit, die uns die internen Abläufe des eigenen Geistes offenbart. Sie macht uns die inneren Prozesse bewusst, ohne dass wir uns von ihnen mitreißen lassen, ermöglicht es uns, vom Autopiloten mit all seinen tief verwurzelten Verhaltensweisen und Reaktionen wegzukommen und löst uns aus den emotionalen Gefühls-Schlaufen, in denen wir alle gelegentlich fest-stecken … Damit erreichen wir, dass wir unsere Erfahrungen anders gestalten und umlenken können, erreichen mehr Entscheidungsfreiheit bei alltäglichen Betätigungen, haben mehr Kraft, die Zukunft zu planen und Autoren unserer eigenen Lebensgeschichte zu werden.“ (S. 14)
MINDCHANGE hat, als kommerzieller Trend gesehen, auch eine dunkle Seite. Eine Selbstoptimierungs-Industrie ist inzwischen entstanden, mit knallhart ausbeuterischen und manipulativen Geschäftsmethoden. Dort „designe“ ich mich als willensstarkes Ich, das ständig Verbesserungen der „Performance“ durchführt. Selbstoptimierung ersetzt Bewusstheit durch EGO – und läuft in eine Steigerungsfalle, an deren Ende immer Erschöpfung und Enttäuschung lauern.
In der MINDCHANGE-Idee geht es gerade nicht um Optimierung, sondern um Akzeptanz: Sich selbst in ein neues Selbst-Verhältnis bringen, nicht ständig an sich herumbasteln…
Am Ende geht es um Empathie. Zu sich selbst und anderen. MINDCHANGE beinhaltet auch die Idee, ein erfüllteres soziales Leben zu führen. Das geht besser, wenn man sich nicht dauernd selbst auf die Nerven geht.
Der zweite große Glaubenszerfall unserer Tage – neben dem Glauben an den linearen technisch-ökonomischen Fortschritt – hat mit der Krise der christlichen Kirchen zu tun. Wir sollten uns nicht täuschen: Der Zerfall traditioneller Kirchenbindungen geht nicht spurlos an der Gesellschaft vorbei. Er hinterlässt ein gewaltiges spirituelles Vakuum. Leerstellen, die sich schnell durch Dämonen – reale und digitale – füllen könnten.
MINDCHANGE weist in Richtung einer aufgeklärten Spiritualität, in der es nicht mehr um Gottesbilder oder Glaubensdogmen geht. Auch nicht um magische Kräfte. Sondern um Weltbeziehungen. Dabei spielen zwei Kategorien eine wichtige Rolle: Natur und Zukunft. Natur, weil wir im Ausklang des fossilen Kapitalismus eine andere, zarte Beziehung zu allem Lebendigen suchen – das Schlüsselmotiv unserer Epoche. Und Zukunft, weil wir im rasenden Gegenwarts-Wahn unserer Tage das Zu-künftige zu verlieren drohen. Die Perspektive nach vorn. Das Staunen darüber, was möglich ist. Echter Wandel entsteht immer in einer Neuverbindung des Innen und des Außen zu wahrhaftiger menschlicher Evolution.
Wird sich in den nächsten Jahren ein großer mental-kultureller Trend her-ausmendeln? Schreiben Sie mir Ihre Meinung auf kolumne@horx.at, ob es diesen Trend tatsächlich gibt, ob er „mega“ wird – oder warum nicht.
Hier ein erster noch provisorischer Versuch eines „Metagramms“:
Zum Anfang möchte ich die Gretchen-Frage unserer Zeit stellen: Hat die Menschheit eine Zukunft? Glauben Sie, dass Homo sapiens bald aussterben wird?
Die Frage ist kurz, hart und brutal. Die Antwort verrät alles über unseren Future Mind, unsere innere Einstellung zur Zukunft.
Werden „wir“, die menschliche Spezies, auf dem Planeten Erde in 100, 500, 10.000 Jahren noch existieren?
Geht die Welt „den Bach hinunter“?
Ja oder nein?
Während Sie sich entscheiden – lassen Sie sich Zeit –, möchte ich Sie an einen besonderen Ort auf der Erde entführen. In eine blühende Unterwasserwelt, in der die Vielfalt der Natur, die Schönheit der Schöpfung, in ihrer ganzen Pracht sichtbar wird.
Folgen Sie mir in üppige Korallenriffe in allen Farben und Formen. Wir sehen dicke Barsche, die durch ihr Revier gründeln. Bunte Fischschwärme glitzern im Sonnenlicht. Snapper, Krabben, Meeresspinnen – alles kreucht und fleucht im kristallklaren Wasser.
Wir befinden uns auf den Marshall-Inseln, einem Teil des Bikini-Atolls. Jener Inselgruppe, auf der die Amerikaner ihre Atombomben testeten. Diese 23 Inseln waren von 1946 bis 1954 Schauplatz zahlreicher Nuklearwaffentests, 41 überirdischen und 147 unterirdischen. Die Wasserstoffbombe Castle Bravo war die stärkste, die je von den USA gezündet wurde. Sie hatte die Sprengkraft von rund 1000 Hiroshima-Bomben und pulverisierte drei Inseln des Atolls.
Lange Zeit war man der Meinung, dass Atomexplosionen nichts als radioaktive Wüsten hinterlassen. Verbrannte Erde, lebloses Wasser. Doch Meeresforscher Steve Palumbi und Biologin Elora López erforschten 2017 die Flora und Fauna der verseuchten Atolle. Und stießen auf eine erstaunlich intakte, ja blühende Unterwasserwelt. Bei den Meerestieren konnten fast keine Mutationen festgestellt werden.
„Wenn wir verstehen, wie die Korallen die strahlungsverseuchten Bombenkrater wiederbesiedeln konnten, können wir vielleicht etwas Neues dazu lernen, wie die Natur DNA intakt halten kann“, formulierte Palumbi, der Leiter des Marine-Institus an der Stanford Universität in einer Pressemitteilung.
Ähnliche Phänomene fanden Forscher in den Wäldern von Tschernobyl. In der Chernobyl Exclusion Zone (CEZ), wo seit dem Atomunfall 1986 keine Menschen mehr leben dürfen (einige wenige tun es trotzdem), hat sich eine große Artenvielfalt entwickelt: Luchse, Bären, Elche, Bisons, Wildschweine, Schwarze Störche, Wildpferde, viele Nager-Arten haben sich üppig vermehrt. Auch hier findet man wenige Anzeichen von Abnormitäten. Im Gegenteil: Viele Arten zeigen einen sehr robusten Fitness-Status. Schon allein die Abwesenheit des Menschen scheint die Artendichte und die Vitalität zu steigern.
Ein Grund könnte sein, dass Radioaktivität als evolutionärer Selektor funktioniert. Verkrüppelnde Mutationen werden von der Natur sofort „aussortiert“, die überlebenden Tiere sind umso resilienter.
So geht Natur.
Sie fängt sofort wieder an.
Und macht immerzu weiter.
Sie nutzt das vorhandene Material.
Ein seltsames Paradoxon. Stellen wir uns die Natur nicht immer als ungeheuer verletzlich vor? Das, was so schrecklich empfindsam und bedroht erscheint, „kaum noch zu retten“, ist in Wirklichkeit zäh, robust, ja geradezu unausrottbar?
„Die Resilienz der Natur kann die menschliche Gesellschaft vor Naturkatastrophen schützen“, sagt Tim Christophersen, der Leiter von UNEP, des United Nations Environment Programms.
„Wenn man vom Ende der Welt spricht, ist zu überlegen: Was ist denn „die Welt“? Eine schwierige Frage. Das Ende der Welt bedeutet jedenfalls nicht das Ende aller Welten. Die Krux an der ganzen Geschichte ist: Es endet eine Welt, aber es beginnt auch eine neue.“
Der Apokalypseforscher Robert Folger Zitiert nach Maya Göpel, „Wir können auch anders“. S. 56
Kehren wir zurück zur Weltuntergangsfrage. Laut einer internationalen Umfrage unter 16- bis 25-Jährigen glauben 56 Prozent der Befragten, die Menschheit sei „dem Untergang geweiht“. 40 bis 70 Prozent aller Deutschen, je nach Umfragestellung, halten ein ENDE der Menschheit für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich. In unserem Kulturkreis sind die Begründungen meistens naturromantisch. Den Satz „Die Natur braucht uns nicht, die kommt auch sehr gut ohne uns aus“, hört man nicht nur in hochmoralisierenden Öko-Aktivistinnen-Zirkeln. Sondern auch am Bierstammtisch in, sagen wir, Oberbayern.
Menschen sind Deppen.
Wie also wird die Welt untergehen?
Ich wette, Sie haben bereits eine Menge Bildmaterial im Kopf.
Allein auf meinen Streaming-Accounts befinden sich über 50 Endzeit-Epen mit insgesamt 2.000 Stunden Totalfiasko. Aliens überfallen und zerstören die Welt (6-mal). Unterirdische Super-Vulkane brechen aus. Meteoriten zerstören die Erde. Die Rotation der Erde hört einfach auf. Der Mond fällt auf die Erde. Alle Pflanzen verderben aufgrund eines unbekannten Virus, die Reichen siedeln auf einem Jupitermond, während in den Ruinen die wenigen Überlebenden dahinvegetieren. Tödlicher Regen fällt. Bürgerkriege verwüsten alle Städte. In den australischen Wüsten kämpfen zerlumpte Kämpfer um die letzten Benzin-Reste (während die Sonne unentwegt vom Himmel brennt – hat noch nie jemand etwas von Sonnenenergie gehört?). Zombies fressen alle Menschen und sind wir nicht alle irgendwie Untote? Fiese Maschinen übernehmen die Macht und versklaven uns. Noch gar nicht dazugerechnet sind grandiose Videospiele mit zigmillionen Etat, die zwischen Hochhausruinen spielen, in liebevoll gestalteten verlassenen Tankstellen und zertrümmerten Einkaufszentren und verstrahlen U-Bahn-Stationen, in denen der Schimmel wächst und Monster lauer.
Bilderbücher, die eine von Menschen verlassene Erde zeigen, auf der „gnädig“ die Reste der Zivilisation von Natur überwuchert werden, haben eine eigenartige Faszination.
Es ist kein Zufall, dass die neuen KI-Bildgeneratoren wie DALL-E besonders gut darin sind, Apokalypsen herzustellen. Sie haben einfach unendlich viel Material in ihren Speichern.
Etwas Lustvolles geht von diesen Zerstörungs-Orgien aus, bei denen kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Der Regisseur Roland Emmerich, der in einem seiner Apokalypse-Kracher sogar den Mount Everest überfluten ließ, sagte in einem Interview: „Es ist die Mutter aller Zerstörungsfilme, mit Effekten, wie man sie noch nie gesehen hat. Ich wüsste wirklich nicht, was ich danach noch zerstören sollte.“ (wiki) Jetzt will Emmerich allerdings doch noch einen allerletzten Katastrophenfilm drehen. „Der einzige Weg, die Menschen wachzurütteln, ist in meinen Augen, wenn sie sich vor etwas ganz schrecklich fürchten.“
Ist das wirklich so?
Einer der Gründe für den Boom des filmischen Weltuntergangs ist offenbar die Grandiosität, die das Weltende zulässt. Endzeit ist intensiv, pathetisch, romantisch. Sie ruft nach Helden, Rettern, die übernatürliche Kräfte haben. Wenn alle Himmel sich verfinstern – Pauken, Trompeten, Orgel supersatt –, dann sind die Dinge plötzlich eindeutig, großartig und „final“.
Also gut. Versuchen wir es die Menschheit einmal richtig auszurotten.
Es hat ja sowieso keinen Zweck mehr „mit uns“.
Machen wir Platz für intelligente Tintenfische.
Und diese verdammten dummen Kriege wäre auch vorbei.
Wie kann man also „die Welt“ beenden?
1. Atomkrieg
Die Atombombe, die die USA im Jahr 1945 über der Großstadt Hiroshima zur Explosion brachte – drei Tage später fiel eine ähnliche auf Nagasaki –, hatte eine Sprengkraft von 12.500 Tonnen TNT. Ungefähr 80.000 Menschen starben sofort. Der Stadtkern von Hiroshima in einem Umkreis von rund 2 Kilometern wurde zu 80 Prozent zerstört. Die meisten Häuser waren Holzhäuser, die lichterloh brannten.
Zwei Tage später eröffnete die Hauptfiliale der Bank of Japan wieder.
Die Stromversorgung war in einer Woche in den meisten Stadtteilen wieder hergestellt.
Drei Tag nach der Bombe fuhr eine erste Straßenbahn regelmäßig durch die Stadt.
Innerhalb einer Dekade hatte die Stadt ihre ursprüngliche Einwohnerschaft von 300.000 wieder hergestellt. Heute ist sie eine blühende, moderne 1,2-Millionenstadt, mit wunderbaren Parks und einer ikonographischen Stahlbeton-Ruine in der Mitte, die nur 300 Meter vom Ground Zero entfernt lag.
Nicht nur die Natur, auch die menschliche Zivilisation ist offensichtlich beides zugleich: Ungeheuer zerbrechlich. Und unfassbar resilient.
Im Vietnamkrieg, bei dem die Amerikaner dreimal so viele Bomben auf das Land warfen wie im gesamten Zweiten Weltkrieg auf Europa, wollte man die Vietnamesen „in die Steinzeit zurückbomben“. Eine Studie analysierte die Folgen dieser Zerstörung auf die Entwicklung des Landes. 25 Jahre nach dem Krieg gab es keine Unterschiede mehr zu anderen Nationen.
Die urbane menschliche Zivilisation ruht auf tiefreichenden Trümmer-Sedimenten. Dem Erdboden gleichgemachte Städte wurden im Laufe der Geschichte meist schnell wieder aufgebaut – Troja sogar achtmal. In den meisten älteren Städten muss man nicht weit graben, um auf die Ruinen vorheriger Epochen zu stoßen. In den allermeisten Fällen erholten sich Sozialsysteme und Kulturformen schnell, blühende, dynamische, vitale Ökonomien, Fortschritt im weitesten Sinn, entstand oft gerade NACH tiefgreifenden Zerstörungen.
William McAskill, ein Zukunfts-Aktivist und Begründer des Effektiven Altruismus, stellt in seinem Buch „What we owe the future“ (Was wir der Zukunft schulden) eine brutale Rechnung an. Was würde passieren, wenn in einem Nuklearkrieg – oder einer anderen Superkatastrophe – 99 Prozent aller Menschen umkämen? „Unter den 80 Millionen Überlebenden würden sicher nicht weniger als 100 Flugzeugingenieure, Atomphysiker, Chemiker und Telekommunikations-Spezialisten sein. Und Menschen, die die Landwirtschaft beherrschten, in ihren traditionellen und ihren neuen Formen.“ (McAskill, S. 130).
Effektiver Altruismus: Eine Philosophie und soziale Bewegung, die darauf abzielt, die beschränkten Ressourcen Zeit und Geld optimal einzusetzen, um das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern.
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Welches PRINZIP liegt der Wahrnehmung zugrunde, dass wir im Rückblick nur Fortschritt sehen und in der Zukunft nichts als Niedergang erwarten?
Thomas Babbington Macaulay
Wann wird das erste Handy wieder gebaut?
Wann entsteht der erste Traktor?
Der erste Toaster?
Es kann lange dauern. Aber vielleicht auch viel schneller als gedacht. Irgendwann klingelt der Postman wieder, wie im gleichnamigen Film mit Kevin Costner in der Hauptrolle, als ein von Bürgerkriegen zerstörtes Amerika wieder Kontakt zueinander aufnimmt. Selbst wenn die Computer nicht mehr funktionieren und alle Bibliotheken in Trümmern liegen, würden die Überlebenden nicht von vorne anfangen. Das Wissen über Techniken, Praktiken und Know-how ist tief im handelnden Gedächtnis des Menschen eingeprägt.
Superforecasting oder das Modell der Micromorts
Wie wahrscheinlich ist es, dass im Ukraine-Konflikt Atombomben eingesetzt werden?
Um sich einer Antwort zu nähern, kann man sich mit dem Konzept des Mikromorts beschäftigen. Erfunden wurde diese Maßeinheit vom Stanford-Professor Ronald Howard. Jeder „Mikrotod“ steht für die Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, bei einem bestimmten „Event“ zu sterben. Einmal Pressluftflaschentauchen hat 5 Mikromorts. Base jumping 430. Zehn Kilometer Motorradfahren erzeugt einen Mikromort von 1.
Superforecasting ist eine Methode der „selbstverbessernden Prognostik“, die von Philip Tetlock, einem Wirtschaftstheoretiker, erfunden wurde. Es basiert auf einer Datenbank, in der tausende Prognostiker um die besten Vorhersagen konkurrieren. Das mit Abstand beste Prognose-Team ist derzeit die Gruppe Samotsvety. Anfang Februar ’22 wettete das Team 14.000 Dollar auf eine Invasion der Ukraine – und verdreifachte ihren Einsatz.
Samotsvety errechnete die Wahrscheinlichkeit, dass London demnächst von einer Nuklearbombe getroffen wird, auf 0,01 Prozent und erhöhte diese Zahl im Oktober auf 0,02 Prozent, also 24 Mikromorts. Eine weitere Prognoseplattform, Metaculus, misst die derzeitige Wahrscheinlichkeit einer taktischen Atombombe in der Ukraine mit 4 Prozent.
Das menschliche Hirn ist nicht besonders gut, darin, Wahrscheinlichkeiten mit Realitätsbildern in Einklang zu bringen. Es vergrößert die Angst, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Allein die Vorstellung einer Nuklearbombenexplosion überwältigt uns mental, und deshalb nutzen Prozentzahlen wenig für die Risikoeinschätzung. Die Wahrscheinlichkeit im zarten Alter von 30 Jahre durch Absturz im Gebirge, Infektionen, Lebensmittelvergiftung, Panik bei einer Massenparty (und noch 100 andere Möglichkeiten) ums Leben zu kommen, liegt um ein x-faches höher als ein Atombombeneinsatz.
Die Wahrscheinlichkeit des persönlichen Todes ist 100 Prozent. 1 Million Mikromorts. Wie gehen wir damit um? Vielleicht auch, indem wir uns mit möglichst lauten, drastischen Untergängen ablenken.
(Matt Reynolds, „Worried about Nuclear War? Consider the Micromorts“, WIRED Okt. 22)
Um 10.02 Uhr des 27. August 1883 flog die Insel des indonesischen Vulkans Krakatau in die Luft. 36.000 Menschen fielen der nachfolgenden Tsunami-Welle zum Opfer. 18 Kubikkilometer Asche und glühendes Gestein schossen bis in die Stratosphäre. Die Druckwelle der Explosion lief sieben Mal um die Erde, ihr Echo hielt 15 Tage an. Wie in der biblischen Prophezeiung fielen Ernten bis ins ferne Europa aus oder reduzierten sich; die Erdtemperatur verminderte sich um mindestens ein Grad.
Die Explosion des Krakatau entsprach etwa der Explosion von 15.000 Hiroshimabomben (allerdings ohne radioaktiven Fallout).
Edvard Munchs berühmtes Bild „Der Schrei“ soll sich mit seinem blutroten Horizont auf diese Katastrophe beziehen, die weltweit gespürt und debattiert wurde.
Nehmen wir an, wir bleiben tatsächlich die dummen, unfähigen Blöd-Fossilisten. Wir sind ja, so kann man es in allen Medien lesen, unfähig, unser Verhalten, unsere Systeme im Sinne der notwendigen De-Karbonisierung zu ändern. Wenn wir alle Öl-, Kohle- und Gas-Brennstoffe fröhlich weiter verbrennen, erhöht sich die Erdtemperatur um etwa 6 Grad über den Zeitraum von 200 Jahren. Der Meeresspiegel wird um mehr als fünf Meter steigen, und Donald Trump (dann von einer Elon-Musk-BioNTech-Firma geklont) könnte in seinem Palast in Florida U-Boot-fahren (er würde wahrscheinlich mit kostenlosen U-Boot-Fahrten noch Wahlkampf machen).
Allerdings zeigen uns die langfristigen Klima-Daten, dass es auch in der Vergangenheit schon sehr heiß auf unserem Planeten war. In der Kreidezeit vor 100 Millionen Jahren herrschte fast auf dem ganzen Planeten warmfeuchtes Tropenklima, es war 10 Grad heißer als heute. Im PETM (Paläozen/Eozän-Temperaturmaximum vor 56 Millionen Jahren) lag die atmosphärische Temperatur um 6 Grad höher, und der CO2-Gehalt stieg von 800 auf 2000 ppm (heute: 420 ppm). Die subtropischen Urwälder dehnten sich bis an die Arktis aus, und in Europa gab es tropische Dschungel. Der Wasserspiegel lag rund 8 Meter höher als heute.
Nach den neuesten Daten des IPCC wird sich die Welt, wenn alles so weiterläuft, in Richtung auf 2,5 Grad Erwärmung bewegen. Aber hier ist noch Spielraum. Wenn die neueren Klima-Commitments zahlreicher Städte, Organisationen, Institutionen, Unternehmen realisiert werden, kämen wir auf rund 2 Grad Erderwärmung. Wenn uns noch einige kräftige technische Fortschritte und eine entschlossenere Klima-Politik gelingen würde, sind auch 1,7 Grad noch drin.
Gewiss, auch ein solcher Temperaturanstieg wird riesige Probleme schaffen. Aber ist er ein „Weltuntergang“?
Unsere Vorfahren starben zu Millionen an Seuchen, Stürmen, Überschwemmungen, Dürren, Hungersnöten, also an Naturphänomenen. Und dennoch haben sie im Verlauf der letzten 300.000 Jahre auch die unwirtlichsten Regionen der Erde besiedelt. Und sich dort größtenteils erfolgreich behaupten können.
Der bekannte US-Klimajournalist David Wallace-Wells veröffentlichte im Jahr 2017 einen Essay mit dem Titel „Die unbewohnbare Erde“ – einer der meistgelesenen Texte zur Klimaproblematik. Irgendwann realisierte er jedoch, dass das ständige Ausmalen des Weltuntergangs einen paradoxen Nebeneffekt hat. Im Oktober 2022 erschien ein neuer Text mit dem Titel „Jenseits der Katastrophe: Eine neue Klimawirklichkeit kommt in den Blick“.
„Die unbewohnbare Erde“, New York Magazine, 2017
Es stimmt schon: Der menschengemachte Klimawandel verläuft schneller als die Erwärmungsphasen vergangener Äonen. Aber heute haben wir auch ungleich bessere Mittel, mit veränderten Umweltfaktoren umzugehen. Obwohl die Zahl der Naturkatastrophen ansteigt, sinkt die Zahl der Menschen, die durch Naturkatastrophen umkommen, stetig. Ein weiteres Paradoxon. Aber vielleicht sind es gerade solche Paradoxien, die uns aus dem Untergangsgeschwurbel – dem inneren Paradoxon zwischen Hysterie und Hoffnung -, herausführen können.
3. Die Sterilisierung der Erde
Versuchen wir es noch eine Nummer härter. Können wir nicht gleich die ganze Natur zum Kippen bringen?
Erle C. Ellis, ein Ökologieprofessor der Universität Maryland, hat in einem Simulations-Modell versucht, Meere, Wälder, die ganze Biosphäre, zu einem Tipping Point zu treiben. Also sozusagen die ganze Natur zu „ermorden“.
Ellis schreibt: „Tipping Points geschehen, wenn die Komponenten eines Systems so lange graduell auf eine externe Kraft reagieren, bis die dadurch entstehende Reaktion nichtlinear und synergistisch wird … Für planetare Tipping Points müssten die Kräfte der Menschenwirkung überall auf dem Planeten einheitlich und linear agieren, und alle Ökosysteme in derselben Weise reagieren. Aber selbst die Klima-Erwärmung erfüllt die Bedingung nicht. Sie kühlt einige Regionen, andere macht sie heißer, trockener oder feuchter. Ökosysteme reagieren höchst unterschiedlich auf unterschiedliche Weisen menschlichen Eingriffs, und der menschliche Eingriff selbst ändert sich im Zuge von Zeit und Technologie.“ (siehe auch Artikel am Ende des Textes)
Barry W. Brook, Erle C. Ellis, Michael P. Perring, Anson W. Mackay and Linus Blomqvist, „Does the terrestrial biosphere have planetary tipping points?“, http://ecotope.org/people/ellis/papers/brook_2013.pdf, (siehe auch New Scientist, 9. März 2013, Erle C. Ellis, „From The Brink, S. 30)
Ellis’ Modell zeigt, dass man für einen nachhaltigen Schaden an der Biosphäre im Abstand von etwa 50 Kilometern gigantische Mengen von Hitze, Strahlung, supertoxischen Subtanzen einbringen müsste – und das über längere Zeiträume hinweg. Lokale Schäden, selbst wenn sie drastisch sind, werden durch globale Wirkungen schnell wieder repariert. Das Netzwerk des Lebens zerstören, kann man nur, wenn man gleichzeitig ALLE Verbindungen zerstört, die in der Biosphäre bestehen.
Die Sterilisierung der Erde könnte nur von einer gigantischen Flotte extraterrestischer Raumschiffe erzielt werden, die die Quantenenergie des Universums anzapfen, um die Erde zu vernichten. Womit wir wieder im Reich der Science-Fiction und des Super-Bösen angelangt sind. Wo es so richtig kracht und scheppert, und endlich, endlich, alles zu Ende ist.
Apokalypse als Leugnung des Wandels
Warum aber geben so viele Menschen die ganze Zukunft verloren? Warum gibt es so unfassbar viele Narrative des Apokalyptischen?
Erstens: Weltuntergang trägt immer noch das Narrativ der religiösen Strafgerichte. Gleichzeitig liegt im Endzeitlichen etwas ganz Zartes. Wenn alle Zivilisation, alles „Normal“ zerstört ist, werden endlich die echten Gefühle, die wahren Zusammenhänge freigelegt. Familien, die sich entfremdet hatten, finden in den letzten Stunden zusammen. Verdrängte Sinnfragen werden gestellt: Wer bin ich, wer hätte ich sein können? Ängstliche wachsen in der letzten Stunde ins Heldentum. Apokalypse ist eine Art existentielle Leinwand, auf der das Existentielle aufscheint; sie führt uns zurück zu unserem wahren Selbst.
Zweitens: Weltuntergang ist eine Rumpelstilzchen-Fantasie, mit der wir uns an unseren Enttäuschungen rächen. Die Zukunft soll glorios, harmonisch und komfortabel sein! Das ist unsere Anmaßung. „Wenn ich nicht kriege, was ich will, wenn die Welt nicht so ist, wie ich es verlange, dann soll gleich die ganze Welt zum Teufel gehen!“
Drittens: Weltuntergang ist die neue Leugnung des Wandels.
Ich kenne Menschen, die mit dem Hinweis „Es ist ja eh alles zu spät!“ jede Selbstbetrachtung verweigern. Apokalypse ist ein komfortables Kleid für den inneren Reaktionär, der mit Wutanfällen und Hasstiraden darauf reagiert, dass sich etwas ändern muss.
Es ist kein Zufall, dass reaktionäre Religionen und Ideologien immer gerne apokalyptische Konstruktionen nutzen. Vom „Untergang des deutschen Vaterlandes“ halluzinierte nicht nur Hitler.
In der manischen Apokalypse-Phantasie steckt eine Menschen- und Lebensfeindlichkeit, die sich dem grundlegenden Paradoxon des Lebens verweigern will.
Der fernöstlich inspirierte britische Philosoph Alan Watts drückte es so aus: „Wenn wir ohne eine garantierte Zukunft nicht glücklich leben können, sind wir nicht an ein Leben in einer endlichen Welt angepasst, in der ungeachtet der besten Pläne Unfälle passieren werden und am Ende der Tod kommt. Wenn wir, um glücklich sein zu können, von der Zukunft erwarten, dass sie frei von Leiden ist, dann können wir nicht glücklich sein. Das ist, als wenn wir vom Meer verlangen würden, dass es vollkommen still ist, bevor wir darauf segeln.“
If we cannot live happily without an assured future, we are certainly not adapted to living in a finite world where, despite the best plans, accidents will happen, and where death comes at the end… If we demand the future be free from suffering in order to be happy, we can´t be happy. It is like demanding the sea be entirely still before we sail on it.“
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„Es gibt Best-Case-Szenarien und Worst-Case-Szenarien. Aber nichts davon geschieht jemals in der wirklichen Welt. Was in der wirklichen Welt passiert, ist immer ein Seitwärts-Szenario.”
Bruce Sterling, Science-Fiction-Autor
Die Kognitive Apokalypse
Aber vielleicht starren wir auch die ganze Zeit in die falsche Richtung. Vielleicht kommt der „Untergang“ aus einer ganz anderen Richtung. Aus unserem menschlichen MIND.
Der französische Soziologe Gérald Bronner hat einen schlagenden Begriff geprägt: Die KOGNITIVE APOKALYPSE. Damit benennt er den rasenden Zerfall unserer Wahrnehmungs- und Interpretations-Systeme im Zeitalter der Hyper-Medialität.
Kognitive Apokalypse: Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft, C.H.Beck, 2022
„Die beispiellose Lage, die wir heute beobachten, ist geprägt vom Zusammentreffen unseres uralten Gehirns mit dem allgegenwärtigen Wettbewerb der Objekte geistiger Betrachtung, verbunden mit einer bislang noch nie dagewesenen Freisetzung verfügbarer Gehirnzeit.“ (S. 16)
Mit „Gehirnzeit“ meint Bronner die Aufmerksamkeits-Ressourcen, die in der menschlichen Kultur seit der Industrialisierung freigesetzt worden sind. Und die nun in einem radikal deregulierten „Kognitiven Markt“ in einer Art und Weise angefeuert und ausgebeutet werden, dass unser fundamentales Erkenntnis-System aus den Fugen gerät.
Menschliche Kommunikations- und Sinn-Systeme sind evolutionär auf eine Gruppe von maximal 200 Menschen geeicht. Das besagt die so genannte Dunbar-Formel, nach dem Psychologen Robin Dunbar. Diese benennt die „kognitive Grenze“ der Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson in einem stabilen „Beziehungs- und Bedeutungsraum“ existieren kann.
Die menschliche Kultur hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder Vermittlungs-Institutionen geschaffen, die eine größere Anzahl von Menschen in einen kognitiven Zusammenhang bringen konnte: Religionen, Institutionen, Sprachen, „redaktionierte“ mediale Systeme, die der Vermittlung dienten. Heute aber sind rund um die Uhr Milliarden von Menschen damit beschäftigt, sich gegenseitig unentwegt mit Informationen, Reizen, Deutungen, kurzfristigen Emotionen zu bombardieren.
Phänomene ersetzen Zusammenhänge.
Alle Extreme werden selektiert und verstärkt.
Alle Probleme, Abweichungen, Unterschiede werden ins Unendliche skandalisiert.
Meinungen werden zu Wahrheiten – aber es gibt keine Wahrheit mehr.
Moral wird hysterisiert.
Es entsteht eine Pandemie der Empfindlichkeit.
Eine chronische Hysterie der Über-Erregung.
Eine Dekonstruktion aller Bedeutungen.
Bronner schreibt: „Die Angst hat sich offenbar eines Teiles des kostbaren Schatzes bemächtigt, den unsere mentale Verfügbarkeit darstellt. Sie erfasst unsere Gefühlswelt und taucht unseren Geist in ein Meer partieller und täuschender Daten, die uns zu ständigen Hypochondern machen und uns die Zukunft zuweilen als einzige Aussicht aus der Perspektive der Schrecken und Ängste eines drohenden Weltuntergangs sehen lassen.“ (Bronner, S. 89)
Für Bronner bietet die Kognitive Apokalypse gleichzeitig eine Chance. Sie hält uns als Spezies den anthropologischen Spiegel vor.
Worauf reagieren wir?
Was „reizt“ uns wirklich?
Wie „ticken“ wir?
Was sind unsere „Trigger“?
Wie konstruieren wir Wirklichkeit?
Warum lieben wir den Hass?
„Die entscheidende Frage,“ so Bronner, „lautet, ob wir uns diesem Spiegelbild stellen werden … Deshalb erscheint mir die kognitive Apokalypse als eine grundlegende Propädeutik (Vorbedingung) für jedes Projekt, das sich auf unsere Zukunft bezieht … Wer das Paradies sehen will, muss erst einmal durch die Hölle gehen.“
Nach der Kognitiven Apokalypse käme womöglich eine Kognitive Renaissance. Eine Ära, in der wir lernen, Geist und Wirklichkeit neu zu synchronisieren (siehe im neuen Zukunfts-Report 2023: „Gibt es einen Megatrend MINDSHIFT?“).
Womöglich sind Elon Musk und Mark Zuckerberg bereits damit beschäftigt, diesen Prozess in Gang zu setzen. Indem sie die monströsen hypermedialen Maschinen unserer Zeit wieder dekonstruieren.
Also: Geht die Welt „den Bach hinunter?“
Wenn etwas „den Bach hinuntergeht“, dann fließt es irgendwann in einen Fluss, in einen Strom, dann ins weite Meer – von wo es mit Wind und Regen zu uns zurückkehrt.
Manchmal auch, wie jetzt, mit Sturm.
Apokalypse heißt vom Wortstamm her übrigens nicht „Untergang“.
Sondern Offenbarung.
Enthüllung.
Erkenntnis.
„Wenn wir mit dem Neuen konfrontiert sind, neigen wir dazu, uns an die Dinge und Gerüche der jüngsten Vergangenheit zu klammern. Wir schauen auf die Gegenwart durch einen Rückspiegel. Wir marschieren rückwärts in die Zukunft.“
Marshall McLuhan
Gehören Sie auch zu denjenigen, die an der Zukunft verzweifeln? Oder nahe dran sind, die Welt verloren zu geben? Oder gleich ganz zum Teufel zu schicken?
Der Mensch ist zu blöd zum Überleben. Wir werden sowieso aussterben. So denken heute viele, vor allem viele Deutsche. Viele sensible Menschen. Sie merken dabei meistens nicht, dass sie zu „den Menschen“ dazugehören. Dass die Abwertung „der Menschen“ auch eine Selbst-Abwertung ist.
Oder eine missglückte Aufwertung. Ich bin schlau, alle anderen sind doof!
Man kann ja verstehen: Jeden Tag nur Hiobsbotschaften. Krieg, Konflikte, Krankheit, Korruption, Armut. Und als allerhöchste Kategorie das, was „unaufhaltsam“ und „bedrohlich“ und „tödlich“ und vor allem UNVERMEIDLICH auf uns „zukommt“.
Die Klima-Katastrophe!
Allein in diesem Wording liegt ein kognitives Problem. Die Welt wird wärmer, das stimmt. Der menschliche Einfluss ist überwiegend dafür verantwortlich. Das stimmt auch. Es gibt mehr Regen, zugleich Hitzewellen, Trockenheiten. All das sehen wir jeden Tag in den Medien. Aber ist das das ganze Bild. Ist es die „Wahrheit“ in einem unveränderlichen Sinne? Wird die Welt durch die Erwärmung „zerstört“ werden?
Es gibt auch in Sachen Katastrophen eine Art Größenwahn-Phantasie. Wie schön und dramatisch sie schon beschrieben worden ist, diese überhitzte Endzeit! Zum Beispiel von Roland Emmerich, dem berühmten deutschen Doomsday-Regisseur (er hat auch Heldenfilme wie „Independence Day“ gedreht). In „The Day After Tomorrow“ ließ er New York komplett einfrieren. In „2012“ wurde sogar der Mount Everest von den steigenden Fluten überschwemmt.
Wir machen’s gründlich. Und diese Bilder bleiben im Unbewussten haften. Sie PRIMEN uns für eine katastrophische Weltsicht, die uns lähmt, denkfaul und handlungsarm macht.
Auch früher gab es schon Klimawandel. Große zivilisatorische Veränderungen der Menschheit gehen auf Klimaveränderungen zurück. Lebewesen haben sich seit Jahrmillionen wandelnden Umweltbedingungen angepasst. Das ist das Wesen des Lebens: Veränderung. Anpassung. Adaption.
Wenn wir über den Klimawandel nach-fühlen, konstruieren wir jedoch nur Ohnmacht und Resignation.
Menschen können ihr Verhalten, ihre Lebensweisen und Denkmuster ändern. Wir haben heute, als technische Zivilisation, ungleich mehr Möglichkeiten als unsere Ur-Vorfahren, die – nebenbei bemerkt – den ganzen Planeten bis in die unwirtlichsten Klimazonen erobert haben. Und dort lernten, zu überleben.
Es geht in diesem Denk-Papier um die verschiedenen Schichten, die unser kollektives und individuelles Handeln beeinflussen:
Um die Frage, wie wir mit Gefahren, Krisen umgehen, und ob Individuen, Gesellschaften und Zivilisationen sich verändern können.
Um die Frage, wie Zukunft in unserem Kopf entsteht.
Und um die Frage, wie wir Verzweiflung, Zynismus, Gleichgültigkeit und aggressive Leugnung und die verbreitete Zukunfts-Depression überwinden können.
Das hat allerdings wenig mit den Klischees des „Optimismus“ und des „Pessimismus“ zu tun. Es geht nicht um Launen, Stimmungen. Meinungen werden überschätzt.
Es geht darum, was uns für den Wandel motiviert.
Was uns innerlich bewegen, antreiben, verändern kann.
Zunächst gilt es, einige Begriffe zu klären, die unsere innere – und damit auch die äußere – Zukunft beeinflussen. Das Wort PRO-GNOSE zum Beispiel ist ein interessantes Phänomen. Es beinhaltet vom Wortstamm her eine positive Silbe – PRO. Gnosie kommt aus dem Altgriechischen und heißt Wissen, Erkenntnis.
Prognosen gibt es wie Sand am Meer. ALLE machen Prognosen: Ökonomen, Ökologen, Marketing-Leute, Firmenstrategen, Politiker, wir selbst, wenn wir morgens vor dem Badezimmerspiegel stehen und uns den kommenden Tag vorstellen. Prognosen können richtig sein oder falsch. Sie können geglaubt werden oder nicht. Sie sind wichtig, weil wir damit unseren Weltbezug kalibrieren.
Die „Klima-Katastrophe“ ist ein typisches Beispiel, wie aus einer Prognose eine Prophezeiung wurde. Der Unterschied ist entscheidend. Eine Prognose benennt und schildert eine MÖGLICHE Zukunft. Eine Prophezeiung ist hingegen eine FIXIERTE Zukunft, an die wir glauben. Beziehungsweise „geglaubt werden“. Denn zur Prophezeiung gehört immer der oder die Prophet(in). Der uns in die fixierte Zukunft führen wird.
Prophezeiungen können gefährlich sein. Sie spielen immer mit Erlösungsversprechen. Sie sind Machtinstrumente.
Prophezeiungen können sehr dunkel werden. Wir können uns in fataler Weise in sie verstricken. Dann werden es Self-fulfilling prophecies.
Die Kognitions-Psychologie zeigt: Der menschliche MIND neigt dazu, kategoriale Systeme, so genannte FRAMES, vor die Wirklichkeit zu schieben. Wir sehen die Welt und die Zukunft in KONSTRUKTEN – aus einem engen Fenster heraus, dessen Rahmen unseren Vorstellungen, Ideologien und Erwartungen entspricht. Unseren inneren Prophezeiungen.
Hier genau kommt der Begriff der Re-Gnose ins Spiel. In der Re-Gnose überprüfen wir unser Wissen über die Welt, unseren FRAME, unser Fenster in die Zukunft. Wir erweitern es durch eine Technik, die man Mindwandering nennt. Eine Re-Gnose entsteht, wenn wir aus der Position des Zukunfts-Wanderers auf uns selbst reflexiv zurückblicken. Und uns fragen:
Wie sind wir eigentlich darauf gekommen?
Und wie konnten wir lernen, es ANDERS zu sehen?
Auf diese Weise erweitern wir unser Bewusstsein in die Zukunft. Wir nehmen Kontakt mit unserem „Future Self“ auf, unserem Zukunfts-Selbst.
Menschen können das. Immer schon.
Sich verändern durch die imaginierte Zukunft.
Sonst wären wir nicht hier.
Ist es wirklich so unmöglich, sich vom Öl, Gas und Kohle, von der „fossilen Lebensweise“, zu verabschieden?
Ist dieser Wandel, der jetzt vor uns liegt – die Anpassung der industriellen Zivilisation an die Ökologie –, wirklich „aussichtslos“?
Nur, wenn wir das glauben.
Es gibt drei Möglichkeiten, unseren MIND vor falschen und negativen Zukunfts-Fixierungen zu schützen: Humor, Kunst und Weisheit. Die Re-Gnose ist ein Teil der Weisheit. Aber sie beinhaltet auch Elemente von Kunst und Humor. Eine Kunst ist es, in scheinbaren Paradoxien zu denken – wie soll man „aus der Zukunft“ heraus die Gegenwart betrachten? Humor kommt spätestens dann ins Spiel, wenn wir uns in der Zukunft fragen, wie wir früher eigentlich so blöd gewesen sein konnten. Kennen Sie das? Allein das Lachen darüber hat befreienden Charakter.
Re-Gnose beding ein beidseitiges Zukunfts-Denken. Die Zukunft ist nicht nur außen, sondern auch innen. Der Punkt des Wandels – der Ort, in dem die wahre Zukunft entsteht – liegt genau in der Mitte des endlosen Zirkels, der uns mit der Welt und dem Morgen verbindet.
Die fünf Schritte der (Klima-)Re-Gnose
Die eigene Angst als Angst erkennen.
Angst ist ein wichtiges Gefühl, das uns auf Gefahren hinweisen soll. Aber Angst beschreibt nicht die kommende Wirklichkeit. Sie ist ein SIGNAL, keine Zukunfts-Beschreibung.
Den Raum der Zukunfts-Möglichkeiten erforschen.
Der menschliche Geist kann in die Zukunft reisen und sich vorstellen, wie es sein könnte. Beim EPISODIC FUTURE THINKING (EFT) können wir uns eine Welt vorstellen, die ohne fossile Verbrennung funktioniert. Und vielleicht sogar besser ist als unsere heutige Lebensweise.
Den Wandel der Gegenwart wahrnehmen.
Viel postfossiler Wandel passiert schon heute. Die Medien stellen allerdings eher das Misslingende dar. Achten Sie auf das, was heute in Richtung auf eine Klimawende deutet. Richten Sie Ihre Achtsamkeit Richtung LÖSUNG.
Die eigene Wirksamkeit erkennen.
Wir sind nicht ohnmächtig. Wir müssen auch nicht dauernd in Schuldvorwürfen verharren. Wir können in unserem persönlichen Leben etwas ändern – uns persönlich „defossilisieren“ (ja, das geht ganz gut!). Das führt zu einem stimmigeren Lebensgefühl, durch das wir mit uns und der Welt in Einklang kommen.
Von der Lösung her handeln.
Lösungshandeln bedeutet, die innere Frage umzudrehen. Statt „Warum geht das nicht?“ zu „WIE GELINGT’S“? Das fokussiert die Energie ins Konstruktive. Und verhindert, dass wir unser Leben mit Grübeln, Kritik und Negativität verschwenden.
„When we think about how the future might be different, we better understand how we might be different too.“
Jane McGonigal, Futuristin
„Die Geschichte”, sagt mein alter Freund D., ein milder, vom Leben sanft zerzauster Baby-Boomer, „wiederholt sich wie eine Platte mit Sprung. Der Krieg kommt zurück, die Diktatur, der Hass in der Gesellschaft. Ich sehe das als eine persönliche Beleidigung an. Die Welt hat mir und meiner Generationserfahrung gekündigt.“
Ich kann diese Melancholie meines Freundes gut verstehen. Kaum 80 Jahre ist der mörderischste Krieg der Geschichte her, gut 30 Jahre die euphorische Öffnung der Mauer. Wir, als Baby-Boomer, erlebten eine kurze Periode des Friedens – anders als unsere Eltern und Großeltern konnten wir zukunfts-orientiert leben in Europa (Ausnahmen gab es auch schon in den 90ern, im ehemaligen Jugoslawien).
Aber sind die Dinge wirklich so „wie damals“, als der große Weltenbrand begann, am Beginn der Weltkriege?
„Lieber D.”, möchte ich sagen, „vielleicht übersehen wir einen Unterschied. Wir sind klüger geworden. Wir sind ein Stück weitergekommen. Als Gesellschaften, aber auch als Menschheit. Auch die Politiker sind weiser geworden.”
Ich weiß: Das ist so ziemlich die unmöglichste, unerhörteste These von allen. Im Zeitalter des medialen Populismus haben Politiker gefälligst unfähig und total überflüssig zu sein. Die Menschheit? Ist für viele zum Untergang verurteilt. Zu blöd zum Überleben.
Ich glaube trotzdem, dass 2022 nicht 1938 ist.
Dass andere Antworten gefunden werden können.
Dass nicht alles immer so kommt, wie wir es be-fürchten.
Wenn man etwas befürchtet, macht man es in gewisser Weise stärker. Wahrscheinlicher.
Das ist vielleicht das eigentliche Problem mit der Zukunft.
Diejenigen, die heute die Entscheidungen zum Ukraine-Krieg treffen, sind, glaube ich, durchaus weise Menschen. Joe Biden zum Beispiel. Er spricht in einem Ton, der die Dinge klar, aber dadurch nicht schlimmer macht. Ursula von der Leyen, unsere Europa-Chefin, pflegt einen Stil der Entschlossenheit, der gleichzeitig anbietend ist. Annalena Baerbock repräsentiert eine Stimme des unbeugsamen, aber nicht dogmatischen Humanismus. Olaf Scholz wird, wie das in unserer Erregungs-Medienwelt üblich ist, unentwegt moralisch für seine „Unentschlossenheit“ gegeißelt. Aber genau das könnte eine Eigenschaft darstellen, die wir für die Zukunft brauchen: Weisheit.
Was wissen wir über Weisheit? Es gibt inzwischen sogar eine „Evidence-Based-Wisdom“-Forschung, die die Wirkungen und Strukturen von Weisheit untersucht.
Zum Beispiel erforscht Dilip V. Jeste an der University of San Diego/Kalifornien die Neurobiologie von Weisheit.
Zur Weisheit gehören bestimmte mentale Fähigkeiten wie Affektkontrolle, Selbstreflexion, Zugewandtheit, Geduld – und Zuversicht.
Weisheit ist die Fähigkeit, in hohen Paradoxien ruhig und klar zu bleiben. Sich selbst beim Denken und Handeln zu beobachten. Weisheit bedeutet Weitsicht. Und die Fähigkeit, die inneren „Frames“, die Rahmen des Denkens, immer wieder zu verändern.
Der lehrreiche Dokudrama-Film „München – im Angesicht des Krieges“ (2021) zeigt, wie in der Dämmerung des Zweiten Weltkrieges die Politiker der demokratischen Welt im Sinne des „Appeasements“ reagierten. Sie gaben Hitler auf der Münchener Konferenz 1938 die Carte blanche, die Tschechoslowakei zu überfallen. Hitler nutzte das, um Teile des Landes zu annektieren und ein Protektorat zu errichten (hufeisenförmige Gebiete, die ähnlich aussahen wie heute der Donbass). Das war der Anfang eines endlosen Eroberungs- und Vernichtungskrieges der Nazis. Neville Chamberlain, der englische Premier, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Er hasste das Grauen des Krieges, das er im Ersten Weltkrieg erlebt hatte, und deshalb wollte er um jeden Preis einen Kompromiss mit dem Tyrannen. Er war in einem Dilemma, das er nicht lösen konnte. Das war menschlich-moralisch sehr verständlich. Aber nicht weise.
Unweise ist die medial geschürte Entweder-oder-Logik: „Waffen ODER Verhandlungen!“ Natürlich brauchen wir beides. Allerdings muss Diplomatie, vor allem in Kriegszeiten, immer diskret sein. Sie lässt sich nicht in Talkshows diskutieren. Sie spricht eine eigene Sprache, in ihrer eigenen Sphäre. Das macht sie zur wahren Zukunfts-Kunst.
Die Journalistin Barbara Tuchmann schrieb 1962 eine Analyse über den Beginn des Ersten Weltkrieges. „The Guns of August“ schilderte die Geschichte des Hineinstolperns der Mächtigen Europas in den Ersten Weltkrieg. Das Buch gewann den Pulitzer-Preis und lag im Oktober 1962 auf dem Nachttisch des jungen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Kennedy ging damals weise mit der russischen Bedrohung durch Atomraketen auf Kuba um. Er hielt seine Militärs auf Distanz zu den politischen Entscheidungen. Er bildete mit seinen Beratern (unter denen Zukunftsforscher und Spieltheoretiker waren) einen Think Tank, der über vielfältige Szenarien eine Doppelstrategie aus militärischer Entschlossenheit und geschickter Hinter-den- Kulissen-Diplomatie entwickelte. Die Sowjets zogen ihre Atomraketen zurück (siehe der Film „Thirteen Days“ aus dem Jahr 2000 mit Kevin Kostner).
Dass der atomare Dritte Weltkrieg verhindert wurde, als ich Baby-Boomer 7 Jahre alt war, war kein Wunder. Es war das Resultat von Weisheit.
Aus dem Frieden heraus denken
In seinem Buch „Why we Fight – The roots of war and the path to peace” macht der amerikanische Konfliktforscher Christopher Blattman einen interessanten Vorschlag: Wir sollten das Phänomen Krieg nicht von der Seite der Gewalt, sondern von der Seite des FRIEDENS her verstehen.
Blattman beginnt seine Recherche in der Geburtsstadt des Supergangsters Pablo Escobar. In Medellin kämpfen kriminelle Banden seit jeher um die Vorherrschaft. Aber die Gewalt-Exzesse gehen seit vielen Jahren zurück – je reicher die Gangs werden, desto teurer wird der Krieg. Blattman schildert, wie diese Banden den Krieg ständig durch Verhandlungen VERMEIDEN. Dabei wird die „Friedensdividende“ zwischen den Parteien aufgeteilt. Der Hauptverhandlungsplatz ist das Hochsicherheitsgefängnis von Medellin.
Inzwischen ist die Mordrate in Medellin drastisch zurückgegangen; ein interessantes Beispiel für „Peacemaking“ durch eine kluge Stadtpolitik von „systemischen“ Bürgermeister/innen.
Blattman sieht FÜNF große Gründe für das Entstehen von Kriegen:
Unkontrollierte Interessen: Krieg wird wahrscheinlicher, wenn einzelne Menschen, Diktatoren oder Cliquen nicht von der Gesellschaft kontrolliert werden. Dann können diese Mächtigen die Kosten eines Krieges auf die Bevölkerung abwälzen.
Immaterielle Anreize: Bei Kriegsmotiven entlang von „magischen“ Motiven – Status, Ruhm, Ehre, Religiöse Opferung – werden die Kosten des Krieges relativiert.
Informelle Unsicherheit: Viele Kriege entstehen aus Ängsten bezüglich der eigenen Sicherheit – dabei spielen „verrauschte“ Informationen eine Rolle, die durch Paranoia verstärkt werden. Das beste Beispiel ist der Irak-Krieg, der auf falschen (und gefälschten) Informationen über angebliche Massenvernichtungswaffen beruhte.
Commitment-Probleme (Verbindlichkeitsprobleme): Man kann den Verbündeten oder möglichen Gegnern nicht trauen, und so muss man ZUERST zuschlagen, damit man nicht überrannt wird. Es entstehen PRÄVENTIVE Kriege, die aus imaginärer Zeitnot begonnen werden.
Misconceptions (Fehlkonzeptionen): Viele Kriege sind das Ergebnis von falschen „Frames“ und gravierenden Missverständnissen.
In Putins Krieg in der Ukraine überschneiden sich ALLE fünf dieser Faktoren gleichzeitig. Das gibt uns Hinweise darauf, was die Aufgaben einer künftigen Friedenspolitik sein müssten. Denn soviel ist heute schon sicher: Der Ukraine-Krieg wird ein neues globales Sicherheits-System hervorbringen: Ein neues globales Sicherheitssystem, in dem die Regeln des globalen Konfliktmanagements anders organisiert sind als in den letzten dreißig Jahren. Das kann Jahre dauern, aber es wird passieren.
Um in dieser Richtung voranzukommen, wäre es weise, sich vom alten Konzept des WESTENS zu verabschieden, das im und nach dem Kalten Krieg entstanden ist. Was wir brauchen, ist eine neue planetare Bündnis- Logik, die über die Spaltungen des Zweiten Weltkrieges hinausgeht.
Diese zeichnet sich durchaus ab. Auch Autokraten haben nicht unbedingt das Bedürfnis nach einem mit Nuklearwaffen drohenden Imperium. Die letzte Abstimmung im UN-Sicherheitsrat hat die Mehrheiten weiter zu Ungunsten Russlands verschoben.
Wenn über 100 Staatschefs in der UNO-Hauptversammlung stehend Selenskyjs Rede über die 5 Punkte des kommenden Friedens applaudieren, dann deutet sich eine neue historische Allianz an. Man muss aber auch nüchtern bleiben.
„Die UN wurde nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten”, sagte Dag Hammarskjöld, der frühere UN-Generalsekretär. Worum geht es, in Zukunft, wenn wir versuchen, Kriege zu beenden?
Das Spiel auf der höheren Ebene spielen.
Die „Frames“ verändern.
Den Krieg aus der Zukunft her überlisten.
Eine welthumanistische Bewegung
Stellen wir uns vor, Selenskyj würde nächste Woche einen einseitigen Waffenstillstand verkünden. Und Verhandlungen ankündigen, an denen China, die Türkei (beide haben die Legitimität der Referenden in den besetzten Gebieten bestritten) und noch andere kleinere Mittelmächte beteiligt wären. Das „Framing“ des Prozesses käme aus der UNO, die sich damit in eine neue Verantwortungs-Rolle begäbe.
Man könnte das Angebot auch noch mit einer Sicherheitsgarantie versehen. Für die territoriale Integrität der restlichen Ukraine sorgte eine Allianz von 125 Staaten.
Natürlich könnte Putin auch dieses Angebot ablehnen. Und weiter bomben und schießen lassen. Aber dann wäre er selbst in eine Zwickmühle hineingelaufen, die er sonst so gerne für uns konstruierte.
Zur Weisheit gehört vor allem die Fähigkeit, einmal gefasste Urteile, „Frames“ zu revidieren. Ein verbreitetes „Framing“ dieses Krieges lautet, dass das wahre Ziel Putins unbegrenzte imperiale Eroberung ist. Man muss mit allen Waffen-Mitteln Russland stoppen, denn sonst wird er „immer so weitermachen“.
Aber was, wenn das gar nicht stimmt?
Was wäre, wenn Putin längst verstanden hätte, dass er den Krieg als solchen verlieren wird?
Putins Kriegspläne folgten einer alten imperialen Logik. Der Fiktion eines hochgerüsteten und bis in den Tod „treuen“ Heeres. Und der unbegrenzten Mobilisierbarkeit der Massen. Anders als in der Zeit des Faschismus kann man heute kein ganzes „Volk“ mehr in den „Totalen Krieg“ mobilisieren. Selbst in den autokratischen Gesellschaften gibt es heute viel größere soziale Differenzierungen (außer in einem Hunger-Regime wie Nordkorea). Bei der Einberufung zum Heldentod für das Vaterland laufen Putin die Hälfte der Rekruten weg, die anderen werden nicht sehr überzeugt fürs Große Vaterland sterben.
Grandiosität als Kriegsziel
Der Friedensforscher Jan Philipp Reemtsma ist selbst mit Gewalt konfrontiert worden. Im Jahr 1996 wurde der Erbe einer Zigaretten-Dynastie von einer Gruppe von brutalen Erpressern entführt und in einem Keller als Geisel festgehalten. Der Erbe eines der größten Zigarettenkonzerne Europas hatte nie etwas mit Zigaretten am Hut. Er wollte immer wissen, wie die Welt in den Orkus der Zerstörung fallen konnte. Sein Institut für Sozialforschung in Hamburg beschäftigte sich überwiegend mit den Ursachen und den Formen der Nazi-Verbrechen. Eine seiner wichtigsten Arbeiten war die Ausstellung zu den Taten der Wehrmacht an der Ostfront. Später kam der Terrorismus als Forschungs-Sujet dazu.
Im Juni 2015 trat Reemtsma von der Führung seines Instituts zurück und hielt eine aufsehenerregende Rede mit dem seltsamen Titel „Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet“.
Warum brennen in französischen Vorstädten Autos? Warum zieht ein Kölner Rapper in den Irak und tötet als Dschihadist vor laufender Webcam Menschen? Warum lassen sich Menschen immer wieder von Kriegs-Propaganda hypnotisieren? Reemtsma dreht diese Frage um: „Ich möchte hingegen fragen, warum wir so fragen. Warum meinen wir, die Soziologie, die Psychologie und in gewissem Sinn die Historiografie könnten uns etwas „erklären”, soll heißen: uns sagen, was dahintersteckt? Lassen Sie uns banal miteinander werden. Wenn einer irgendetwas tut, nehmen wir an, dass er das tut, weil er das tun WILL.“
Gewalt, so Reemtsma, entzieht sich der Begründungs-Logik, mit der wir normalerweise Phänomene kausal erklären. Sie ist eine attraktive Lebensform, weil sie alle Grenzen überschreitet. Sie erzeugt im Täter eine ungeheure Selbstwahrnehmung der WIRKSAMKEIT, die alle Selbstzweifel und Kränkungen übertönt.
Es geht um GRANDIOSITÄT.
Das wahre Momentum Putins, sein eigentliches Kriegsziel, ist die eigene Grandiosität. Die Kronleuchter im Kreml, die Jubelchöre, die religiöse Weihe des Krieges. Welch ungeheure Droge!
ICH WILL, ALSO KANN ICH!
Tyrannen scheitern immer an ihrer Selbstinszenierung. Denn Grandiosität kann blitzschnell in ihr Gegenteil umschlagen. In Verachtung. In Tyrannenmord.
Die Frage ist nur, wie rechtzeitig dies erfolgt.
Und was wir freundlich, aber bestimmt, zu diesem Scheitern beitragen können.
Machen wir noch ein radikaleres Szenario.
Putin verwirklicht seine grandiose Drohung und zündet tatsächlich eine taktische Atombombe. Sagen wir: auf einem Militärflugplatz an der Grenze zu Ungarn, auf dem westliche Waffenlieferungen verteilt werden. Dabei sterben 200 Menschen, die meisten davon Militärs. Taktische Atomwaffen haben starke Zerstörungskräfte, aber gegen verbunkerte Gebäude sind sie weniger wirksam als man denkt.
Der „Westen“ würde darauf erst einmal überhaupt nicht reagieren.
Schweigen.
Stille.
Es wäre die Weltgemeinschaft, die nach einer Antwort sucht. Und sich in diesem Schweigen neu konstituiert.
Eine Woche nach dem Nuklearangriff würde in einer Kommandoaktion, für die niemand die Verantwortung übernimmt (die Rede ist von einer russischen Schattenarmee, man hört aber auch französische und arabische Kommandos), Alexei Nawalny aus seinem russischen Straflager befreit, mit ihm 50 andere politische Häftlinge. Und aus Russland herausgeschafft (über die Arktis).
Nein, das soll keine Strategieberatung sein. Ich weiß, die Idee ist skurril. Es geht um ein Gedankenspiel. Um ein Reframing.
Tyrannen besiegt man, wenn man ihr Momentum bricht.
In Shakespeares Macht-Drama „Macbeth“ rückt der Wald von Birnam auf das Schloss des wahnhaften Königs vor.
Vielleicht können wir uns unter die Bäume mischen.
Und sie ein bisschen beim Vorrücken begleiten.
Die Friedens-Ingenieure
Karl Popper formulierte mitten in der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges aus dem fernen Neuseeland das geistige Konzept des „piecemeal engineers“, des „schrittweisen Ingenieurs“, der die Welt in einem ständigen Wirken neu zusammensetzt.
„The piecemeal engineer knows, like Socrates, how little he knows. He knows that we can only learn from our mistakes. Accordingly, he will make his way step by step, carefully comparing the results expected with the results achieved, and always on the look-out for the unavoidable unwanted consequences…”
„Der „Schritt-für-Schritt-Ingenieur“ weiß, wie Sokrates, wie wenig er weiß. Er weiß, dass wir nur von unseren Irrtümern lernen können. Deshalb macht er seinen Weg Schritt für Schritt, wobei er sorgfältig die erwarteten Ergebnisse mit den tatsächlichen vergleicht. Und er hält immer Ausschau nach den unvermeidbaren ungewollten Konsequenzen…”
Christopher Blattman macht daraus die Idee des „Peacemeal Engineers”. Des Friedens-Ingenieurs, der Schritt für Schritt die Grundlagen des kommenden Friedens baut. Frieden beginnt nicht auf den Schlachtfeldern, sondern inmitten der Gesellschaft. Friedens-Ingenieur kann man im Kleinen und Privaten sein wie im Politischen und Gesellschaftlichen. Als Unternehmer oder Künstler – oder als ganz normaler Mensch. Es geht darin, die Paradoxien unserer Zeit, das falsche ENTWEDER-ODER, im Sinne eines Neuen Ganzen zu überwinden.
Ökologie UND Ökonomie.
Technologie IN ZUSAMMENHANG mit Natur.
Ich UND wir. (Gesellschaft und Individuum).
Lokalität UND Globalität.
Spiritualität UND Rationalität (=Weisheit).
Der Friedens-Ingenieur agiert hinter den Schützengräben des polarisierenden Streits, der die Gesellschaft durchzieht. Er ist der Anwalt der großen Zusammenhänge, auf die uns die Krisen hinweisen. Wir leben heute in einer Zukunfts-Krise, in der alles mit allem zusammenhängt: Unsere Lebensweise. Unsere Produktionsweisen, die immer noch am Prinzip der fossilen Verbrennung kleben. Unsere Denkweisen, die alles in Extreme aufspalten und die Wirklichkeit mit Angst füttern. Der Friedens-Ingenieur – oder Zukunfts-Agent – sieht die Wirklichkeit von der Zukunft aus: von den Möglichkeiten, die sich HINTER den Krisen zeigen.
Er ist geduldig. Nachsichtig und weitsichtig.
Er kann ruhig auch melancholisch sein, lieber D.
Wie sagte Carl Popper so schön, als nicht nur in Europa der Zweite Weltkrieg tobte? „Unsere Einstellung der Zukunft gegenüber muss sein: Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht.“
„There is a crack in everything
that’s how the light comes in.”
Leonard Cohen
Als Zukunftsforscher werde ich oft von Journalisten gefragt, wie wir die Stapel-Krisen unserer Zeit – Krieg, Inflation, Long-Covid, Immer-Covid, China, Dürre, Gaspreisexplosion, Bahnchaos, Fachkräftemangel, Klimakatastrophe, die Liste ist endlos – jemals überwinden können.
MÜSSEN wir nicht Angst haben? Noch VIEL MEHR ANGST vor der Zukunft?
Ich versuche dann, freundlich und ruhig zu antworten. Etwa, dass Angst etwas Gutes hat. Sie will uns ja wachmachen. Aber dass man Krisen nicht einfach „überwinden” kann, im Sinne von: es wird alles so wie früher. Krise kommt vom griechischen krísis – Entscheidung, Loslösung, Wendung. Man kann zum Beispiel auf Krisen reagieren, indem man…
Spätestens an dieser Stelle hat mich der Journalist längst unterbrochen. Das will er überhaupt nicht wissen. Er will ja lediglich die Bestätigung dafür, DASS WIR IMMER MEHR ANGST HABEN MÜSSEN!
Bei Hoffnung und Veränderung schalten die meisten ab.
So bleibt am Ende nur Helene Fischer oder Weltuntergang.
Beziehungsweise beides gleichzeitig.
Also, die pure Apokalypse.
Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten, mit Krisen umzugehen.
Die erste ist die Angststarre.
Wir starren plötzlich dauernd in Bildschirme, wühlen uns durchs Internet, immer auf der Suche nach Zeichen dafür, wie schlimm es schon geworden ist. Dieser Immerschlimmerismus versetzt uns in eine Art Trance, in der wir nur noch das Negative und Bedrohliche, das Unmögliche und Vergebliche wahrnehmen können. Unsere Weltsicht schnurrt sich auf einen engen Wahrnehmungstunnel zusammen. Das endet früher oder später in einer Depression.
Die zweite Strategie nenne ich den Untergangs-Komfort.
Oder den Apokalypse-Hochmut. Es ist eine Haltung, die die Welt verloren gibt, und daraus Kapital schlägt. Elisabeth Raether schreibt in der ZEIT: „Für viele Leute ist, paradoxerweise, die Apokalypse ein gemachtes Bett…“
ZEIT: „Heikel Sonnenschein”, 18.8.2022
Um diesen rätselhaften Satz zu verstehen, müssen wir uns ein wenig mit Evolutions-Psychologie befassen. Unser Hirn ̶̶– besser: unser MIND – ist nicht so sehr an Wahrheit oder „Realität” interessiert. Um in der Evolution zu überleben, und um schnell auf Bedrohungen reagieren zu können, brauchten wir vor allem Stimmigkeit zwischen unseren inneren Modellen und den Repräsentationen der Wirklichkeit.
Wenn es in uns selbst düster aussieht, rücken apokalyptische Vorstellungen die Welt wieder ins Lot. Das Innen und das Außen passen wieder zusammen. Das erzeugt paradoxerweise ein Gefühl der Befriedigung. Der Überlegenheit. Wir versetzen uns in eine höhere Position, von der wir auf die verderbte, untergehende Welt hinabschauen können.
Ich habe es ja immer schon gewusst!
Menschen sind einfach dumm!
Wir sind zum Aussterben verdammt!
Wird auch Zeit!
Die dritte Strategie, Krisen innerlich zu umschiffen, ist die moralische Panik.
Man steigert sich in einen Furor der Anklage, der Beschimpfung und Empörung. Man steigert sich in einen Furor der Anklage, der Beschimpfung und Empörung. Man stelle sich einen auf Dauerbetrieb programmierten Anton Hofreiter vor, der ständig „Waffen, Waffen, Waffen!“ brüllt. Oder eine über allen Talkshows schwebende Sarah Wagenknecht, die unentwegt nachweist, dass der Kapitalismus an ALLEM schuld ist. In unseren Talkshows und Zukunftsdebatten ist eine Erregungs-Maschine entstanden, die alles in moralische Schuldvorwürfe zerschreddert.
Dieser Empörismus bringt uns nur keinen Schritt weiter. Er verschärft vielmehr die Krisen.
Ein Teil dieses Effekts kommt aus der irrigen Annahme, dass man immer GEGEN etwas sein muss. Das ist nur im Fall einer Krise ziemlich unsinnig. Denn die Krise selbst ist ja die „Kritik“ der Verhältnisse.
Sascha Lobo hat das Phänomen, bei dem man immerzu beliebig gegen ALLES ist, einmal den „Kontrarianismus” genannt: Immer dagegen sein, egal wofür!
Wie aber können wir anders mit Krisen umgehen als zu erstarren, in Weltuntergangs-Phantasien zu versinken oder ständig mit der Wutpeitsche herumzurennen?
Wir könnten versuchen, herauszufinden, was sie uns zu sagen haben. Dazu bedarf es einer gewissen Stille. Einer Bereitschaft, die Phänomene von der anderen Seite zu sehen. Nehmen wir die Inflation. Ein echtes Panik-Wort. Es assoziiert Wirtschaftskrise, Wohlstandsverlust und Verelendung; vor allem für die Älteren, die noch die Superinflation der 20er Jahre im Generations-Gedächtnis haben. Diese ganze Angst-Klaviatur wird gerade in den Medien Länge mal Breite durchgespielt.
Man könnte aber auch fragen: Ist die Tatsache, dass Öl und Gas und manches andere teurer werden, eigentlich nur schlecht? Oder könnte es sein, dass vieles vorher einfach viel zu billig war? BRUTAL billig. Das Fleisch. Flugreisen. Service-Leistungen. Fossile Kohlenwasserstoffe, um die längst neue globale Machtkämpfe entstanden sind.
An dieser Stelle setzt natürlich sofort wieder die moralische Panik ein: „Was würden Sie denn einer armen fünfköpfigen Familie sagen, die…”
Abgesehen davon, dass ein starker Sozialstaat Energieteuerungen durch gezielte Transfers ausgleichen kann ̶̶- geht es hier nicht um etwas viel Grundsätzlicheres? Nämlich um die Frage, ob die Ökonomie die wahren Werte abbildet?
Wenn wir uns immer nur als „Verbraucher“ und „Konsumenten“ definieren – statt als Bürger, die unsere Welt gestalten –, dann läuft alles immer nur auf das Billigste hinaus. Und das rächt sich irgendwann, weil die Balance zwischen Werten und Preisen zerbricht.
Krisen haben manchmal überraschende Nebenwirkungen. Corona hat in der Arbeitswelt ein Phänomen in Gang gesetzt, das man in den USA die „Große Resignation” nennt. Millionen Menschen fliehen aus prekären, schlecht bezahlten, sinnlosen, frustrierenden oder einfach nicht-passenden Arbeitsverhältnissen. Sie kehren in einer Art existentiellen Selbstüberprüfung nicht mehr in ihre alten Jobs zurück. Das ist alles andere als Resignation. Es ist (meistens) die Suche nach Neubeginn.
Zur Zeit herrscht überall „Fachkräftemangel“ Aber das gespreizte Wort sagt schon, was das Problem ist. Es basiert auf der Vorstellung, dass uns die Arbeit für unsere Komfortabilität sozusagen günstig zusteht. „Fachkräfte“ immer im Überfluss vorhanden sind: Billig, preiswert, gehorsam. Wir haben das Handwerk, die Könnerschaft, den Service, missachtet. Und stattdessen auf digitale Effizienz-Illusionen gestarrt.
Jetzt beginnt eine Ära, in der Humankapital massiv aufgewertet wird.
Und das könnte doch eine gute Nachricht sein, oder?
Allerdings ist sie schwer zu verkraften.
Deshalb schreien und fürchten wir uns lieber.
Wir könnten auch versuchen, das WUNDERBARE an Krisen wahrzunehmen.
Das klingt jetzt nach Schönrednerei. Aber Krisen erzeugen oftmals eine Gegenkraft, über die wir uns WUNDERN können, wenn wir noch die Fähigkeit des Staunens besitzen.
The Year That Changed Our World: A Photographic History of the Covid-19 Pandemic English edition | by Marielle Eudes and Agence France Presse | 7 Dec 2021
Das ist ein opulentes Fotobuch mit den intensivsten Bildern der Corona-Epidemie. Man fragt sich: Wer will sich denn Fotos über Corona ansehen? Wenn man den Band jedoch aufschlägt, entsteht eine eigenartige Ergriffenheit. „Das Jahr, das die Welt veränderte“ zeigt ein tanzendes Paar in einer engen Einzimmerwohnung, mitten im Lockdown.
Gewichtheber in hermetischen Plastikhüllen, die miteinander trainieren. Leere Städte, leere Straßen, die plötzlich in einer magischen Sprache zu uns sprechen (Venedig, New York). Und in die plötzlich Dachse, Füchse und Pinguine einwandern.
Man sieht:
Ein Orchester, dass vor einem WALD als Publikum spielt.
Eine 100-jährige, die nach ihrer überstandenen Corona-Infektion mit Beifall aus dem Krankenhaus entlassen wird.
Den Tanz auf den italienischen Balkonen am Höhepunkt des ersten Lockdowns.
Der Stress und der Mut, die Verzweiflung und Erschöpfung der vielen Helfer in der Pandemie.
Das Weinen am Grab der Opfer.
Nichts wird hier verschwiegen oder schöngeknipst. Es wird nur die Art und Weise gezeigt, wie Menschen gerade dann über sich hinauswachsen können, wenn alte Selbstverständlichkeiten außer Kraft gesetzt werden. Krisen können etwas freisetzen, was uns in die Zukunft führt.
Viele haben Corona als eine Art Attacke der Natur auf unsere Lebensrechte wahrgenommen. Plötzlich drangen Mikroorganismen auf unsere Lebensrechte ein und brachten alles durcheinander. Die Idee des „Killervirus“ geistert in den Köpfen herum. Wir können uns gar nicht vorstellen, dass die Pandemie einfach langsam ausklingen könnte. Das Virus adaptiert sich an den Menschen, und wir adaptieren uns an das Virus. Das nennt sich Co-Evolution, und ist in der langen Geschichte der Evolution eine erprobte Methode der Veränderung.
Vielleicht die ist „die Natur“ ja gar nicht unser feindlicher End-Gegner. Und will uns auch nicht „bestrafen“ oder „umbringen“. Wäre das nicht auch ein interessanter Gedanke in Bezug auf die „Klimakatastrophe“, die in unseren Köpfen und Herzen längst biblische Straf-Dimensionen angenommen hat?
Ja, es ist sehr trocken dieses Jahr. Fürchterlich trocken. Es brennt häufiger und heftig in den Wäldern. Der Wasserstand der Flüsse und Stauseen ist niedrig. Das gab es auch früher schon, aber heute fällt es uns viel mehr auf. Die Bilder von Feuer, Dürre und Flut wirken eindringlicher, näher, wenn sie in einer bestimmten Weise geframt sind. Als Zeichen des Untergangs.
Aber kann „die Natur“ wirklich durch uns untergehen?
Oder ist das wieder nur eine neue Hybris?
Vor etwa 12.000 Jahren verschwanden in einem klimatischen Übergang in Eurasien die meisten große Wildtiere. Es wurde deutlich wärmer. Unsere Vorfahren erfanden daraufhin neue Produktions- und Lebensweisen. Die agrarische Revolution begann, man baute große Städte, in denen viele Menschen lebten. Und miteinander Handel trieben. Große, komplexe Gesellschaften entstanden.
Ende des 16. Jahrhunderts gab es in Europa die Kleine Eiszeit. Viele Menschen verhungerten, weil jahrelang Ernten ausfielen oder verdarben. Aber dadurch erlebten auch Techniken der Vorratshaltung und Konservierung, innovative Methoden der Viehzucht und des Ackerbaus einen Schub.
Gut 200 Jahre vor der Regenflut im Ahrtal im Jahr 2021 gab es eine noch größere Flut. Das Hochwasser von 1804 forderte 63 Menschenleben; 129 Wohnhäuser, 162 Scheunen und Stallungen, 18 Mühlen, 8 Schmieden und nahezu alle Brücken, insgesamt 30, wurden von den Wassermassen weggerissen. Damals wohnten viel weniger Menschen im Ahrtal. Weitere 469 Wohnhäuser, 234 Scheunen und Ställe, 2 Mühlen und 1 Schmiede wurden beschädigt, 78 Pferde und Zugrinder kamen in den Fluten um; die gesamte Ernte wurde vernichtet. Der Spitzenabfluss der Ahr von 1.100 m³/sek war deutlich höher als 2021 (700 m³/sek). de.wikipedia.org
1362 gab es die „Grote Mandränke“, eine Flut, die wahrscheinlich 100.000 Menschen das Leben kostete und die heutige Schleswig-Holsteinische Westküste mit ungeheurer Gewalt in lauter Bruchstücke zerlegte. Unter anderem entstand damals die schöne Insel Sylt.
Im Jahre 1540 wurde ganz Europa von einer radikalen Dürre ergriffen. Es gab ein ganzes Jahr keinen Regen, die Ernten fielen aus, und Wein wurde billiger als Wasser. Alkoholismus und Hexenverbrennungen stiegen rapide an.
1612 schwemmte eine gigantische Flutkatastrophe im Alpenraum ganze Dörfer und Städte davon.
In den 1930er Jahren – lange vor dem steilen Anstieg der fossilen Verbrennung – kam es im amerikanischen Westen, der Kornkammer Amerikas, zu einer jahrelangen Dürreperiode, in der sich ALLES in Staub verwandelte. Tiere, Pflanzen, alles starb – mitten in der Weltwirtschaftskrise. Die „Dust Bowl“ spielt sogar eine Rolle in einem bekannten Science-Fiction-Film, in dem Astronauten von der Erde fliehen, um eine Ersatzerde zu suchen („Interstellar”, mit Matthew McConaughey in der Hauptrolle).
Ich bringe diese Beispiele nicht, um die menschengemachte Klima-Gefahr zu verharmlosen. Es geht aber darum, eine Illusion sichtbar zu machen: die Vorstellung der „harmonischen Natur“, die wir durch unser sündiges Verhalten „durcheinanderbringen”. Diese Vorstellung führt eher zu einer inneren Trotzigkeit, oder einer Schicksals-Ergebenheit, die uns nicht ins Handeln, sondern ins Resignieren bringt. Und in eine theatralische Art von Pathos: Wir Sünder gehören bestraft.
Darin kann man sich regelrecht suhlen.
Unsere Vorfahren haben es geschafft, in die härtesten Klimazonen einzuwandern, in der Wüste oder am Polarkreis zu überleben. Wir haben heute viel mehr Möglichkeiten – technischer, systemischer, innovativer Natur –, die unsere Vorfahren niemals hatten. Wir können uns besser anpassen. Wir können unsere Lebens- und Produktionsweisen umstellen. Wir können eine Zivilisation errichten, ohne dabei dauernd riesige Mengen CO&sub2; in die Atmosphäre zu pumpen, ohne dabei in Sack und Asche gehen zu müssen. Ja, das können wir.
Allerdings müssen wir es uns auch zu-trauen.
Der amerikanische Klimaforscher Michael E. Mann hat in einem Essay den Weltuntergangsglauben als das neue Leugnen bezeichnet: „Climate doomism is in many ways as pernicious as outright climate change denial, for it leads us down the same path of inaction.“, – Klima-Katastrophismus ist in vielerlei Hinsicht genauso schädlich wie direkte Klimaleugnung, weil er uns auf denselben Pfad des Nichtstuns führt. www.washingtonpost.com
Und was ist mit der zweiten schrecklichen Mega-Krise unserer Tage – dem russischen Krieg in der Ukraine? Wie soll man daran etwas „Positives“ finden (und ist das nicht reinster Zynismus)?
Ich bin neulich auf einer Website für ukrainische Street-Art gestoßen; Wandkunst im öffentlichen Raum, Widerstandskunst gegen den Putin’schen Krieg. Besonders ist mir das Wandgemälde Nr. 23 aufgefallen.
Eine Frau, in deren Gesicht sich die ganze Verletzlichkeit des Menschen im Krieg zeigt. www.boredpanda.com
Verletzlichkeit kann unheimlich mächtig sein. Und ist es nicht auch das, was der Ukraine-Krieg uns erzählt? Wie verletzlich die menschliche Zivilisation immer noch gegenüber Wahn und Hass, kollektiver Manipulation und Diktatur ist. Aber auch, wie Widerstand und Würde, Hoffnung und Resilienz sich immer wieder neu organisieren?
Es ist beeindruckend, wie sich da im Osten Europas eine Nation formt, die ihre eigenen Ziele definiert – ein ungeheuer energetischer Widerstand, der einfach nicht zu besiegen ist (natürlich kann auch das nicht perfekt sein).
Ist es nicht auch erstaunlich, dass Europa diese Schockwelle in einer nie da gewesenen Entschlossenheit und Klarheit beantwortet hat – allen Putin-Schwurblern und Orbán-Fans zum Trotz? Und wir als europäische Bürger dennoch nicht – auch wenn manche das behaupten – in einen „Kriegsrausch“ verfallen sind?
Hat sich wirklich nichts verändert seit den dunklen Zeiten des 20. Jahrhunderts, als die Demokratien schwach, die Politiker unentschlossen waren, und die Tyrannen leichtes Spielt hatten?
Sind „Menschen“ wirklich immer nur dumm?
Wiederholt sich die Geschichte wirklich bis zum Untergang?
Oder überrascht sie uns immer wieder aufs Neue?
Radikale Akzeptanz
Wer jemals in einer echten Lebenskrise war – schwere Krankheit, lange Trauer, beruflicher Absturz -, der weiß um die Bedeutung der radikalen Akzeptanz.
Radikale Akzeptanz heißt, die Ohnmacht zu akzeptieren, die wir als Menschen immer wieder erleben.
Das wirkt auf eine eigentümliche Weise befreiend.
Es erfordert, dass wir uns neu für die Zukunft entscheiden.
Ent-scheiden heißt, sich von Illusionen zu verabschieden. Das Alte, Vertraute, auf dem wir so sehr beharren, und das jetzt krisenhaft geworden ist, loszulassen.
Radikale Akzeptanz heißt: Es ist, wie es ist. Zu akzeptieren, dass es keine schnelle LÖSUNG gibt. Aber viele LOS-Lösungen, die sich zu einem Weg zusammenfügen.
Marshall McLuhan, der Medienprophet der 60er Jahre formulierte: „Wenn wir mit dem Neuen konfrontiert sind, neigen wir dazu, uns an die Dinge und Gerüche der jüngsten Vergangenheit zu klammern. Wir schauen auf die Gegenwart durch einen Rückspiegel. Wir marschieren rückwärts in die Zukunft.“
Vielleicht kommt man auch im Rückwärtsgang in die Zukunft. Aber wäre es nicht schön, den Blick wieder nach vorne zu richten? Hinein in die Möglichkeiten?
Der Possibilismus
In meinem Gespräch mit den Journalisten würde ich gerne auf den Punkt kommen, um den es eigentlich geht. Aber so weit kommen wir nie. Die meisten Interviews sind maximal 3.30 Minuten lang. Mehr kann der heutige Medienkonsument nicht verkraften.
Es sind, möchte ich sagen, nicht so sehr die Krisen, vor denen wir uns fürchten sollten. Fürchten sollten wir uns vor der Hysterie, mit der wir versuchen, Krisen andauernd anzuschreien.
Leben kann nur gelingen, wenn wir auch das Nichtgelingende annehmen. Ist es nicht das, was uns unentwegt stresst? Der ewige Perfektionismus, die Kontrollwut, alles soll funktionieren, die Züge müssen pünktlich fahren, das Bruttosozialprodukt muss steigen, sonst werden wir richtig sauer! Krisen hingegen zwingen uns – im Wortsinn – zu Gelassenheit. Weil es keine einfachen Lösungen gibt – sonst wäre es ja keine Krise -, zwingen sie uns zur Anerkennung von Widersprüchen, die in der Natur der Dinge liegen. Sie fordern nicht „Lösungen“, sondern ein Hindurch-Navigieren, ein Wandeln auf unsicherem Terrain.
Krisen kann man nicht „überwinden“. Sie lösen sich auf, wenn aus ihnen eine neue Erzählung, ein neues Narrativ entsteht, das in die Zukunft führt.
Eine neue Arbeitswelt.
Ein neues Europa.
Eine neue Energiepolitik.
Ein neuer Frieden.
Wir sollten nicht vergessen: Am anderen Ufer der hysterischen Infantilität, mit der wir dauernd auf die Krisen einschlagen, stehen grinsend die Populisten, die Autokraten und Diktatoren. Sie freuen sich sehr über unsere Verwirrungen und Angstschwurbeleien. Sie bieten einfache Antworten, die auf Gewalt, Lügen und Nostalgie basieren. Das endet immer in der Katastrophe.
Der Meta-Statistiker Dr. Max Roser hat in seinem Welt-Statistik-Portal ourworldindata.org eine schöne dialektische Dreier-Formel für eine konstruktive Zukunfts-Haltung gefunden:
Die Welt ist schrecklich.
Die Welt ist viel besser (als wir glauben).
Beide Aussagen sind wahr. Dazu kommt ein entscheidender dritter Satz:
Die Welt kann viel besser werden.
Es geht um eine Grundhaltung des Wohl-Wollens. Gegenüber uns selbst, gegenüber der Welt, mit all ihren Schwächen und Zu-Mutungen.
Es geht um Erwachsenwerden in einer Welt, die nicht perfekt, aber vielleicht besser werden kann.
Zukunft ist eine Entscheidung.
Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Stellen Sie sich vor, die DIGITALISIERUNG, dieser Super-Hyper-Megatrend, wäre ein Kaiser.
Der digitale Kaiser würde ständig auf der Haupt-Einkaufsstraße flanieren, um seine Macht und Herrlichkeit zu zeigen. Rechts und links versammeln sich seine Fans und Geschäftsmänner, die Berater, Nerds und Neu-Gierigen. Und klatschen Beifall.
Nur einige wenige Passanten würden aus etwas Distanz heraus sehen, dass der Kaiser sich zwar sehr viel Mühe gibt, gravitätisch zu SCHREITEN.
Dass er aber in Wirklichkeit völlig nackt ist.
So geht es mir manchmal auf den immer noch zahlreichen Digital-Kongressen, auf denen noch immer das Hohelied des Digitalismus (des Digitalen als Ideologie) gesungen wird. Jetzt lautet die Parole: Wir haben noch gar nicht richtig angefangen! Jetzt geht es erst richtig los!
Quantencomputer! Künstliche Intelligenz! AI, KI, Blockchain, Smartcoin, Schnittstellen zum Gedankenlesen…
Die digitale Revolution beginnt erst jetzt.
Und ganz obendrauf, sozusagen als Krönung: DAS METAVERSE!
Manchmal möchte man von hinten, von den billigen Plätzen aus, hineinrufen:
KENNEN WIR SCHON!
UND WOZU DAS ALLES?
Andersons Märchen „Der Kaisers neue Kleider“ erschien 1837 – im Vormärz, einer Zeit, in der sich der Zerfall der feudalen Ordnung abzeichnete. Der Text handelt von einem Herrscher, der sich von zwei Betrügern eine Illusion „anschneidern” lässt: Der Kern des Betrugs ist die Behauptung, dass diese ganz besonders feinen Ornate (die aus nichts bestehen) nur von ganz berufenen Personen gesehen und gewürdigt werden können.
So erzeugt man eine hermetische Illusion. Wer möchte schon zu den Dummen und Ignoranten, den Wahrnehmungsgestörten und Technikfeinden gehören?
Seit vielen Monaten sind die Tech-Werte an der Wallstreet im Sinkflug. Das amerikanische Digital-Oligopol MAAAM (Meta, Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft,) vermeldet erstmals Wachstums- und Umsatzeinbrüche.
The era of big-tech exceptionalism may be over, Economist 27.7.2022
Einhorn-Strategien, die gestern noch selbst in konservativen Wirtschaftsmagazinen euphorisch gefeiert wurden, erweisen sich als korrupte Hasardeur-Spiele. Die Cyber-Währungen befinden sich im freien Fall. Hunderte von gefeierten Startups, die Jahrzehnte lang Geld verbrennen konnten, haben ernsthafte Finanzierungsschwierigkeiten.
Der Hype ist vorbei. Umso mehr muss die Propaganda verstärkt werden.
Die Anfänge
Vor fast 40 Jahren kaufte ich meinen ersten Computer, einen Commodore 64. Ich werde den süßen Geruch heißer Platinen und billigen Plastiks nie vergessen, der diesem heiligen Gerät entströmte. Das Piep-Piep-Pusschawüühu-huu des Modems, mit dem man sich mit der großen weiten Datenwelt verband, höre ich heute noch manchmal beim Spazierengehen im Kopf.
Als ich im Jahr 1986 in meinem Zimmer saß und mit dem Computer eine komplett neue Welt betrat, hatte ich wunderbare Illusionen. Zum Beispiel:
Die Verbindung aller Menschen, Länder und Kulturen durch vernetzte Computertechnologien wird eine Zeit des Friedens und der Freiheit bringen.
Monotone Arbeit wird durch Robotik und Informatik überflüssig. Die enorm gesteigerte Produktivität ermöglicht Wohlstand ohne Ende.
Die Verfügbarkeit aller Information wird zu einer Wissensgesellschaft führen. Wir werden alle klüger und intelligenter!
Wir können ohne Drogen in imaginäre Welten eintauchen, was die KREATIVITÄT der Menschheit befördert.
In der digitalen Welt wird jeder zum Selbst-Unternehmer. Es wird Millionen kreative Firmen geben, die nach fantastischen Innovationen streben.
Hierarchien werden durch Vernetzung abgebaut, Machtstrukturen beseitigt…
Jede dieser Hoffnungen ist an unterschiedlichen Faktoren gescheitert. Die Idee der Kreativen Wirtschaft scheiterte weniger am Mangel an Kreativität (zum Teil wurde sie durchaus verwirklicht). Das Kreative am Digitalen geriet in den Sog einer dämonischen Kybernetik, des Netzwerk-Effekts, der die User am Ende immer nur auf EINE Plattform zieht. Und dadurch gigantische Monopole schafft.
Den Ort, wo die Befreiung der Arbeit steckengeblieben ist, kann man an gestressten Fahrradboten und ruppigen Geschäftsmodellen wie UBER finden: Digitale Dienstleistungen erzeugen gewaltige Schnittstellen-Probleme zur analogen Realität. Plötzlich entsteht wieder ein Heer von sklavenähnlichen Arbeitern, wie in der Urzeit des Industrialismus.
Niemand bezweifelt den Segen von Wikipedia und neuer Lernplattformen. Aber gleichzeitig hat sich ein dunkler Code in das Wesen der Information eingeschlichen. John Naisbitt, der „Erfinder“ der Megatrends, formulierte einmal in den 90ern: „Wir ertrinken in Information und hungern nach Wissen“.
Heute sind wir ein paar Runden weiter: Wissen ertrinkt in Myriaden von Informationen, deren Herkunft und Intentionen uns verwirren.
Wissen, so verstehen wir langsam, ist etwas komplett anderes als Information. Wissen entsteht langsam, durch Erfahrung, „Trial und Error”, Begegnung und Interaktion. Wissen kann man nicht einfach „copy-pasten”. Aber das Netz mit seiner Allgegenwart verführt uns, das zu glauben (deshalb gibt es so viele „copy-gepastete” Doktorarbeiten).
Wissen handelt von Zusammenhängen. Von gegenseitigen Referenzen. Wie Bildung hat es immer etwas mit Begegnung zu tun. Mit Vertrauen. Aber dieses Vertrauen geht in einer digitalen Wirklichkeit zugrunde, in der es nur noch um das rasende Schürfen der eigentlichen Knappheits-Ressource unserer Zeit geht: um die menschliche Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt.
Digital Doomsday
Das größte Desaster hat das Zukunfts-Versprechen des Digitalen auf der Ebene der menschlichen Kommunikation hinterlassen. Shitstorms, Cybermobbing, Fake News, Identitätsklau, Hass-Mail, Cyberterrorismus. So viele kommunikative Gewaltverhältnisse sind in unseren Alltag eingedrungen, dass einem der Atem stockt.
Kennen Sie den Film „Tickled“ (auf HBO)? Wenn nicht, sollten Sie sich das antun. Es ist eine Dokumentation über eine Sekte, die mit Kitzelwettbewerben per Internet Existenzen vernichtete, ungeheuer viel Geld verdiente und dabei ungeschoren davonkam. So etwas Bizarr-Bösartiges scheint sich nur das Netz ausdenken zu können…
Es ist eine bittere Erkenntnis: Wenn alle mit allen in Echtzeit, aber weitgehend anonym und ohne feste Regeln verbunden sind, ersteht keine Befreiung – sondern Terror. Das Bösartige, Schrille, Übergriffige, Manipulative, setzt sich immer durch. Die amerikanische Publizistin Adrienne LaFrance nannte das soziale Netz sogar eine „soziale Doomsday-Maschine“:
„Das soziale Netz tut genau das, wofür es konstruiert wurde. Facebook wurde nicht dafür gebaut, die Wahrheit zu finden, oder die öffentliche Gesundheit zu verbessern. Man konzentrierte sich auf das Konzept der „community“ – aber entkleidete diesen Begriff aller moralischer Bedeutung. Eine Konsequenz davon ist der Aufstieg von QAnon. Zusammen mit Google und YouTube bringt Facebook Falschinformationen in Lichtgeschwindigkeit zum globalen Publikum. Facebook ist ein Agent von Regierungspropaganda, gezielter Belästigung, terroristischer Rekrutierung, emotionaler Manipulation. Und sogar Völkermord. Eine welthistorische Waffe, die nicht im Untergrund lebt, sondern auf einem Disney-ähnlichen Campus in Menlo Park.“
(Adrienne LaFrance, The Social Net is a Doomsday Machine, Atlantic, 20.7.22)
Vielleicht sollten wir „social media“ als Teil eines übergreifenden Zivilisationsproblems verstehen: der Großen Zivilisatorischen Erhitzung. Wie die fossilen Rohstoffe die Atmosphäre aufheizen, heizt das soziale Netz alle Gefühle, Bedeutungen, Konflikte, Aggressionen, Profanitäten, Narzissmen und Gerüchte unentwegt an. Bis sich die humanen Sozialsysteme zu entzünden beginnen. Und Gesellschaften unfähig werden, sich über sich selbst und die Zukunft zu verständigen.
Es gibt kluge Denker, die tief in diesen Abgrund hineingedacht haben. Etwa Jaron Lanier, ein Pionier des Cyberspace, der schon in den 80er Jahren die ersten (ziemlich klobigen und nach Gummi riechenden) Cyber-Brillen produzierte. Sein Lieblingshobby ist heute das Spielen archaischer Blasinstrumente, etwa von Didgeridoos. Lanier formulierte:
Massen zu emotionalisieren heißt, individuelle Menschen im Design der Gesellschaft zu ent-emotionalisieren. Und wenn man Menschen dazu drängt, keine Menschen zu sein, kehren sie zu alten, Mob-ähnlichen Verhaltensformen zurück.
(Jaron Lanier, „Ten Arguments for Deleting Your Social Media Accounts Right Now”, The HopeFull Institute)
So wie unser Körper auf ein Gleichgewicht des Mikroben- und Bakterien-Bioms angewiesen ist, das uns bewohnt, braucht unsere seelische Balance bestimmte Beziehungsformen. Die DUNBAR-Formel (nach dem Anthropologen Robin Dunbar) hat dieses „soziale Biom” vermessen: Wir können mit etwa 100-200 Menschen in echter Bekanntschaft leben, 12 bis 25 Freunde haben, etwa 12 Vertraute und mit 5 bis 6 Menschen eine intime Beziehung eingehen. Die Anzahl der Menschen, mit denen wir echte Verbindungen eingehen können, ist durch unsere neuronalen Fähigkeiten limitiert, die in der evolutionären Vergangenheit des Menschen entstanden sind. Wir können uns – zum Beispiel – selten mehr als 100 Gesichter merken.
(Robin Dunbar, Human Evolution: Our Brains and Behavior, 2016)
Das „soziale“ Netz bläht nun die Anzahl der Menschen, mit denen wir „es zu tun haben“, ins Unendliche auf. Es macht aus Beziehungen Pseudo-Verbindungen. Es schärft mit Anreiz-Systemen (Likes, Vergleichen, Sternen, Re-Tweets und-so-weiter) rasende Konkurrenzen, bei denen riesige Mobs und Deutungskriege entstehen und wieder zerfallen.
Dadurch werden wir haltlos.
Das Resultat ist soziale Regression.
In der Corona-Krise konnten wir erleben, wie uns tausende Likes und zigtausende Follower nichts nutzten, um die plötzlich über uns hereinbrechende Einsamkeit zu lindern. Im Gegenteil: Das Übermaß an „Kontakten“ stürzte uns in eine innere Leere, weil wir plötzlich die Illusion erlebten, in der wir uns befanden.
Soziale Medien haben uns alle in die Mitte eines römischen Kolosseums befördert, und viele auf den Rängen wollen Konflikt und Blut sehen.
Jonathan Haidt
Natürlich gibt es Sektoren, in denen sich das Digitale als Win-Win-Fortschritt erwiesen hat. Etwa in der Prozesstechnik, der Forschung, der Automatisierung von Produktionsprozessen, bei Digitalen Zwillingen, überall wo große, „langweilige“ Datenströme zu verarbeiten sind. Aber auch hier hat sich ein Enttäuschungs-Tal aufgetan: „Überall reden wir von der Produktivitätssteigerung durch IT, aber in den Statistiken ist das nie zu sehen“, lautet ein berühmter Ökonomen-Satz.
Stattdessen tun sich in jedem Digitalisierungs-Prozess seltsame Reibungskräfte auf. Man kann das in jeder Behörde, jedem Unternehmen, jedem Krankenhaus erleben. Je mehr Digitalisierung, desto konfuser und chaotischer wird alles (und desto mehr Papier wird beschrieben, mit immer höherem Zeitaufwand). Woran liegt das? An der störrischen Technikfeindlichkeit der Mitarbeiter, wie es oft behauptet wird?
Digitalisierung wird überwiegend als Kostensenkung-Maschine verstanden. Das geht immer schief. Manche Banken oder Airlines haben sich bereits konsequent selbst abgeschafft, indem sie alle Arbeit ihren Kunden aufgebürdet, entsetzliche Sicherheitsabfragen installiert und dafür noch Gebühren verlangt haben. Und niemand mehr „analog“ erreichbar war. Solche digitalen Kundenabschreckungs-Methoden funktionieren sehr verlässlich. Richtung Marktaustritt.
Das magische Metaverse
Neulich lud ich mein Auto am Autobahnkreuz Biebelried, zwischen Würzburg und Nürnberg neben einem seltsamen Gebäude. Eine große Beton-Kuppel, ein Ei, das ich zunächst für eine modernistische Kirche hielt, oder ein Atomkraftwerk.
Das Ding wirkte verlassen, wie eine Ruine aus der Zukunft. Später fand ich seine Geschichte heraus: Es war in den Nuller Jahren ein IMAX-Kino mit riesiger Leinwand und spektakulärer Technik. Nach zwei kurzen Öffnungsperioden stand es leer. Heute ist es, soweit ich weiß, von einer Werbeagentur gemietet.
Können wir uns noch an den 3-D-Film-Hype erinnern – einer von vielen Hypes, die das Digitale Zeitalter mit sich brachte, und von denen heute niemand mehr spricht? Um 2005 herum war es ausgemachte Sache, dass Kinofilme nur noch in 3-D-Digitaltechnik produziert werden würden. Die Kinos würden zu riesigen Simulationstempeln umgebaut werden und nur noch Filme in nie gekannter Plastizität und Auflösung zeigen – Multiversen in voller Pracht.
WHOW!
Warum hat sich das nie realisiert – und wieso werden heute kaum noch 3-D-Filme produziert? Als ich mit meinen Kindern um die Jahrtausendwende in 3-D-Kinos ging, fanden sie es lustig, waren danach aber äußerst schlechter Laune. Begeistert waren sie dagegen von Computerspielen, die grob und pixelig waren. Denn man konnte etwas TUN.
Das menschliche Hirn ist eine magische Maschine. Es kann sich alle möglichen Dinge vorstellen, komplexe Phantasien hervorbringen. Es kann sich mit der EFT-Technik (Episodic Future Thinking) sogar in die Zukunft versetzen. Unser Hirn macht, wenn es die Wirklichkeit „scannt“, ständig Vorhersagen, es ergänzt Sinneseindrücke durch innere Modelle, fügt unscharfen Informationen eigene Bilder hinzu. Wir sehen einen 2-D- Film durchaus dreidimensional – unser Hirn rechnet automatisch die Räumlichkeit dazu.
Wenn wir stereotaktische Bilder sehen, gerät unser Hirn erst ins Staunen, dann in eine schwere Irritation. Nun konkurriert das innere 3D mit dem äußeren 3D. Unser Hirn irrt zwischen den Referenzsystemen hin und her. Dadurch entsteht eine Art innerer Spaltung – und Stress.
Haben sie einmal eine Außenbord-Reparatur an der ISS vorgenommen, 400 Kilometer über der Erde? Ich schon. Es gibt tolle Programme für die üblichen Drei-D-Brillen, bei denen man echt schwindlig wird. Die Beine sacken weg, schließlich arbeitet man in Null G…
Davon muss man sich erstmal erholen.
Man nennt das auch die Cybersickness. Es ist besonders anstrengend, von einem Universum wieder ins andere zu kommen.
Ein anderer Faktor ist die mediale Adaptation. Jedes Medium schreibt seine eigene Dramaturgie. 3D-Filme brachten irgendwann nur noch Handlungen hervor, in denen dem Zuschauer ständig etwas mit donnerndem Lärm um die Ohren flog – Dinosaurier, Roboter, Häuser, Raumschiffe. Das produzierte kurzfristig viel Adrenalin und Quietschen im Kinosaal. Aber auf Dauer strunzdumme Drehbücher.
Das „Kino für die Sinne“ ist in Wahrheit ziemlich sinn-los.
Könnte es mit dem Metaverse ebenso sein?
Der Idee des Metaverse liegt die Idee zu Grunde, dass wir uns nach einer Art hochauflösender Zweitwelt voller Wunder und Sensationen sehnen. Für manche Anlässe, wie ABBA-Wiederauferstehungen, mag das stimmen. Was aber, wenn uns schon in REAL WORLD alles viel zu viel ist?
Zu viele Möglichkeiten. Zu viele Reize.
Zu hohe Auflösung.
Zu viele rosa Elefanten und geile Zwerge.
Wenn unser Hirn eher die WENIGEREN Informationen bevorzugt?
Die unschärferen Bilder, die uns Raum für Eigenes lassen?
Die sichtbaren Unklarheiten, die unsere Fantasie anregen?
Es gibt ein wunderbares Gedankenexperiment, dass uns an den Kern des Metaverse-Mythos führt: Wenn es eine Maschine gäbe, die ihnen den Rest ihres Lebens garantiert Komfortabilitäts- und Glückgefühle ins Hirn projiziert, einschließlich spannender Abenteuer – sie würden davon gar nichts merken und sogar den Tod vergessen – würden Sie sich anschließen lassen?
Wahrscheinlich wird es Menschen geben, die das Metaverse tatsächlich besiedeln werden. Wie Pioniere auf einen fremden Planeten. Sie werden gerne in jene Landschaften gehen, in denen man als Pferd oder Zyklop oder als rosa Giftzwerg willkommen ist. Und wo man all die Dinge „machen“ kann, die in der real world nicht so gut funktionieren. Oder ankommen.
Es werden aber nicht allzu viele sein.
Das Metaverse ist ein Trick, um dem digitalen Desaster nach vorne, ins nächste „Paradies“ zu entkommen.
Technologie auf der Suche nach Problemen.
Auch zum Mars nimmt man sich immer selbst mit.
Weiß Elon Musk das?
Gleichzeitig ist das Metaverse das, was Menschen in der einen oder anderen Weise immer schon bewohnt haben. Vielleicht handelt es sich um nichts anderes als die Himmels-Version 2.0, das Transzendenz-Gefäß des technologischen Zeitalters. Wenn man einen mittelalterlichen Klappaltar aufklappt – etwa die Darstellung der Hölle und des Paradieses im Weltgerichtstriptychon von Hieronymus Bosch – was sieht man da? Genau. Das METAVERSE in all seiner Pracht. In 2D nur, gewiss, und ohne Animationen. Aber kommt es darauf wirklich an?
Anmerkung: Neben dem spektakulären „Cyber-„Metaverse gibt es noch ein anderes, das sich eher an fluiden Organisationsprozessen orientiert. Das kann eine sinnvolle Weiterentwicklung von „Social Media“ sein. Man sieht allerdings, welche Unschärfe und Verwirrung im Begriff „Metaverse“ liegt. Ein Begriff, der sich für alle möglichen Deutungen brauchen und missbrauchen lässt.
Digitaler Schwurbel
Derzeit zaubern die digitalen Propheten in steigender Hektik neue Zauberbesen aus dem Hut. Auch KI ist über weite Strecken eines von diesen Wundermitteln. Aber was heißt eigentlich „Künstliche Intelligenz“?
Der Schwurbel beginnt schon in der Wortbildung. Intelligenz setzt sich aus einem weiten Feld von emotionalen, analytischen und reflexiven Fähigkeiten zusammen, die eigentlich nur im lebendigen Menschen definierbar sind. Wie aber kann dann Intelligenz „künstlich“ sein? Die Begriffskombination suggeriert, dass Maschinen automatisch „klüger“ sind – oder werden – als Menschen, „weil sie schneller rechnen“ können.
Das ist ein typischer Kategorienfehler (nach Niklas Luhmann, der als Beispiel für einen Kategorienfehler einen Bauern anführte, der Bratkartoffeln anbauen will).
Aus dem Trendwörterbuch der Gegenwart: * Schwurbel, der.
Volkstümliche Bezeichnung für das Bilden falscher semantischer Brücken. Beim Schwurbeln werden unzusammenhängende Dinge miteinander verbunden, falsche Kausalitäten oder Zusammenhänge erzeugt. Schwurbeln (früher „spinnen“) ist im Prinzip harmlos und super-menschlich, ja sogar eine kreative Funktion unseres Hirns. Kinder, Künstler und interessante Menschen tun es dauernd, um „im Spiel“ zu bleiben. Gefährlich wird es nur, wenn das Spiel aggressiv aufgeladen und in wahnhafte Illusionen übersetzt wird. Dann kommt es zu fatalen —> Schwurbeldemien.
KI eignet sich hervorragend, um Millionen erneuerbare Stromquellen für die zukünftige Energiesicherheit zu synchronisieren. Um Millionen Daten zu strukturieren, damit etwas sichtbar wird. Aber nicht, um Sinnfragen zu lösen. Beziehungsprobleme. Oder fundamentale Entscheidungsfragen in der Unschärfe der real world.
Watson, die Gross-KI von IBM, wurde in Krankenhäusern als „Diagnosearzt“ ausprobiert. Mit ernüchternden Ergebnissen. Der menschliche Körper und seine Reaktionen lassen sich nicht einfach in binäre Algorithmen zerlegen. Menschen sind auf die absonderlichste Weise krank. Sie sind „analog“ krank – mit vielen Zwischentönen, Unschärfen, magischen Symptomen…
Eine der momentanen Hypes sind KI-Systeme, die KUNST machen können. Eine Super-Sensation! Computer, die wie Breughel malen! Die unbekannte Bach-Kantaten am laufenden Stück komponieren können! Wenn Computer schon KUNST machen können, dann sind wir Menschen sicher bald überflüssig!
Wirklich?
Amazon hat für ALEXA ein Programm herausgebracht, das die Stimmen von Toten in die Assistenzfunktionen integriert. Das heißt, ich könnte die Stimme meiner Großmutter (ich habe noch ein paar alte Tonkassetten, das sollte reichen) als Grundstimme meines „digital assistant“ verwenden.
Ich möchte die Stimme meiner Oma nicht dreißig Jahre nach ihrem Tod aus meinem Lautsprecher hören. Schon gar nicht, um mir das Wetter anzusagen. Ich frage mich vielmehr: In welchem Mindset muss man sein, um derartige würdelose Software anzubieten?
Irgendetwas an all diesen „Innovationen“ erinnert an die Rote Königin, die Alice im Wunderland erklärt: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“
Aber wohin rennen wir eigentlich?
Die digitale Selbstverzwergung
Gerade im verwirrten digitalen Zeitalter sehnen wir uns nach dem Anchorman. Ein solcher Anker ist Klaus Kleber, der uns viele Jahre als Chefmoderator des ZDF die Welt so erklärte, dass sie annehmbar erschien. Nun hat er einen Film gedreht der sich noch einmal mit dem Silicon Valley und seinen mystischen Visionen beschäftigt. Im Pressetext heißt es:
Ihre Vektoren weisen ins Metaverse, ein digitales, alle Plattformen einschließendes Über-Universum, eine erschreckend realistische Allmachtsfantasie – oberhalb der vertrauten Universen von Politik, Wirtschaft, Finanzen, Privatleben, Intimem und Öffentlichem. Virtuelles und reales Leben sollen zu Einem verschmelzen. Themen, die wir bisher meist isoliert voneinander sehen – künstliche Intelligenz, verdrahtete menschliche Gehirne aus reiner Mathematik geborene Krypto-Währungen, Aussiedlung von Menschen auf andere Planeten – sind Hebel im Ringen um die Herrschaft in dieser zukünftigen Ordnung. Die Vernetzung von Algorithmen, Gen- und Gehirnforschung und milliardenfacher digitaler Kommunikation wird noch viel mächtigere Wirkung haben.
Hier wird der Digitale Kaiser noch einmal kräftig aufgerüstet. Im vollen Ornat von Macht und Gefährlichkeit steht er da.
Dabei ist alles viel einfacher banaler: ES WIRD MEISTENS NICHT FUNKTIONIEREN!
Automatisches Autofahren? Computerisiertes Gedankenlesen? Weltrettung durch Blockchain? Neuronale Verbindungen mit dem Internet durch ins Hin geschraubte Schnittstellen? Drohnen, die das Abendessen auf den Balkon bringen?
Warum glauben wir immer noch so furchtvoll an die Macht des digitalen Kaisers?
In seinem Buch „You Are Not a Gadget“ hat Lanier jenen seltsamen Selbstverzwergungs-Effekt auf den Punkt gebracht, der unserem Umgang mit dem Digitalen innewohnt:
„Menschen degradieren sich selbst, um Maschinen SMART erscheinen zu lassen. Vor dem Crash (Bankenkrise 2009) glaubten Banker an sogenannte intelligente Algorithmen, die die Kreditrisiken kalkulieren konnten, bevor man einen schlechten Kredit vergab. Wir fragen Lehrer, nach standardisierten Tests zu lehren, so dass ein Schüler gut gegenüber dem Algorithmus aussieht. Wir haben wiederholt die grenzenlose Fähigkeit unserer Spezies bewiesen, unsere Maßstäbe zu verringern, damit Informationstechnologie gut aussehen kann.”
(People degrade themselves in order to make machines seem smart all the time. Before the crash, bankers believed in supposedly intelligent algorithms that could calculate credit risks before making bad loans. We ask teachers to teach to standardized tests so a student will look good to an algorithm. We have repeatedly demonstrated our species‘ bottomless ability to lower our standards to make information technology look good. Every instance of intelligence in a machine is ambiguous.)
Wenn wir digitale Bankgeschäfte, oder Fahrkartenkäufe machen, und nichts funktioniert richtig, machen wir meistens uns SELBST dafür verantwortlich – wir glauben, dass wir zu blöd, zu untechnisch und digital unbegabt sind. Wenn wir niemanden mehr in Telefon-Warteschleifen erreichen, glauben wir, wir kämen mit dieser modernen Welt nicht zurecht – und schieben uns die Unverschämtheit, mit der wir konfrontiert werden, als Digital-Scham selbst in die Schuhe. Gegenüber den „Digital Natives“, die sich ja so elegant und ohne Probleme durchs Netz bewegen, sind wir offenbar überkommene Wesen…
Auch die „Digital Natives“ sind in Wirklichkeit ein Hype. Die Jüngeren irren genau wie wir in würdelosen Digital-Systemen herum. Sie wirken dabei nur irgendwie cooler.
Auch unsere seltsame Selbsterniedrigung vor den Robotern, die angeblich „demnächst“ so viel fähiger, ja sogar „menschlicher“ sein werden als wir, weisen auf einen fatalen anthropomorphen Effekt hin. Irgendetwas in uns sehnt sich womöglich danach, eine Maschine zu sein. Und perfekt im Modus von Eins und Null zu funktionieren.
Das Human:Digital
Um das Werden der Zukunft zu verstehen, hat sich ein relativ einfaches Modell als hilfreich erwiesen. Die LIEGENDE ACHT (oder „Doppelschleife der Veränderung“) bildet die Gesetze adaptiver Zyklen ab.
Die Bezeichnung „lazy eight”, die auch für diese Figur verwendet wird, bezieht sich ursprünglich auf eine Kunstflug-Figur einer „liegenden Acht”, die von Piloten besonders leicht zu fliegen war. www.zukunftsinstitut.de
Im ewigen Wandel wie im richtigen Leben gibt es immer fünf Phasen: Aufstieg, Erstarrung, Loslassen, Re-Vision und Neubeginn. Nach einem grandiosen Erfolg beginnt eine Phase der Optimierung und Konservierung, die unweigerlich in eine Krise mündet. Das Alte Normal wird unnormal. Das ist der Beginn einer Rückwendung, einer Re-Vision im doppelten Sinn, die uns auf den Weg zu neuen Organisationsformen führen kann. So entsteht Zukunft: In der kreativen Reaktion auf das Gelungene, aber dann Gescheiterte.
Längst ist eine Gegenbewegung gegen den Digitalismus entstanden, ein stiller Widerstand im Alltäglichen. Millionen Menschen schalten ihre Smartphones immer häufiger aus. Sie verlassen das digitale Universum dort, wo es ihnen nicht guttut. Sie reden wieder wahrhaftig miteinander – ob mit oder ohne digitale Medien ist nicht so entscheidend. Sie vernetzen sich in einer menschengerechten Weise, ob analog oder digital, am besten mit den Vorzügen von beidem.
Gleichzeitig fällt auf, wie viele Menschen sich heute wieder für mentale Techniken interessieren. Fernöstliche und holistische Denkweisen erleben einen nie dagewesenen Boom. Unter der zappelnden Oberfläche der Erregungs-Ökonomie ist eine neue Bewegung der Achtsamkeit entstanden, in der Menschen lernen, Verantwortung für sich, ihre Gefühle und Wirkungen zu übernehmen. Vielleicht ist das der Anfang einer neuen mentalen Transformation, wie es sie auch zu Beginn der Aufklärung und – ansatzweise – in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon einmal erlebt haben. Dabei geht es um die wahrhaft wichtigen Zukunfts-Kompetenzen:
Gelassenheit der wissenden Ignoranz (man muss sich nicht über alles aufregen).
Die Fähigkeit, die eigenen Muster zu erkennen.
Selbstwirksamkeit.
Konstruktiver Gemeinsinn.
Bei alledem geht es längst nicht mehr um FÜR oder GEGEN die Digitalisierung. Das wäre wieder nur Null oder Eins. Es geht um die richtigen, die würdevollen Anwendungen. Um das Human:Digital.
Für die Digitale Ethik gibt es inzwischen spannende Initiativen. So hat zum Beispiel die Publizistin und Informatikerin Sarah Spiekermann mit einem Team von Geisteswissenschaftlern, Psychologen und Systemwissenschaftlern die europäische DIN-Norm IEEE-7000 für Software-Systeme entwickelt. Das Projekt trägt den etwas umständlichen Titel „Standard-Modellverfahren für die Berücksichtigung ethischer Belange bei der Systementwicklung“.
Für den Übergang vom digitalen zum mentalen Zeitalter brauchen wir zunächst die Weisheit eines Kindes, das uns aus der Infantilisierung des Digitalen herausführt:
„Aber er hat ja nichts an!” sagte endlich ein kleines Kind. „Herr Gott, hört des Unschuldigen Stimme!” sagte der Vater; und der Eine zischelte dem Andern zu, was das Kind gesagt hatte.
„Aber er hat ja nichts an!” rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn es schien ihm, sie hätten Recht; aber er dachte bei sich: „Nun muss ich die Prozession aushalten.” Und die Kammerherren gingen noch straffer und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.
(Hans Christian Andersen, „Des Kaisers neue Kleider”, Schlusssequenz)
Ich werde derzeit oft gefragt, was man überhaupt noch über die Zukunft aussagen kann, wenn es offensichtlich keine mehr gibt. Ist die Welt nicht endgültig auf dem absteigenden Ast, im endgültigen Niedergang? Unaufhaltsam die Klimakatastrophe, der Ukraine-Krieg ohne Aussicht auf Frieden, eine neue Ära der diktatorischen Imperien steht bevor, Seuchen springen überall auf, es brennt und zündelt in allen Erdteilen, und nun auch noch Gasmangel, Inflation, Weizenkrise, Weltrezession, und war da nicht auch Genderwahn, Rechtspopulismus, überfüllte Züge und Schlangen beim Mallorca-Urlaub …?
Die Zukunft hat sich gegen uns verschworen.
Der Mensch ist schlecht und zum Untergang verurteilt.
„Rightsizing“ bedeutet, etwas in der richtigen Weise zu formatieren. Das richtige Maß zu finden. Im Leben müssen wir das immer wieder tun, wenn wir in Sackgassen laufen, die aus Übertreibungen und Verengungen entstehen.
Sonst kommen wir nicht weiter.
Die Zukunft ist eine wichtige Dimension in unserem Leben. Wenn wir sie verlieren, werden wir alt und traurig. Und früher oder später dumpf-reaktionär.
Ich möchte der Kaskade unserer Hoffnungslosigkeit eine mentale Technik entgegensetzen, zu der mich die amerikanische Zukunftsforscherin Jane McGonigal mit ihrem Buch IMAGINABLE inspiriert hat. (Jane ist Mitglied des „Institute for the Future“, des ältesten Zukunftsinstituts der USA, das in vieler Hinsicht unserem Zukunftsinstitut ähnelt).
Jane’s Methode, sich der Zukunft zu nähern, ähnelt der RE-GNOSE. Also jener Zukunfts-Reise, in der wir uns in ein Morgen versetzen, um von dort aus zurückzublicken auf unsere Gegenwart. Voraussetzung für ein solches Experiment ist es, zu erkennen, dass wir als Menschen, egal wie klug und gebildet wir sind, die Realität niemals völlig erkennen können. Wir befinden uns vielmehr in einer Realitäts-Illusion, einem Wahrnehmungs-Tunnel, den wir für die Wirklichkeit halten. Plato hat das in seinem Höhlengleichnis ausgedrückt, in dem Menschen in einer Höhle die Welt nur als flackernde Schatten an der Wand sehen und das eigentliche Geschehen verborgen bleibt.
Platos Lehrer Sokrates beschreibt in diesem Gleichnis eine unterirdische, höhlenartige Behausung, in der Menschen leben, die dort ihr ganzes Leben als Gefangene verbracht haben. Sie sind sitzend an Schenkeln und Nacken so festgebunden, dass sie immer nur nach vorn auf die Höhlenwand blicken können, wo sie die Geschehnisse der Welt nur als flackerndes Abbild von Schatten eines Feuers erfahren können. Man ersetze das Feuer durch den Bildschirm, und hat eine ziemlich genaue Darstellung unserer Lebensrealität.
Die Dämonisierung der Wirklichkeit
Die Evolution hat uns als Menschen mit einer besonders hohen Gefahren-Wahrnehmung ausgestattet. Unser Hirn ist dazu „geprimt“, Muster zu erkennen, die auf existentielle Bedrohungen hinweisen. Diese negativity bias führt dazu, dass wir negative Informationen um den Faktor 4 bis 10 (je nach Charakterzug) stärker bewerten als Mitteilungen, in denen sich Lösungen, Entwicklungen, Verbesserungen zeigen.
Angst soll uns motivieren etwas gegen drohende Gefahren zu unternehmen. Zu kämpfen, zu flüchten, Verteidigungssysteme zu bauen oder Vor-Sorgen zu treffen. In dem ungeheuren medialen Echo-System, in dem wir heute leben, führt das „Anfüttern“ mit Gefahren jedoch zum gegenteiligen Effekt. Zur zynischen Apathie.
In einer Aufmerksamkeits- und Erregungs-Ökonomie ist Negativität (Skandal, Streit, Gefahr, Übertreibung) ein probates Geschäftsmodell. Nichts hält uns so zuverlässig beim Klicken und Lesen wie Befürchtungs-Erzählungen und Untergangs-Narrative. Deshalb wimmeln nicht nur das digitale Netz sondern auch die „klassischen“ Medien von regelrechten Infodemien des Negativen.
Das meistbenutzte Wort in deutschen Informations-Medien ist „DROHT“. Immerzu droht alles, rund um die Uhr. Gleich danach kommen Worte wie „Versagen“, „Skandal“, „könnte“ (negativer Konjunktiv, im Sinne von „den Bach runtergehen“). Damit erfüllen die Medien, die Journalisten, scheinbar ihre Pflicht zur Aufklärung der Gesellschaft. Ein „kritischer Journalist“ fühlt sich immer moralisch berechtigt, das Schlimmste anzunehmen und zu verbreiten; er meint es ja nur gut mit uns. Wir sollen gewarnt sein vor dem Übel.
Also setzen wir noch einen drauf. Wer ist schuld an dem Versagen? Na klar, die Politiker!
In Wirklichkeit demoralisiert uns das alles nur. Was niemals oder selten vorkommt, ist Bewältigung.
Corona war eine Krise, die wir gar nicht so schlecht bewältigen konnten. Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft haben gar nicht schlecht zusammengearbeitet, um das Schlimmere zu verhindern. Aber die mediale Darstellung war durch ein ewiges Aufpeitschen von Streit, Dissens, dem Versagen, dem Nichtgenügen geprägt. Was bleibt, ist der fade Geschmack einer Niederlage.
Typisch für diesen Effekt der Vergeblichkeit ist das so genannte SPIEGEL-ABER. Wenn in Deutschlands kritischsten Magazin einmal eine positive Entwicklung aufgegriffen wird, findet sich schon in der Unterzeile die Umdrehung: „Es gibt zwar deutlich weniger Verbrechen, ABER das könnte nur darauf hinweisen, dass es demnächst NOCH schlimmer wird!“
So wächst das Dräuende, Dämonische der Zukunft unaufhörlich an. Das Kritische wird kontraproduktiv. Der Riesen-Troll des Untergangs wächst in den Himmel. Die Zukunft ist eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Nichts kann wirklich gelingen.
Wie kommen wir da raus?
Durch die Angst hindurchgehen
Eine sinnvolle Methode, sich der Zukunft sozusagen „von Hinten“ zu nähern, in einer konstruktiven Schleife, besteht darin, die Negativitätsverzerrung im Sinne einer mentalen Doppelstrategie zu nutzen. Dazu gehört im ersten Schritt eine bewusste Konfrontation mit der Negativität.
Stellen wir uns die fürchterlichsten aller möglichen Zukunfts-Szenarien vor. Zeichnen Sie die schrecklichsten Entwicklungen auf, die Ihnen für die nächsten zehn Jahre (zehn Jahre sind eine Art Zukunfts-Grundmaßstab) in den Kopf kommen. Zum Beispiel:
Eine neue Seuche mutiert aus Corona, die plötzlich höhere Tödlichkeit mit starker Ansteckung verbindet und zu weltweitem Chaos führt – und einem Zusammenbruch der Weltwirtschaft.
Der Ukraine-Krieg entwickelt sich zu einem Amoklauf von Putins Russland, das einen nuklearen Krieg mit der NATO vom Zaun bricht, worauf eine weltweite Superkrise entsteht, in der der gesamte Wohlstand zerstört wird.
Amerika wird unter einem neuen, noch rechteren Präsidenten als Trump faschistisch; es kommt zu einem inneramerikanischen Bürgerkrieg, der die ganze Weltwirtschaft zerstört und auch Europa ins Chaos stürzt.
In Kürze kommen Überwachungs-Techniken auf den Markt, die mittels mind-profiling Gedanken lesen können, damit bestimmte Werbebotschaften noch genauer angesprochen werden können; dieses Mittel wird längst auch von Geheimdiensten benutzt und dient natürlich der Überwachung der Gedanken, um den neuen Faschismus vorzubereiten.
In Grönland schmelzen plötzlich die Gletscher viel schneller als erwartet; es entsteht ein Kaskaden-Affekt, der zu wahnsinnigen Hitzewellen und Bränden überall auf der Welt führt.
Haben Sie keine Hemmungen! Lassen Sie Ihrem dunklen Propheten freien Raum! Malen Sie sich alles aus: Was passiert? Wo wird es passieren? Wie wird das aussehen? Wer versagt? Wie werden sich die Nachrichten in der Tagesschau anhören? Wie werde ich, meine Familie reagieren?
Folgen Sie der Angst bis an ihr Ende.
Mit der Angst ist es so, dass man sie auf Dauer nicht halten kann. „Fear is a natural reaction to moving closer to the truth“ schreibt Pema Chödrön, eine buddhistische Lebenshilfe-Therapeutin, die Bücher mit schönen Titeln wie „Die Weisheit der Ausweglosigkeit“ oder „Der Mut zur Angst“ schrieb. Wir erkennen: Solche Szenarien sind zwar möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Es sind Phantasien. Dass sie im Prinzip möglich sind, heißt noch nicht, das sie EINTRETEN werden.
Durch diese negative Zukunfts-Meditation können wir die wahre Zukunft von unserer Angst differenzieren. Indem wir unsere Phantasien im Geiste „realisieren“, führen wir uns in eine Art Katharsis: WENN es so schlimm käme, wären wir in der Tat ohnmächtig. Dann wäre nichts mehr zu tun.
Aber es könnte eben auch ganz ANDERS kommen.
Überraschend anders.
Vielleicht sogar besser.
Wenn etwas Schreckliches passiert,
dann sollte man nicht daran zweifeln, dass es wirklich schrecklich ist.
Man sollte aber auch fragen: Was
passiert gerade sonst noch?
Der zweite Teil der Übung geht in die entgegengesetzte Richtung. Wir schauen in Richtung einer Realität, die wir bislang ignoriert haben.
Der Realität des WANDELS.
Des Wandels zum BESSEREN.
Lesen Sie:
Die WHO hat neue Daten zum weltweiten Zugang zu Kochmöglichkeiten veröffentlicht. Im Jahr 1990 nutzten 53 Prozent der Weltbevölkerung Holz, Kohle oder Kerosin oder Dung, um ihr Essen zu kochen. Im Jahr 2020 ist diese Prozentzahl auf 36 Prozent gefallen. Das heißt, dass in einer Generation 2.48 Milliarden Menschen MEHR mit Elektrizität oder sauberen Öfen kochen.
Indien hat soeben seinen fünften Nationalen Familien-Gesundheits-Bericht veröffentlicht. Bei einer Einwohnerzahl von 1,38 Milliarden Menschen hat sich in 5 Jahren, von 2015 bis 2020 Folgendes verändert:
Das Verhältnis von Frauen mit zehn oder mehr Jahren Bildung erhöhte sich von 35,7 auf 41,5 Prozent.
Der Gebrauch von Verhütungsmitteln stieg von 54 auf 57 Prozent an.
Teenager-Schwangerschaften reduzierten sich von 29,5 auf 25 Prozent.
Die Kindersterblichkeit reduzierte sich von 30 auf 25 pro 1000 Lebendgeburten.
Der Zugang zu sanitären Anlagen verbesserte sich von 48,5 auf 70,2 Prozent.
Der Zugang zu Elektrizität erhöhte sich von 88 auf 96,8 Prozent.
Die Geburtenrate reduzierte sich von 2,2 auf 2,0 Kinder pro Frau und liegt jetzt in 23 von Indiens 28 Regionen UNTER der Reproduktionsrate. Das heißt, dass es keinen Geburtenüberschuss mehr gibt! Die indische Bevölkerungszahl wird in 10, 15 Jahren anfangen, massiv zu schrumpfen! Die Bevölkerungsexplosion findet nicht statt.
Gleichzeitig hat Indien sein Zwischenziel, 40 Prozent seiner Energie erneuerbar zu erzeugen, erreicht. 156 von 390 GW der derzeit benötigten Energie werden solar oder mit Wind erzeugt. Das Ziel für 2030 von 500 GW (Äquivalent zu 400 Atomkraftwerken) rückt in greifbare Nähe. Economic Times
Afrikas GREAT GREEN WALL ist der Welt ehrgeizigstes Bewaldungs-Projekt, das sich quer über den Kontinent ziehen und eine Barriere gegen den Vormarsch der Wüste bilden soll. Das Projekt läuft seit 15 Jahren und konnte noch nicht in allen Ländern vollständig realisiert werden. Aber in NIGER war der Erfolg groß. Im Jahr 2020 waren 400.000 Hektar Wüste in einen Teil-Wald transformiert, und die verbesserte Erde führte zu einer kräftigen Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge.
Hunderte Dörfer erzielen ökonomische Vorteile aus der landschaftlichen Umformung, dem „Afrikanischen Terraforming“. NYT
Ebola ist vorbei, oder hat zumindest seine Schrecken verloren. Das sagt Jean-Jacques Muyembe-Tamfum (https://en.wikipedia.org/wiki/Jean-Jacques_Muyembe-Tamfum), der das Virus vor 40 Jahren entdeckte; ein kongolesischer Mediziner, der die Entwicklung der Infektion seitdem intensiv verfolgt. „Heute kann ich sagen: Ebola ist besiegt, es ist vermeidbar, behandelbar und heilbar.“ France24
Amerikas Ungleichheits-Problem hat sich zum ersten Mal in einer Generation verbessert. Die arme Hälfte der Amerikaner hält nun einen größeren Anteil am Gesamtvermögen als jemals zuvor in den letzten zwanzig Jahren. archive.today
Amerikas nachlassender Fleisch-Hunger zeigt erste Wirkungen. Der tägliche Fleisch-Konsum (inkl. Eier, Milch) der Amerikaner fiel zwischen 2003 und 2018 um fast 40 Prozent; Auswirkungen der veränderten Ernährungsgewohnheiten in den Städten und bei den Jüngeren. Das Resultat ist der Rückgang von CO2-Emissionen im Ernährungssektor um sagenhafte 35 Prozent. Anthropocene
Das erste Mal in 60 Jahren wird die chinesische Bevölkerungszahl zurückgehen. In den letzten 40 Jahren stieg die Anzahl der Chinesen von 660 Millionen auf 1.4 Milliarden an, aber 2021 war nur noch ein Zuwachs von 480.000 zu verzeichnen. Durch weitere sinkende Geburtenraten trotz Aufhebung der Ein-Kind-Politik dürfte China bereits dieses Jahr an seinen POPULATION PEAK gekommen sein. Von nun an gibt es immer weniger Chinesen. BBC
Das Meer vor dem GAZA-Streifen ist zum ersten Mal wieder „kristallblau“, nachdem Kläranlagen ihren Betrieb aufnahmen und die direkte Einleitung von Abwässern ins Meer beendeten. Trotz ständiger kriegerischer Notstände können die Gaza-Bewohner jetzt ein Bad im Meer genießen. euronews.green
Pakistan ist eine der wenig berichteten Entwicklungs-Erfolgsgeschichten der letzten Dekaden. Zwischen 1990 und 2019 stieg die Lebenserwartung um 7,2 Jahre, die Schulzeit um 2,9 Jahre, das Einkommen um 64 Prozent und der Anteil der Menschen unter der Armutsgrenze sank von 50 auf unter 20 Prozent. UNDP
Vor drei Jahren startete Pakistan das „Zehn-Billiarden-Baum-Projekt“, was viel kritisiert wurde. Ende 2021 ist das Land auf der Zielgeraden für 15 Milliarden Bäume. Dunya
Dazu kommt das größte Mangroven-Restaurations-Projekt in der Welt. gulfnews.com
Auch die benachbarte Mongolei machte mit und spendierte 1 Prozent seines GDP für eine Milliarde Bäume, um die Wüstenbildung einzudämmen. Montsame
E-Autos tragen in Großbritannien jetzt schon einen signifikanten Anteil zur CO2-Vermeidung bei. The Guardian
Noch schneller geht es in Norwegen, wo Verbrenner nun nur noch 10 Prozent alle Käufe ausmachen. Im Jahr 2025 wird womöglich das letzte Diesel- und Benzinauto verkauft, drei Jahre früher als der ohnehin schon ambitionierte Plan der Norweger. Drive
Dem Beispiel von Barcelona, Paris und Amsterdam folgend wird Birmingham, die zweitgrößte englische Stadt, eine große „low-traffic-neighborhood“ errichten. Verbunden mit einem Plan, Verkehr aus der City herauszuhalten und ein durchgängiges Verkehrssystem mit Zero-Emissions-Bussen, Fahrrad-Autobahnen und viel Platz für Fußgänger zu schaffen. The Guardian
Der Kampf gegen Plastik nimmt an Fahrt auf.
Indien hat das größte Einweg- Plastikverbot der Welt ausgesprochen. The Times of India
Amerika wird den Gebrauch von Plastik in Nationalparks verbieten. npr.org
Australien hat durch seine Bemühungen der Reduktion einen Rückgang von 29 Prozent Küsten-Plastik-Müll in den letzten sechs Jahren erreicht.
Brasiliens ikonischer Golden Lion Tamarin, der nur in den atlantischen Wäldern Südamerikas vorkommt, wurde vor dem Aussterben gerettet; die Anzahl der Exemplare stieg von 200 im Jahr 1977 auf 2.000 heute.
Lokale Artenschützer haben 50 Jahre lang hart an seiner Erhaltung gearbeitet und wenden sich jetzt den anderen bedrohten Tamarin-Arten zu: Schwarzkopflöwenäffchen, Goldkopflöwenäffchen und Rotsteißlöwenäffchen.
Wladimir Putin hat mehr für die Energie-Transition getan als irgendjemand in der Geschichte. 19 europäische Regierungen haben ihre Dekarbonisierungs-Pläne beschleunigt und dabei die Ziellinie von 55 auf 63 Prozent CO2-Reduzierung in der Energieerzeugung gesetzt. Ember
Die 27 europäischen Länder haben im Jahr 2021 neue Solar-Kapazitäten von 26 GW (analog zu ca. 22 Kernkraftwerken) installiert, eine Zunahme von 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Alle EU-Staaten sind jetzt auf Kurs zur Erreichung der Solarziele 2030. Polen, Irland und Schweden werden ihre Ziele wahrscheinlich im nächsten Jahr erreichen. YaleEnvironment360
Dass eine industrialisierte Nation, nämlich Dänemark, zum ersten Mal 100 Prozent seiner Energie allein durch Windenergie erzeugen konnte, war kaum eine Meldung wert. Troels Christensen / twitter
Vietnam, ein Land mit 100 Millionen Einwohnern, mehr als Deutschland, entwickelt sich zu einem Land mit einer der schnellsten Energie-Transitionen der Welt. In den letzten vier Jahren erhöhte das Land seinen Solar-Anteil von 0 auf 11 Prozent – beim jetzigen Boom könnte sich das auf 50 Prozent im Jahr 2030 steigern. Ein „Problem“ auf dem Weg ist allerdings das derzeit nicht sehr leistungsfähige Stromnetz, das beim Wachstum der Erneuerbaren vorerst nicht mitkommt. Petrotimes
Volvo beginnt damit, Produktionsstraßen für fossil-freie Autoproduktion aufzubauen. Der Autohersteller lieferte das erste karbon-freie Konstruktionsfahrzeug aus. Und hat vor, in den nächsten Jahren das erste Elektroauto auf den Markt zu bringen, das auch in seiner materiellen Konstruktion völlig „carbon positive“ ist. Aggnet
China ist in seinen Umwelt-Zielen konsequenter als von vielen westlichen Beobachtern gedacht.
Zwischen 2013 und 2020 sank die allgemeine Umweltbelastung in den chinesischen Städten um 40 Prozent – soviel wie die USA nur in drei Jahrzehnten schaffte. archive.today
Jetzt hat China dreimal hintereinander in einem Quartal seine CO2-Emissionen reduziert. Vorherige Rückgänge waren von heftigen Zunahmen gefolgt; Corona kann ein Teil-Rolle gespielt haben, aber diesmal könnte es anders sein, weil China allmählich weniger Kohlekraftwerke als Solarkapazitäten baut und alte Kohlekraftwerke immer mehr ausrangiert werden. carbonbrief.org
Das Land ist im Begriff in diesem Jahr (2022) 108 GW Solar zu installieren, kombiniert mit 50 GW Wind, was einen großen Sprung in Richtung Erneuerbare bedeutet. Das Ziel, dass die chinesische Führung ausgegeben hat, 1200 GW bis zum Ende des Jahrzehnts, dürfte früher erreicht werden. energytracker.asia
Österreich hat ein Erneuerbare-Wärme-Gesetz verabschiedet, das vorbildlich für den CO2-Ausstoß von Gebäuden sein wird. Alle neuen oder Ersatz-Heizungen müssen ab nächstem Jahr auf erneuerbarer Energiebasis laufen, ab 2035 werden Öl- und Kohleheizungssysteme ersetzt werden und ab 2040 alle Gasheizungen. Haushalte mit geringem Einkommen bekommen 100 Prozent der Kosten ersetzt. Kleine Zeitung
Jair Bolsonaro hat eines der hoffnungsvollsten „Aufsteiger-Länder“ des Planeten in eine tiefe Selbstzweifels- und Frustrationskrise gestürzt. Aber erstaunlicherweise hat sich gleichzeitig die brasilianische Gesellschaft in Richtung liberaler Werte bewegt. 79 Prozent der Brasilianer glauben heute, dass Homosexualität akzeptiert werden soll (67 Prozent vor 10 Jahren). 76 Prozent glauben, dass Einwanderer gut für das Land sind, und die Anhänger der Todesstrafe haben sich von 47 auf 36 Prozent reduziert. (Umfrage der Tageszeitung Folha de São Paulo). Ähnliche Toleranz-Entwicklungen gibt es in einigen asiatischen Staaten. Vietnam hat das Verbot von Same-Sex-Marriages aufgehoben. In den Philippinen weichen die strengen Diskriminierungs-Gesetze langsam auf. Und in Thailand wurde am 5. Juni ein Gesetz zur Homosexuellen-Ehe ins Parlament eingebracht; dort wurde auch der Gebrauch von Marihuana weitgehend liberalisiert.
Pride and Groom, Economist 18. Juni 2022
Verlieren Sie Ihr Zukunfts-Misstrauen
Beobachten Sie, was in Ihnen passiert, wenn Sie diese Meldungen lesen. Wahrscheinlich werden Sie versuchen, zu relativieren: Ist das relevant? Reicht das? Was geht mich das an? Ist das nicht nebensächlich? Sie werden immer wieder auf den Effekt der kognitiven Dissonanz stoßen – wenn eine Meldung einer negativen These, die Sie „ganz sicher“ kennen, widerspricht, erklären Sie sie für irrelevant. Oder für gefälscht: Ist das womöglich „fake news“, gekauft von „der Industrie“. Beschönigung? Verharmlosung?
Was ist klein? Was ist groß? Ist die Tatsache, dass Milliarden Menschen nicht mehr von Holzkohlefeuern ihre Lungen ruinieren, wichtig? Was geht mich Birminghams Verkehr an, oder Pakistans, oder Baumpflanzungen in der Sahara?
Wie passt das alles zusammen?
„Only to the extent that we expose ourselves over and over to annihilation can that which is indestructible in us be found.”
Pema Chödrön
Öffnen wir den Horizont: Das Gelingende, Gelungene und Besser-Werdende ist selten spektakulär. Deshalb nehmen wir es nicht wahr. Es heißt ja, dass etwas funktioniert, sich zusammenfügt, „passt“, wie der Österreicher sagt. Oft findet Fortschritt in kleinen Schritten statt, die kaum wahrnehmbar sind. In Selbst-Stabilisierungen und Re-Stabilisierungen nach Krisen. „Die Welt“ besteht nicht nur aus Gefahren und negativen Trends. Sondern aus Myriaden von Prozessen, Systemen, in denen die Gesetze der Selbstorganisation, der lernenden Verbesserung wirken.
Krisen sind Störungen, die unvermeidlich, aber auch Teil dieses Prozesses sind. Sie sind immer schrecklich, aber ihre Auswirkungen sind es oft nicht. Und auch in schrecklichen Krisen gibt es das Wunderbare, Hoffnungs-volle.
Üben wir Zukunfts-Realismus:
Jede Kraft erzeugt auch eine Anti-Kraft.
Das Schlimme erzeugt eine Gegen-Bewegung.
Im Kleinen verbirgt sich oft das Große, Wunderbare.
Zukunft ist das, was wir in unseren Erwartungen aus ihr machen.
Zukunft ist eine Entscheidung.
Für die wir verantwortlich sind.
Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste. Sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.
Walter Benjamin
Geht die Welt gerade wirklich unter, oder will sie uns nur etwas mitteilen?
Bernhard Pörksen
In welcher Art von Krise befinden wir uns?
Corona ist vorbei. Oder tobt gerade in China und verändert dabei die Weltwirtschaft. Millionen von Containern hängen auf den Weltmeeren fest. Produktionsketten, die uns jahrzehntelang zuverlässig Regale, Mägen und Müllkippen füllten, zerbröseln. Und nun ist auch noch Krieg, ein brutaler Eroberungskrieg – wie soll man das jemals lösen, ob mit oder ohne schwere Waffen?
Vor zwei Monaten sah es noch so aus, als ob Europa durch die Wahl in Frankreich in den Zerfall getrieben werden kann. Morgen kann KRISE schon wieder etwas anderes sein: Preisexplosionen, Inflation, Nahrungsengpässe, Verarmung, Bürgerkrieg in Amerika, Tornados in Mecklenburg-Vorpommern…
Ach ja, und dann ist da noch die Klimakrise.
Könnte es sein, dass wir nicht einfach nur in „einer Zeit vermehrter Krisen“ leben?
Sondern in EINER Krise mit verschiedenen Ausformungen?
In einer Krise des Übergangs?
Zeitschleifen
Im Gegensatz zu „poly“ oder „multi“ meint die Vorsilbe OMNI nicht einfach „mehrfach“. Sondern Zusammenhang von Vielem. Was verbindet also Corona mit dem Putin‘schen Eroberungskrieg? Scheinbar nichts. Eine Pandemie ist ein Phänomen aus der Biologie. Ein Krieg ist eine von Menschen hergestellte Grausamkeit.
Beide Ereignisse weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf. Es handelt sich um EINBRÜCHE der Vergangenheit in unsere Gegenwart, die unseren Blick auf die Zukunft verändern. „Es ist schwer, sich vorzustellen, dass es in der Geschichte so etwas wie rücklaufende Wellen gibt, eine gewaltsame Rückkehr von Dingen, von denen man geglaubt hat, sie wären endgültig überwunden“, schrieb der französische Philosoph Michel Maffesoli in seinem Buch „Die Zeit kehrt wieder“ (Matthes und Seits, Berlin, S.10).
Mit der Erfindung des Penicillins, der Hygiene und der modernen Medizin glaubten wir den Kampf gegen die Seuchen endgültig gewonnen zu haben. Auch der Krieg in seinen entsetzlichen Formen schien nur noch eine Erinnerung aus barbarischer Vergangenheit (die Kriege, die trotzdem stattfanden, waren weit weg; sie berührten uns nicht). National organisierte kriegerische Gewalt passte nicht mehr zu einer Welt, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann. Oder unglücklich.
Jetzt aber scheint sich alles umzukehren, was wir über die Zukunft zu wissen glaubten. “Past becomes future becomes present. Memory becomes prophecy becomes reality.” schrieb die Kolumnistin Mary Retta in WIRED. (Die Vergangenheit wird zur Zukunft wird zur Gegenwart. Die Erinnerung wird eine Prophezeiung, die zur Wirklichkeit wird).
Das Alte kehrt wieder.
Das Vergangene hebt sein Haupt.
Wir leben in einer Zombie-Welt voller untoter Konflikte.
Alles dreht sich im Kreis.
Hinten scheint plötzlich Vorne.
Und unter uns gähnt ein Abgrund.
Metaversen oder Das Babylon-Syndrom
Eine weitere Gemeinsamkeit der gegenwärtigen Krisen hat mit unseren Wirklichkeits-Konstruktionen zu tun. Der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt nannte diese „Kognitive Krise“ in einem Essay in der Zeitschrift „Atlantic“ die „Große Wirklichkeitsverwirrung“.
Man könnte es auch das „Babylon-Syndrom“ nennen. „Die Geschichte von Babel“, schreibt Haidt, „ist die beste Metapher für das was in Amerika in den 2010er Jahren geschah. Etwas ging schrecklich schief, sehr plötzlich. Wir sind desorientiert, unfähig, dieselbe Sprache zu sprechen oder dieselbe Wahrheit zu erkennen. Wir sind abgeschnitten voneinander und von der Vergangenheit. Babel ist eine Geschichte über die Fragmentierung von ALLEM. Es ist die Erschütterung von allem, was stabil und solide erschien, die Entzweiung von Menschen, die eine Gemeinschaft waren. Es ist eine Metapher für das, was zwischen Demokraten und Republikanern geschieht, aber auch INNERHALB der Rechten wie der Linken, und auch in den Universitäten, Unternehmen, Vereinen, Museen, sogar Familien… Nach Babel bedeutet nichts mehr irgendetwas – zumindest nichts mehr was dauerhaft ist, und über das die Menschen sich generell einig sind.“
Das Phänomen der Wirklichkeits-Spaltung verbindet Putin, Pandemie und Populismus. Die eigentliche Ungeheuerlichkeit des Ukraine-Krieges besteht ja weniger in der Gewalt (die hat sich nie wirklich aus der Welt verabschiedet). Sondern in einer Auflösung einer gemeinsamen Wirklichkeit, über die man kommunizieren, oder wenigstens verhandeln kann. Es macht schlichtweg fassungslos, dass ein ganzes Land mit großer kultureller Tradition (oder jedenfalls große Teile seiner Bevölkerung) sich in eine diktatorische Paranoia hineinlügen ließ. Dass im 21. Jahrhundert fast ein ganzes Land in die Überzeugung verfallen kann, „Russland“ befände sich in einem Abwehrkampf gegen blutrünstige Faschisten, die mit allen Mitteln, notfalls auch atomaren, „eliminiert“ werden müssen?
Das wirft monströse Fragen auf:
Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit?
Oder ist alles nur Illusion?
Sind wir nicht alle brainwashed?
Ist die Wahrheit die Erfindung eines Lügners?
Das Gefühl, nicht mehr in einem konsistenten Universum zu leben, aus der Wirklichkeit herauszufallen, ähnelt dem Verrückt-Werden.
Alles scheint auf eine zähe, verfilzte Weise miteinander in Konflikt geraten zu sein. Wir ahnen, dass das mit unserer völlig neuen hypermedialen Umwelt zu tun hat, der unser humanoides Hirn womöglich nicht gewachsen ist. Es scheint so etwas zu geben wie ein zivilisatorisches Erschöpfungs-Syndrom.
Der Terrorismus der Aufmerksamkeiten
In „The Organized Mind: Thinking Straight in the Age of Information Overload“, beschreibt der Kognitionspsychologe Daniel Levitin das Phänomen des „cognitive overload“, der kognitiven Überforderung des vernetzten Menschen.
Jeden Tag werden wir mit Millionen Entscheidungs-Anforderungen konfrontiert. Die meisten davon erscheinen irrelevant, müssen aber dennoch „abgearbeitet“ werden. Sollen wir die Zahnpasta für besseren Schmelz oder die für blutendes Zahnfleisch kaufen? Sollen wir ein neues iPhone erwerben, den Strom-Provider ändern?
Müssen wir jetzt Klopapier bunkern? Oder Sonnenblumenöl?
Was ist die „richtige“ Kindererziehung?
Sind Männer und Freuen beliebige Kategorien?
Wer hat recht in der unentwegten Meineritis?
In der modernen Medienwelt wird unsere Welt-Wahrnehmung von einer Äußerungsform geprägt, für die Sascha Lobo das schöne Wort „Shitposting“ geprägt hat. Dabei ist nicht etwas Fäkales gemeint, sondern die Art und Weise, wie in einer hypervernetzten Welt Aufmerksamkeits-Spitzen generiert werden. „Holy shit! – hast du DAS das gesehen?“
„Geiler Scheiß“, reine Erregungs-Impuls, ersetzen die Zusammenhänge, in denen wir die Welt als Konsistenz erfahren können.
Sascha Lobo bezeichnet die dazugehörige mediale Diskurs-Form als IRRITAINMENT.
Alles Schrille ist interessant.
Alles Absonderliche wird in einer Echokammer verstärkt.
Jede Talkshow wird zur Freakshow.
Das Extreme wird angeklickt.
Blödsinn häuft sich auf Blödsinn.
Befürchtung stapelt sich auf Befürchtung.
Streit wird zum Wahrnehmungsschlüssel.
Die Hysterie wuchert.
Und übernimmt die Realität.
Wir haben trotz der erstaunlichen Eigenschaften unseres Hirns eine limitierte neuronale Kapazität. Zwar können wir sehr viele Informationen aufnehmen und speichern – sinnliche Inputs, Bilder, „Eindrücke“, Gedächtnisinhalte von vielen Terabyte. Aber die AUFNAHME-Kapazität, mit der wir diese Informationen zum DENKEN verdichten, ist erstaunlich gering. Um eine Person zu verstehen, benötigen wir eine Verarbeitungsgeschwindigkeit zwischen 60 und 120 Bits pro Sekunde. Wir können kaum zwei Leute verstehen, die gleichzeitig reden. Wir können uns nur schwer auf mehr als einen Informationsstrom konzentrieren (mentales „Multitasking“ ist eine Illusion). In der informellen Überfülle der Internet-Welt entsteht so eine Art Überdruck in unserem Hirn, der sich leicht zu kognitiven Verwirrungen aufschaukelt. Und aufgrund der sozialen Struktur des Menschen auch noch ansteckend wirkt.
Johann Hari nennt in seinem Buch „Stolen Focus“ sechs Gründe, warum wir kaum noch klar denken und sinnvolle Entscheidungen können:
Die Geschwindigkeits-Zunahme von Aufmerksamkeitswechseln.
Die Verkrüppelung unserer Flow-Zustände, in dem wir uns auf etwas Bestimmtes konzentrieren – und dabei wirkend mit der Welt in Verbindung treten (Wirklichkeit = die Realität, in der wir wirken können).
Den Anstieg physischer und mentaler Erschöpfung.
Den Kollaps des Lesens linearer Texte.
Die Disruption von „Mind-Wandering“, jenes freien Assoziierens, in dem unser Hirn sich neu vernetzt.
Die rapide Ausbreitung von Technologie, die uns tracken und manipulieren kann.
Die Omnikrise ist über weite Strecken eine BEDEUTUNGS-Krise. Sie handelt vom Zerfall mentaler Bezüge, in denen sich menschliche Kultur vermitteln kann. Daraus entsteht auch die Krise der Demokratie, die ja nichts anderes ist als eine Vermittlungstechnik menschlicher Interessen. (Vermittlung braucht Langsamkeit, Be-Denken, Institution und Intuition). Die Strategien der bösartig- populistischen Mobilisierung zielen auf die innere Erschöpfung der Menschen in einer „babylonischen“ Welt. Donald Trump betreibt politisches Irritainment par excellence. Autokraten nutzen diese zivilisatorische Erschöpfung geschickt für ihre despotischen Zwecke.
Hannah Arendt formulierte schon vor einem halben Jahrhundert:
„Es entsteht erst ein Meinungschaos, das sich fern aller Vernunft unter dem Druck eines außerordentlichen Notstands in eine Reihe miteinander in bitterster Feindschaft stehender Massenhysterie kristallisiert, die alle nur auf den „starken Mann“ warten, der sie endlich erlösen wird., indem er aus ihren Elementen über Nacht jene nicht minder hysterische einstimmige Meinung fabriziert, die der Tod aller Meinungen ist.“
Hannah Arendt, Über die Revolution
Psychohistorik oder das Spiral-Dynamik-Modell
Es lohnt sich, in dieser Situation auf ein holistisches Zukunfts-Modell zurückzugreifen, das von dem amerikanischen Entwicklungspsychologen Clare Graves schon in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurde. „Spiral Dynamics” (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Rückengymnastik) ist ein „soziopsychisches” Stufen-Modell, in dem sich Individuen/Gruppen/Organisationen/Gesellschaften von Stufe zu Stufe in höhere Komplexität evolutionieren.
Dabei wachsen die BEZÜGE, in denen Menschen denken und agieren, in einen immer höheren Radius hinein – vom Clan / der tribalen Kleingruppe, über den Stamm bis zum Nationalstaat, schließlich hin zum „Weltbewohner“ (Earthling) oder Kosmopoliten.
Die Grundfigur dieses Welt-Modells ist die nach oben offene Spirale. Die einzelnen Stufen der Human-Entwicklung pendeln zwischen dem ICH und dem WIR, den beiden Grundpolen der menschlichen Existenz. Dabei werden von Stufe zu Stufe die inneren Konstruktionen, die mindsets, den äußeren Verhältnissen angepasst – in immer neue Integrationen von Welt und MIND.
Übergänge von Epochen und Zivilisationsformen finden, wenn diese Integrationen im Sinne erhöhter Komplexität gelingen.
„Omnikrisen“ finden statt, wenn zwischen den Ebenen Brüche/Regressionen entstehen.
Die jeweiligen Phasen lassen sich mit Farbcodes zusammenfassen:
Beige: Der Urzustand des Überlebens: Kindlichkeit, Bedürftigkeit.
Purpur: Magie, die Verbündung mit magischen Kräften, Naturglaube, Religion.
Rot: Macht, Aggression, Dominanz, Kampf.
Blau: Ordnung, Organisation, Hierarchie.
Orange: Leistung, Meritokratie, Vermehrung, Logik.
Grün: Gemeinschaft, Naturverbundenheit, Solidarität
Gelb: Konnektivität, Komplexität, Ambiguität, Systemdenken.
Türkis: Spirituelle Einheit, Verbindung von Allem, Planetares Bewusstsein.
Diese SUPER-MEME sind aber keine Anleitungen für Supermenschen, Sie bilden lediglich Repräsentationen ab, in denen Menschen ihr Denken, Fühlen und Handeln neu konfigurieren. Das Modell funktioniert nonlinear: Ältere MEME kehren immer wieder zurück – sie bleiben TEIL unseres inneren Kosmos, auch in jedem Individuum. Gesellschaftlicher Wandel, oder „Fortschritt”, gelingt immer dann, wenn sich ein „Future Mind“ bildet – eine geistige Strömung, die den dominierenden mindset in Richtung einer gemeinsamen Zukunftsvision verändert.
Wie enden Krisen, Omnikrisen, Lebenskrisen?
Sie „enden“ gar nicht. Sie lösen sich aber irgendwann auf, wenn ein neues magisches Narrativ entsteht. Eine Erzählung, in der sich die Paradoxien der Gegenwart „aus der Zukunft heraus“ zu neuen Möglichkeiten fügen.
Früher hatten diese Aufgabe die Religionen. Eine Zeitlang waren es politische Ideologien, die aber in schrecklichen Verheerungen enden konnten. Die industrielle Konsum-Gesellschaft erzeugte in den letzten 50 Jahren ein breites Narrativ des „Wohlstands durch Fortschritt“, das heute deutlich an seine Grenzen gekommen ist.
Das Tragische an der Entwicklung Russlands ist, dass es dieser Kultur, nie gelang, eine stimmige Zukunfts-Erzählung zu entwickeln. Die russischen Narrative basieren auf den Unterdrückungen, Illusionen, Demütigungen, den Traumata und Kränkungen der Vergangenheit.
Siehe das Buch „Die Macht der Kränkung“, von Reinhard Haller. Hier wird geschildert, wie Kränkungen in Gesellschaften, Kulturen, Individuen als pathogene Keime der Gewalt wirken. Kein Verbrechen (mit wenigen Ausnahmen), das nicht einen Kränkungs-Hintergrund hätte.
So brechen Gewaltpotentiale auf, die ihre eigenen Halluzinationen schaffen.
Das Tragische an unseren Konsumkulturen hingegen ist, dass sie immer noch glauben, durch ein ewiges MEHR, eine unablässige lineare Steigerung, vorankommen zu können. Die damit verbundene Frustration treibt uns in eine babylonische Schwäche. Und viele Menschen in Wut und Verzweiflung.
Welches Narrativ könnte uns aus den Krisen der Gegenwart einen Weg in die Zukunft weisen?
Eine solche Zukunfts-Erzählung, die die Paradoxien auf höherer Ebene erlöst, steht wie ein Elefant mitten im Raum der Möglichkeiten. Es ist das, was wir als „postfossilen Übergang“ oder „Dekarbonisierung“ bezeichnen. Oder etwas verschüchtert als „ökologische Wende“.
Das Problem an diesem Narrativ ist jedoch, dass es immer noch als eine Vermeidungs-Erzählung begriffen wird. Im ökologischen MEM geht es sehr viel um Angst; es findet sich wenig Lustvolles, Attraktives, im eigentlichen Sinne Zukunftsweisendes. Die Dekarbonisierung wird als eine Veränderung begriffen, die wir „leider“ machen müssen, um „das Schlimmste“ zu verhindern. Die alleinige Drohung mit der Katastrophe kann jedoch niemals echte Wandlungkräfte freisetzen. Sie führt nur zu sinnlosem Streit, Schuldzuweisungen und apokalyptischem Zynismus.
Eine echte Zukunfts-Erzählung benötigt, was Aristoteles als Pathos, Eros und Logos bezeichnete (die Grundpfeiler der Rhetorik). Ein Faszinosum, eine Energie, die nicht nur Verstand und Angst-Vernunft anspricht, sondern auch die visionäre Sehnsucht in uns allen.
Die Vision einer BLAUEN Transformation – Blau steht für Wasserstoff, Technologie, die Atmosphäre der Erde, die Hoffnung selbst – könnte der ökologischen Wende eine entscheidende Kraft verleihen. Eine „blaue” Vision würde nicht nur unser Energie- und Produktionssystem umfassen. Ihr Ziel wäre nicht primär die „Nachhaltigkeit” – ein steifes Wort für Stagnation. Sondern eine neue gesellschaftliche Dynamik, die auch unsere Wünsche, Träume, Freiheiten, Schönheiten einbezieht. Es geht um die die Hinwendung zu einem neuen Wohlstandsbegriff entlang der Frage, wie wir zusammen besser leben, lieben und arbeiten können.
Wolf Lotter, der Zusammenhangsdenker, formulierte: „Klimapolitik ist, richtig verstanden, eben genau das, was ohnehin in der Transformation von der Industrie- in die Wissensgesellschaft gemacht werden muss: neue Arbeit, neue Organisationen, Ablösung der Routinen, eine andere Führung und Selbstführung. Mehr selbst gut machen statt bloß gut finden. Aufklärung statt Apokalypse. Ändern statt Angst haben.“
“Nature is a self-regulating ecosystem of awareness.” formulierte Charles Darwin.
Von der Zukunft aus gesehen wird die heutige Omnikrise als Zeichen eines zivilisatorischen Übergangs erscheinen, der das alte Modell des fossilen Fortschritts beendete. Putins Krieg könnte sich als der letzten „fossile“ Krieg erweisen. Das NEUE NORMAL entsteht aus dem Durchbruch der ökologischen Frage zur Welt-Bewegung. Was könnte für den neuen Frieden, die „Völkerverständigung“, die nun notwendig ist, besser geeignet sein als die Integration von Ökonomie und Ökologie, von Biosphäre, Technosphäre und Humanosphäre?
Multiverse statt Metaverse
Im neuen Fantasy-Film „Dr. Strange and the Multiverse of Madness“ kämpft unser wackerer Benedict Cumberbatch gegen Monstren aus diversen Parallelwelten, die unserem wirren Gegenwarts-Universum ähneln. Die Transitionen zwischen den Universen funktionieren nur durch persönliche Katharsis. In einem weiteren aktuellen Multiversum-Film, „Everthing Everywhere All at Once“, (Alles überall zugleich) gerät eine ganz normale Waschsalonbesitzerin (Mittelschicht, kleines Unternehmertum) in einen Zeitstrudel, in dem sie mit den unzähligen Möglichkeiten ihres Lebens konfrontiert wird. Alles kollabiert gleichzeitig – die Ehe, die Tochter, das Geschäftsmodell. Omnikrise total.
Der Film hat einen positiven Schluss. Die Protagonistin entscheidet sich für die konstruktive Hingabe zum Chaos der Welt. Für die Liebe zu sich selbst und zu anderen. Aus den Myriaden von Möglichkeiten formt sich auf diese Weise wieder eine konsistente Wirklichkeit.
Die schwarze afrikanische Science-Fiction-Autorin Octavia Butler wurde einmal gefragt, wie man das Elend, das Leiden auf der Welt überwinden kann.
„Es gibt keine Antwort“, sagte Butler.
„Also sind wir verloren! Doomed!““
„Nein. Es gibt keine Antwort, die ALLE unsere Zukunfts-Probleme lösen wird. Es gibt keine magische Kugel. Es gibt vielmehr tausende von Antworten. Du kannst eine von ihnen sein, wenn Du dich dafür entscheidest!“
Entscheiden wir uns. Hören wir auf, zu jammern und uns zu fürchten. Verbünden wir uns mit der Wahrheit der Zukunft.
Es lohnt sich.
Nachwort: Eine kleine Kriseologie
„Veränderung entsteht nicht durch Wandel, sondern Wandel entsteht durch Veränderung“, formulierte der Soziologe Armin Nassehi. In diesem seltsamen Satz steckt eine nüchterne Erkenntnis: Alle „Change“-Parolen, die man in Unternehmen oder politischen Parteien oder öffentlichen Diskursen seit vielen Jahren hört, sind in Wahrheit Schall und Rauch. Individuen, Systeme, Unternehmen, Gesellschaften, ändern sich kaum, wenn alles komfortabel ist. Wandel geschieht eher, wenn wir auf äußere Veränderungen reagieren – sprich: auf Krisen eine Antwort finden.
Der Philosoph Leibnitz sprach von der „Prä-Stabilisierung“ der Welt, die sich durch die menschliche Vernunft und den Willen immer mehr den Verhältnissen annähert, die Gott „vorgesehen“ hat (die Vorsehung eben). Aber so ist es eben nicht. Sondern umgekehrt. Durch Re-Stabilisierung, durch Reaktion, nicht durch Planung, Strategie und gute Vorsätze entstehen die neuen Verhältnisse.
Das zu erkennen, ist frustrierend, weil es unser grandioses Selbstbild stört, immer „alles im Griff“ zu haben. Doch die menschliche Grundkompetenz ist nicht stetiger Wandel, sondern ADAPTION (Was nicht heißt, dass nicht auch in der Adaption Kreatives geschehen kann und muss).
Eine Krise wird zum Wandel, wenn wir die Angst vor dem Selbstwandel überwinden.
Wenn wir endlich aufhören, zu jammern und uns ständig darüber zu beschweren, was die Welt und zumutet.
Eine Krise wird zum Wandel, wenn wir unsere Resilienz zu würdigen wissen. Der heroische Widerstand der Ukrainer zeigt, wie Menschen auch in schrecklichen Situationen zu erstaunlichen Wandlungen fähig sind. Schon die Corona-Krise hat uns Ähnliches gelehrt (wenn wir ihr richtig zuhören).
Der Krieg könnte sogar zu mehr Frieden führen. So paradox das klingt. Es waren oft grausame, unsinnige Kriege, die Imperien beendeten, aus denen neue Ordnungen entstanden, die eine Phase des Friedens brachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die heutigen globalen Organisationen wie die UNO, deren Rolle und Funktion durch den Ukraine-Konflikt am Ende gestärkt werden könnte. Dieser Konflikt kann nicht unterhalb der Ebene der Weltgemeinschaft gelöst werden, siehe auch das Buch von Christopher Blattmann: Why we fight – The Roots of War and the Paths to Peace.
Eine Krise wird zum Wandel, wenn sie uns hilft, uns von Illusionen zu verabschieden. Eine Illusion, die sich derzeit still verabschiedet, ist der Glaube, dass man einfach ALLES mit „Digitalisierung“ lösen kann. Aber weder Krieg noch Corona funktionieren so. Der Hyperdigitalismus hat uns eher in einen Darwinistischen Illusions-Kapitalismus geführt, in der neue Monopolisten und jede Menge toxischer Geschäftsmodelle entstanden sind. In der nächsten Schleife wird sich das Digitale mit dem Analogen zu einem neuen HUMAN-DIGITAL verbinden müssen.
Was kann die Zukunftsforschung zu jenem furchtbaren Ereignis beitragen, das uns seit vielen Wochen Alpträume beschert? Wie wird das ausgehen, in der Ukraine? Wird Putin jemals aufhören mit seinen killing fields, seinen ungeheuren Lügen und Eskalationen? Werden die Ukrainer ihr Heldentum noch steigern und am Ende siegen?
Sollen, MÜSSEN wir nicht noch viel größere, mächtigere Waffen liefern?
Werden wir alle im Atomfeuer verbrennen, in einer elenden Trümmerwüste aufwachen, nur weil ein Irrer nicht zu stoppen ist?
Gibt es da nicht „sichere Prognosen”?
Zunächst müssen wir das Wesen des existentiellen Paradoxes verstehen. Existentielle Paradoxie entsteht, wenn sich Widersprüche entfalten, die sich auf der Ebene, auf der sie entstanden sind, nicht mehr lösen lassen. Das haben wir schon in der Corona-Pandemie erlebt, als das Paradox zwischen individueller Freiheit und Krankheits-Schutz unauflösbar war.
Es entsteht ein Dilemma, in dem wir NUR das Falsche tun können. Liefern „wir” Waffen, verlängern wir das Leiden und die Gefahr der Eskalation. Tun wir es nicht, machen wir uns der Ignoranz und Unmenschlichkeit schuldig. Eine perfekte Zwickmühle.
Ein existentielles Paradox ist wie das Haupt der Medusa. Man kann sich ihm nur nähern, wenn man sozusagen von rückwärts fragt: Wie kann ich (wie können wir) anders auf die Schrecklichkeit reagieren als mit moralischer Erregung ODER panischer Angst?
Moralische Empörung ist eine großartige Energie. Sie speist sich aus der Empathie des Menschen, die uns zur Solidarität mit Anderen verpflichtet. Sie zieht uns jedoch auch in einen Sog hinein, in eine Art Trance, wie man sie im Gesicht des Anton Hofreiter sieht, eines guten, alten Hippies und Pazifisten, mit dem ich tiefste Sympathie habe.
Aber wie er das Wort SCHWERE WAFFEN! ausspricht, die SOFORRRT! (bayrisches Roll-„R“) geliefert werden müssen – das verrät eine tragische Verstricktheit und Verlorenheit.
Moralische Empörung steigert sich leicht zu moralischer Panik. Der Versuch, in den USA das Grundrecht auf Abtreibung abzuschaffen, ist ein Resultat panischer Moral. Moral lässt sich leicht funktionalisieren und manipulieren. Sie ist eben auch eine Grundquelle des bösartigen Populismus, und eignet sich hervorragend als Machtinstrument für Diktatoren. Das ist verwirrend, denn wir glauben immer, dass Moral „gut” ist, weil sie sich so anfühlt.
Panische Angst hingegen macht uns zum Opfer von Drohstrategien à la Putin. Angst hat immer recht – sie schafft sie ihre eigene moralische Norm, die allerdings zur Erstarrung führt, wenn Flüchten oder Kämpfen keine wirklichen Alternativen sind.
Den sinnvollsten Vorschlag hat eigentlich Elon Musk gemacht, der sich mit Wladimir Putin prügeln wollte.
Wenn aber weder kämpfen noch flüchten geht, müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen.
Das Diktum der Weisheit
Wie könnte es gelingen, anders mit einem unlösbaren Dilemma umzugehen?
Versuchen wir es mit Weisheit.
Weisheit ist die Fähigkeit, jenseits der Verklammerungen der Paradoxien denk- und handlungsfähig zu bleiben. Das klingt schlaumeierisch – wie soll das gehen? Aber wenn wir im Leben, in der Liebe, im Beruf eine richtige Entscheidung treffen, machen wir im Grunde nichts anderes: Wir lösen uns von einem Dilemma, indem wir die Welt mit neuen Augen sehen.
Wie sagte der Kybernetiker und Philosoph Heinz von Foerster so schön? „Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.”
Weisheit ist beschreibbar als Verbindung von Gelassenheit, Empathie und Voraussicht. Die Lebenssinn-Forscherin Monika Ardelt sprach von der Integration von reflexiven, kognitiven und affektiven Aspekten des Seins.
Mit Weisheit distanzieren wir uns von der Wirklichkeit, aber nicht um sie zu verlassen.
Sondern um die Zusammenhänge klarer zu sehen.
Um von der Zukunft aus die Wahrheit der Gegenwart zu beleuchten.
Die Logik des Krieges – und des Friedens
Gewalt gehört zu den Konstanten der Menschheit. Sie ist allgegenwärtig, zwischen Menschen, Mensch und Natur, auch in der Natur selbst. Sie sich wegzuwünschen, ist möglich, aber nicht sehr erfolgreich. Einfach, weil Gewalt MÖGLICH ist, wird sie auch immer existieren.
Die Idee eines ewigen Friedens (oder eines ganz und gar friedlichen, wunderbaren Internets) ist eine Illusion, die uns in eine Sackgasse schickt. Es hilft auch nicht, „die Gesellschaft” verantwortlich zu machen. Selbst in den friedlichsten Gesellschaften kann es zu Gewaltausbrüchen kommen – siehe das Breivik-Attentat in Norwegen.
Seit Menschengedenken haben Menschen versucht, Gewalt einzuhegen, sie durch Rituale und Regelspiele zu zähmen. Verhandlungen bei kriegerischen Konflikten sind schon in den tribalen Gesellschaften bekannt – das berühmte Friedenspfeife-Rauchen (Drogenexperten können einem interessante Geschichten darüber erzählen). Fußball ist nichts anderes als symbolisiertes Kriegsgeschehen. In gewisser Weise auch (männliches) Autofahren.
Parlamente, Gerichte, Behörden, Institutionen aller Art sind dazu „designt”, Konflikte zu regeln, aus denen Gewalt entstehen könnte. Gesetze, inzwischen auch human rights, versuchen, der Gewalt überall auf der Welt Herr zu werden.
Wir haben das Gefühl, in einer mörderischen Welt zu leben. Wer den ganzen Tag fernsieht, oder sich durch die Aggressionsstürme im Internet klickt, glaubt irgendwann, die Welt wäre ein einziger Gewalt-Pfuhl. Aber das ist eine Sinnestäuschung. In Wirklichkeit war „die Menschheit” noch nie so friedlich wie heute (siehe z.B. Stephen Pinkers: Gewalt – eine neue Geschichte der Menschheit, oder die Datenanalyse von ourworldindata.org).
Durch den medialen overkill, der ständig unser Angst- und Aufmerksamkeits-Hirn reizt, wird der Friede unsichtbar, der fast überall herrscht.
Man kann in diesem seltsamen Frühjahr durch eine Stadt gehen, und staunen, wie unfassbar viele Unterschiedlichkeiten sich regeln, ausgleichen, vermitteln lassen.
Wie WENIG wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen.
Wieviel Liebe, Hoffnung und Zuneigung es gibt.
Es lohnt sich, über den Frieden zu staunen.
Gerade jetzt, wenn Krieg ist.
Aber nicht herrscht.
In seinem Buch WHY WE FIGHT – the Roots of War and the path to peace beschreibt der Politikwissenschaftler Christopher Blattmann, wie die Kosten für die Gewaltausübung im Laufe der Geschichte immer höher geworden sind. “Societies are surprisingly good at interrupting and ending violence when they want to—even gangs do it.”
Allerdings gilt das nicht immer. Kulturen, Gruppen, ganze Gesellschaften, können in eine Gewalt-Regression fallen, deren Ursachen zumeist in tiefen Traumatisierungen über Generationen hinweg liegen.
In Kriegen gewinnen selten die Stärkeren. Es herrscht vielmehr eine Tendenz zum „David-Effekt”. Eine häufige Wende ist der „fatale Sieg” oder die „triumphale Niederlage”. Die aggressivere Partei scheitert am Gegenimpuls der Verteidiger, an der Mobilisierungskraft der Verzweiflung. Siegesgewisse Angreifer verrennen sich regelmäßig sich in taktische Sackgassen, in Paradoxien der eigenen Strategie, in Selbstüberschätzungen. Man denke an Vietnam. Afghanistan. An den Irak. Und Napoleon in seinen ersten und letzten Kriegen.
Kriege werden grundsätzlich verloren, oder beenden sich, wenn das Narrativ, auf dem die Aggression basiert, in sich zusammenbricht. Kriege erzeugen Nachkriegsordnungen, in denen aus Nullsummenspielen Non-Zero-Sum-Games werden – positive Wendungen.
Nach dem dreißigjährigen Krieg entstand im westfälischen Frieden eine europäische Ordnung, die die brandschatzende Kriegsführung der Religionskriege beendete. Das war der Beginn der Menschenrechte. Nach den Napoleonischen Kriegen, im Wiener Kongress 1814, begann eine Phase der „Balance of Powers”, die die Grundlagen für territoriale Unversehrtheit enthielt.
Der Zweite Weltkrieg beendete nicht nur die meisten Diktaturen in Europa, sondern auch die überkommene Tyrannei des Kolonialismus.
Ein Grundszenario der Spieltheorie (eine wichtige Teil-Disziplin der Zukunftsforschung) ist das so genannte Gefangenendilemma. In diesem Simulations-Spiel werden zwei Verdächtige verhaftet, die in verschiedenen Zimmern verhört werden. Wenn einer von ihnen als Verräter auftritt, bekommt er einen starken Strafnachlass. Wenn beide schweigen, werden sie freigelassen. Wenn beide verraten, werden sie beide schwer bestraft.
Nichtkooperative Spiele zeichnen sich dadurch aus, dass „die Spieler ihre Strategieentscheidungen nicht revidieren können, wenn ihnen die Lösung empfohlen wird”. Genau das ist im Ukraine-Konflikt der Fall. Die Parteien sind in ein nichtkooperatives Spiel verwickelt, aus dem sie nicht herauskommen. Lösung hieße, das eigene Paradigma zu beschädigen, und sich damit selbst vom Spielfeld zu nehmen.
Dieser Falle entkommt man nur, wenn man ein Spielfeld auf höherer Ebene eröffnet. In gewisser Weise hat die Ukraine das bereits getan: Gegen die einseitige Gewalt hat sie das Spielfeld der Weltöffentlichkeit eröffnet, gegen Gewalt-Symbole operiert sie mit emotional- humanistischen Memen. Selenskyj ist ein wunderbarer „Spieldesigner” mit klugen Beratern.
Könnte man in dieser Richtung weiterdenken?
Ein anderes Szenario
Stellen wir uns vor die Ukraine würde morgen einen einseitigen Waffenstillstand verkünden. Die ukrainischen Truppen würden sich auf eine Linie rund um den Donbass auf reine Verteidigungsstellungen zurückziehen. Selenskyj würde als oberster Befehlshaber zurücktreten und sich um den Wiederaufbau der Westukraine kümmern. Dazu gehört auch die Organisation der Ausreise der ukrainischen Bevölkerung aus den russisch besetzten Gebieten. Gleichzeitig würde die Ukraine mit einer Reihe von Vermittlern aus verschiedenen Schlüsselländern – Türkei, Israel, Indonesien, Kanada etc. – einen runden Verhandlungstisch eröffnen. Die Russen wären herzlich eingeladen.
Unmöglich, werden Sie sagen, geradezu zynisch! Kapitulation in einer Situation des Angriffskrieges! Nun hat Putin gewonnen! Er wird sofort den nächsten Krieg beginnen!
Und so weiter.
Wirklich?
Sind wir uns da so sicher?
Denken wir noch einmal nach.
Wenn Putins Truppe in dieser Situation mit einer erneuten Gewaltorgie weitermacht, würde er sein eigenes Narrativ überschreiten, nämlich die Eroberung des Donbass für eine „Sicherung” Russlands. Damit würde er riskieren, seine letzten Verbündeten zu verlieren. Die fossile Wirtschaft Russlands ist jedoch existentiell auf fossile Absatzmärkte angewiesen. Außerdem würde überdeutlich, wie sinnlos – und kostspielig – die Eroberung einer selbsterzeugten Trümmerwüste wäre.
Eine solche asymmetrische De-Eskalation würde Putin in das Dilemma des nichtkooperativen Spielers setzen, der in seinem eigenen Dilemma gefangen ist.
Es geht hier nicht darum, diese Strategie den Ukrainern „vorzuschlagen”. Ratschläge aller Art sind vollkommen deplatziert. Es geht auch nicht darum, exakt vorauszusehen, was geschehen würde – das ist unmöglich. Es geht darum, die Logik der Spiele zu verstehen, die unsere Zukunft erzeugen.
Weisheit bedeutet, dass wir uns innerlich von den Reiz-Reaktionsmustern, den Reflexen, mit denen wir auf ein Dilemma reagieren, lösen. Dass wir die Emotionen, die uns angesichts von Sterben und Tod, von Trümmern und Zerstörung befallen, zulassen. Aber nicht von ihnen leiten lassen.
Solche innere Differenzierung ist auch das Prinzip des Buddhismus und anderer fernöstlicher Denkweisen. Olaf Scholz ist, soweit man weiß, von der Philosophie des griechischen Stoizismus beeinflusst. Auch die Stoiker – sozusagen die europäischen Buddhisten – beschäftigten sich mit den Fragen der mentalen Wirklichkeitskonstruktion. Hier drei Schlüsselzitate des Stoizismus:
„Verlust ist nichts anderes als Verwandlung.” (Epiktet)
„Es sind nicht die Dinge selbst, die uns bewegen, sondern die Ansichten, die wir von Ihnen haben.” (Epiktet)
„Betrachte einmal die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bisher sahst, denn das heißt, ein neues Leben beginnen.” (Mark Aurel).
„Wir wollen dauerhaft Russland schwächen”, sagte der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd J. Austin öffentlich. Das ist ehrlich. Es ist aber auch ungünstig, wenn man in einem Konflikt mit einem nichtkooperativen Spieler befindet.
Vielleicht ist es manchmal besser, sich zurückzuhalten.
Weisheit erfordert die Möglichkeit des Schweigens.
Und die Fähigkeit zum Vertrauen.
Als Kennedy im Jahre 1962 den nuklearen Weltkrieg verhinderte und mit der Sowjetunion ein Abkommen über den Abzug der Atomraketen aus Kuba abschloss, veröffentlichte die amerikanische Administration keine Einzelheiten des Abkommens.
Und nur so funktionierte es.
Über die Weisheit kommen wir zur Wahrheit (und umgekehrt).
Wahr ist, dass wir alle sterben werden. Die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten Jahren an einem Atomschlag zu sterben, ist nicht berechenbar. Sie unterliegt zu großen Teilen den Gesetzen des Chaos. Sie ist grösser als null.
Damit müssen wir leben. Weisheit bedeutet, eine vitale Antwort darauf zu finden. Besser leben. Intensiver leben. Entschlossener leben. Wahr ist, dass es Phasen im Leben gibt, in der wir in großer Unsicherheit leben müssen.
Das kann weise machen.
Oder blind.
Der Sinn dieses Krieges – aus der Zukunft gesehen – ist die Evolution einer neuen Weltordnung, in der die Logik der Gewalt ein weiteres Stück eingehegt werden kann. Nennen wir es den ukrainischen Frieden.
Nachkriegs-Ordnungen stabilisieren sich dann, wenn sie von einer höheren Vision getragen werden. In der Nachkriegszeit, in der ich aufgewachsen bin, war das die Hoffnung auf technischen Fortschritt, Breiten-Wohlstand und Demokratie.
Eine Vision für eine neue globale Ordnung nach diesem Krieg wäre die postfossile Transformation. Der Ukraine-Krieg enthüllt unsere blutige Abhängigkeit von den fossilen Rohstoffen. Und die Konfliktpotentiale, die damit verbunden sind. Vielleicht ist das Ukraine-Drama ein Aufbäumen des fossilen Weltprinzips, der „Verbrennungslogik”, die auf Blut, Stahl, Öl und Herrschaft über Menschenleben gebaut ist.
Putin wäre dann der Liquidator des fossilen Zeitalters. Eine wichtige Rolle.
Jane Goodall, die Schimpansen-Forscherin, sagte neulich: „Ich habe vier Gründe, an die Zukunft zu glauben. Den erstaunlichen menschlichen Intellekt. Die Widerstandskraft der Natur. Die Kraft junger Menschen. Und den unbezähmbaren human spirit.”
„Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.
Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden.
Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“
— Sun Tzu, Die Kunst des Krieges
1. Die Botschaft des Dr. Seltsam
Vor knapp sieben Jahren, im Juli 2015, kam es in Wladimir Putins Staatsresidenz, 30 Kilometer vor Moskau, zu einer denkwürdigen Begegnung. Oliver Stone, der Regisseur des amerikanischen Moral-Humanismus, Vietnam-Veteran und Regisseur von Filmen wie Platoon oder JFK, drehte einen Dokumentarfilm über den Staatsmann Putin.
Um sich ihm zu nähern, führte er dem heutigen russischen Diktator einen Film vor.
Der Film hieß „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben.“ Ein Meisterwerk von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1964.
Und das beste: Oliver Stone filmte die Reaktionen Putins: www.irishtimes.com
In Kubrick‘s Apokalypse-Komödie kommt ein halbverrückter Spieltheoretiker und „Prophet“ mit seltsamem Akzent vor (Dr. Seltsam, gespielt von Peter Sellers). Dr. Seltsam weiß alles über die Zukunft, und weil er alles weiß, ist er verrückt geworden. Eine weitere Schlüsselrolle spielt ein amerikanischer General, der besessen ist von der Idee, die Kommunisten hätten chemische Substanzen ins Trinkwasser gemixt, um die „bodily fluids“ der Amerikaner zu verderben. Männer werden dadurch impotent.
Querdenker gab es auch damals schon. Nicht nur im Film wimmelte es von Verschwörungsdenkern.
Im Plot von „Dr. Seltsam“ wird das Konzept der nuklearen Abschreckung durch einen „system flaw“ – einen idiotischen Zufall – ausgehebelt. Die Strategen des CIA haben „zufällig“ vergessen, der russischen Gegenseite mitzuteilen, dass sie eine DOOMSDAY-Maschine konstruiert haben. Einen automatischen Startmechanismus der Atomraketen für den Fall eines Angriffs. Falls der Präsident zögern sollte, den roten Knopf zu drücken, werden alle Raketen und Bomber im Fall eines Angriffs unverzüglich auf RED ALERT und Abschuss gestellt.
Deshalb lässt sich ein Irrtum nicht mehr korrigieren.
Am Schluss reitet ein amerikanischer Bomberpilot juchzend auf einer Wasserstoffbombe auf Russlands Boden zu. Er sieht die Bombe als ein wildes Pferd, das er zähmen muss.
Das Narrativ des Cowboys, eines uramerikanischen Motivs.
Putin fiel zu dem Film irgendwie nicht viel ein. „Es gibt einiges in dem Film, was uns nachdenklich macht…“, sagte er im anschließenden Gespräch. „Eigentlich hat sich ja seitdem nicht viel verändert… Es ist heute noch schwieriger und gefährlicher solche Waffensysteme zu kontrollieren…“
Beim Abgang überreicht Stone Putin einen Umschlag mit der DVD des Films. Putin tritt durch eine Tür, öffnet den Umschlag, und kommt noch einmal zurück. „Typisches amerikanisches Geschenk! Nichts drin!“
Er hält die leere Hülle der DVD in den Händen.
Oliver Stone entschuldigt sich und holt die DVD aus dem Abspielgerät.
Man verabschiedet sich.
2. Schwere Waffen
Kann die Ukraine diesen Krieg wirklich gewinnen?
Darüber bilden sich jetzt in Medien, Köpfen, Gefühlen rasch neue Deutungs-Mehrheiten.
Die russische Offensive, so heißt es, hat sich vor den Toren Kiews festgelaufen.
Putin hat sich „verkalkuliert“.
Wir müssen den Ukrainern einfach SCHWERE WAFFEN liefern! Das ist das GEBOT der Stunde!
Dann können sie diesen Krieg gewinnen.
All das klingt betörend. Einfach. Geboten eben. Aus moralischen, kriegstaktischen Gründen. Aus dem Recht auf Selbstverteidigung heraus. Auch aus Scham und Schuldgefühl: „Wie konnten wir nur solange stumm zusehen!?“
Wer, außer den rechten Populisten und den wackeren Friedens-Fundamentalisten, möchte das nicht: Dass die tapferen Ukrainer, die auch für unsere Freiheit kämpfen, den Usurpator besiegen?
Aber was ist das überhaupt?
Siegen?
3. Das Abschreckungs-Paradox
In Los Alamos, dem Zentrum der amerikanischen Bombenforschung, war die Atombombe in den letzten Kriegsjahren unter ungeheurem Aufwand von Geist und Geld als ein Instrument erfunden worden, grausame Massen-Kriege für immer zu beenden (siehe dazu die ergreifende Serie „Manhattan“, bei Amazon Prime). www.amazon.de/Manhattan-Staffel-1-dt-OV
Führend bei der Entwicklung dieser Massenvernichtungswaffe, waren Wissenschaftler, die den „killing fields” Europas entkommen waren. Ungarische Mathematiker. Jüdische Emigranten, die ihre Verwandten in den Nazi-Konzentrationslagern verloren hatten, nicht wenige von ihnen aus dem Gebiet, der heutigen Ukraine. Physiker, die dem linken Humanismus nahestanden, wie Edward Teller. Einige dieser Wissenschaftler gingen von Los Alamos direkt hinüber ins Lager der Spieltheoretiker, etwa John von Neumann, ein genialerer Kybernetiker und Quantenphysiker (siehe auch meine Kolumne „Future War“).
In den frühen 60er Jahren erarbeiteten die Spieltheoretiker in den amerikanischen Think-Tanks das Konzept der nuklearen Abschreckung. Ein regelbasiertes Spiel, das den Untergang der Menschheit durch die Möglichkeit des Untergangs verhindern sollte.
Wenn beide Parteien den anderen vernichten können.
Und beide Parteien WISSEN, dass ein Erstschlag durch einen umso vernichtenderen Zweitschlag beantwortet wird.
Wird keiner mit der Weltzerstörung anfangen.
Auch mörderische konventionelle Kriege, wie in den zwei Weltkriegen, könnten so vermieden werden.
Denn die könnten ja jederzeit eskalieren.
Allerdings verhedderten sich die Spieltheoretiker im Laufe ihrer Arbeit in immer mehr Paradoxien. Je mehr sie rechneten und rechneten, modellierten und modellierten, umso weniger ging ihre Rechnung vom „Gleichgewicht des Schreckens“ auf.
Was Kubricks Dr. Seltsam auf den Punkt brachte, offenbarte sich immer deutlicher:
Gleichgewichte des Schreckens funktionieren nur bei perfekter Information.
Und: Es kommt vor allem auf die KOMMUNIKATION an, ob ein Regelsystem hält.
Information kann jedoch ebenso wenig „perfekt“ sein wie Kommunikation. Beides ist störanfällig, manipulierbar, verrauscht. Und hängt letztlich vom menschlichen Willen ab.
Wenn Information und Kommunikation chaotisch werden, fällt man leicht in Verschwörungswahn und tief eingelernte Reflexe zurück.
Etwa in den Cowboy-Wahn.
Die Idee, die ganze Welt befreien und zähmen zu müssen.
Oder den Zaren-Wahn.
Die Vorstellung, das größte, beste und mächtigste Großreich aller Zeiten besitzen zu wollen.
Im ersten großen Test der nuklearen Abschreckung, in der Kuba-Krise von 1962, zwei Jahre bevor Kubrick seine Satire veröffentlichte, saßen Spieltheoretiker wie Thomas C. Schelling im Krisenstab des US-Präsidenten. Siehe Tim Hartford, Logic of Life S. 36 ff S. 51
John F. Kennedy vermied durch seinen hellen Geist vor allem EINEN Fehler: Die Entscheidungen den Militärs zu überlassen, die ständig auf den Einsatz „ihrer Kapazitäten“ drängten. (siehe den Film „Thirteen Days“ von 2000). Die Kennedy-Administration legte großen Welt auf das rote Telefon, die Direktverbindung zum Kreml (so wie heute wieder das US-Verteidigungsministerium in der Ukraine-Krise).
Die Kuba-Krise wurde beigelegt, indem ein „Hidden Deal“ geschlossen wurde. Die UdSSR zog ihre Atomraketen aus Kuba ab, und die USA ihre Atomraketen aus der Türkei. Wichtig war, dass die Einzelheiten des Deals nie veröffentlicht wurden. Die Welt wurde in aller Diskretion, ohne Beteiligung der öffentlichen Medien und des Propagandaapparates, gerettet.
Es gibt so etwas wie die Weisheit des Schweigens.
5. Das Gesetz von Kraft und Gegenkraft
Die Ukraine hat in diesem Krieg ein Momentum genutzt, das in der Kriegsgeschichte wohlbekannt ist. Das Phänomen des KULMINATIONSPUNKTS DES ANGRIFFS.
Der Historiker Wolfgang Schivelbusch beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „Rückzug – Geschichten eines Tabus“. Es gibt in der Militärgeschichte viele grandiose Siege, die sich im Moment ihres Eintretens in Niederlagen verwandelten. In katastrophische Erfolge. Etwa Napoleons Eroberung Moskaus im Jahr 1812. Als die Grande Armee nach 3.000 Kilometern Fußmarsch mit Fanfarenklängen in die Stadt einzog, ohne nennenswerten Widerstand, war die Stadt leer. Kein Gegner in Sicht. Leere Straßen. Verrammelte Fenster.
Die Folge war: Ratlosigkeit. Mit allem konnte der Oberstratege Napoleon umgehen, außer dem Mangel eines Gegners. Dann brannten auch noch Teile der Stadt. Chaos brach aus, die Moral der französischen Truppen zerfiel. Napoleons Schicksal war besiegelt.
Schivelbusch beschreibt diesen Effekt der Sieges-Niederlage auch am Beispiel zweier Entscheidungsschlachten der Weltkriege, an der Marne und in Dünkirchen. Im Ersten Weltkrieg waren es die Pariser Taxifahrer, welche die französischen Soldaten zur Front fuhren, wo sie die deutsche Offensive an der Marne zu Stillstand brachten. Die Frontbeobachter berichteten schon stolz davon, dass sie in ihren Feldstechern Notre Dame sehen konnten. Im Zweiten Weltkrieg kam es nach dem Rückzug der englischen Armee zu einer Reorganisation des weltweiten Widerstands gegen Hitler.
Ähnlich war es auch in Vietnam. Im Irak. Und in Afghanistan. Und eben auch jetzt in der Ukraine.
„Im Moment des Angriffs mag mag der Angreifer im Vorteil sein, wenn er mit überlegenen Kräften angreift. Weil er das Überraschungsmoment und die Wucht des ersten Schlages auf seiner Seite hat. Doch dieser Vorteil ist von kurzer Dauer. Nach dem Prinzip des Stundenglases oder der kommunizierenden Röhren, kommt die Energie, die der Angreifer durch FRIKTION verliert, dem Verteidiger zugute. Dieser braucht nur warten, bis sich das Kräfteverhältnis umkehrt.“
Das nennt Clausewitz den Kulminationspunkt des Scheiterns. Clausewitz spricht vom „Zurückgeben des Stoßes“ – „die Gewalt eines Rückstoßes ist gewöhnlich viel größer, als die Kraft des Vorstoßes war. Der Affekt (oder Reflex) der Vergeltung vermag Energiereserven zu mobilisieren, über die der Angreifer nicht mehr verfügt.“ (Schivelbusch S. 66).
Eine kleine Einführung in die systemisch-dynamische Spieltheorie
Die fundamentale Spieltheorie sagt uns, dass es in unserem Universum DREI Arten von „Spielen“ gibt. Diese Abläufe beschreiben sowohl die Logik des Lebens, der Evolution, der Zivilisation, wie auch menschlicher Kommunikationsprozesse.
Win-Win-Spiele, in denen beide – oder mehrere Parteien – gegenseitige Vorteile generieren. Echte Kooperation, fairer Handel, sinnvolle Arbeitsteilung, Vertrauen, Zuneigung, Liebe, ökologische Vielfalt – all das erzeugt systemische Überschüsse, die grösser sind als die Summe der Investitionen. Durch NON-ZERO-SUM-Games, „Nichtnullsummenspiele“, wird die Welt dauerhaft bereichert. Der Komplexität wird etwas hinzugefügt. Man könnte auch sagen: Fortschritt entsteht.
Win-Lose-Spiele, in denen EINE Partei verlieren muss, wenn die andere gewinnt. Bei Tennis etwa, siehe Boris Becker, gibt es immer nur einen Gewinner, der alle anderen hinter sich lässt, dabei aber auch selbst Verluste erleidet. In frontaler Konkurrenz, Spekulation und Korruption entstehen ungünstige Verluste. Auch wenn es einen SIEGER gibt, werden die Verluste in die Zukunft verschoben – und kehren von dort zurück.
Lose-Lose-Spiele, in denen BEIDE Parteien verlieren. Neben verheerenden Ehescheidungen ist der Krieg das Beispiel für ein doppeltes Verlustspiel. Krieg ist immer eine Vernichtung von Weltpotential, bei der auch der Sieger verliert. Allerdings können sich auch Kriegsgeschehen asymmetrisch umkehren. Durch kathartische Prozesse entstehen neue Selbstorganisationen, aus Chaos und Zerstörung entsteht – irgendwann – neue Ordnung.
Aus Tod entsteht Leben.
Aus Verlust entsteht neue Zukunfts-Energie.
Tit for Tat: Wie Du mir, so ich Dir, revisited
Anatol Rapoport (1911-2007) emigrierte als 11-jähriger aus dem heutigen Losowa in der Ukraine in die USA, er lebte in Chicago und Wien.
Er war Musiker, Mathematiker, Systemwissenschaftler und Philosoph, dazu noch Psychologe und Biologe. Rapoport legte die Grundlagen der angewandten Spieltheorie und teilte „Spiele“ in mehrere Dimensionen auf:
Kampf („fight“): Gewalttätige Auseinandersetzung, endet mit der Unterwerfung oder physischen Zerstörung des Verlierers.
Spiel („game“): Kräftemessen nach festen Regeln, endet mit der freiwilligen Aufgabe eines Teilnehmers.
Debatte („debate“): Versuch, das eigene Normen- und Wertesystem auch dem Gegenüber schmackhaft zu machen.
Kriege sind verschlungene Mischungen aus allen drei Komponenten. Die von Rapoport formulierte Tit-for-Tat-Strategie bildet einen wesentlichen Kern der erweiterten Spieltheorie, die auf Konfliktlösungen abzielt. Dabei geht es darum, die inneren Konstruktionen des „Gegners“ zu verstehen und zu integrieren. Die beste Strategie, die langfristig am meisten Erfolge zeigt, ist eine „positive Reaktionsstrategie mit eingebauter Flexibilität“. Sie beinhaltet zwar das Prinzip der Reziprozität „Auge um Auge, Zahn um Zahn: Tue anderen so, wie sie dir getan haben.“
Aber auch der beschränkten Vergeltung, um Strafen gering und Belohnungen hoch zu halten, unabhängig davon, wie das Gegenüber sich verhält.
Die Strategie hat außerdem die Regel, zu Beginn einer Interaktion auf jeden Fall kooperativ zu handeln.
Tit for Tat plus ist eine freundliche Strategie mit klaren Reaktionen:
Nettigkeit: Man beginnt das Spiel immer kooperativ.
Provozierbarkeit: Auf unkooperatives Verhalten der Gegenseite folgt Vergeltung. Auf kooperatives Verhalten wird mit Kooperation geantwortet.
Nachsichtigkeit: Sobald die andere Partei nach einer Defektion wieder Kooperationsbereitschaft zeigt, nimmt man die Kooperation wieder auf. Trenne in Konflikten immer Person und Verhalten!
Klarheit: Durch die Einfachheit der Strategie ist das eigene Verhalten leicht berechenbar.
Was also ist „Siegen”?
Das ist ein bisschen kompliziert. Seit der der Zeit der „symbolischen Schlachten”, als wohl-geordnete Heere in Reih und Glied aufeinander zumarschierten und irgendwann der Sieg „ausgezählt“ wurde (headcount, meistens sogar in Übereinkunft der Kriegsparteien), sind lange vorbei.
Kriege sind heute nicht nur materielle „Events“, in denen Menschenleben und Material der Einsatz sind. Kriege sind symbolische, politische, mentale, semantische Geschehen, die weit über das Schlachtfeld hinausreichen. Im hypermedialen Zeitalter werden sie vor allem als DISKURSE begonnen oder beendet.
Die Angriffs-Kriege der vergangenen Jahrzehnte – spätestens seit Vietnam – wurden stets ASSYMETRISCH VERLOREN – wobei Öffentlichkeiten, „public opinions“, eine wichtige Rolle spielten. Überlegene Feuerkraft führte dabei immer ins Desaster, in die am Ende klägliche Niederlage. Das haben besonders die Amerikaner erfahren, in Vietnam, Irak, Somalia, Afghanistan. Und endgültig in Syrien. Seit dem Irak-Desaster hat die Supermacht Amerika keinen Interventionskrieg mehr geführt.
Aus Amerikas Niederlagen hat das russische Militär viel gelernt. Auch Russlands militärische „Siege“ – Grosny, Syrien etc. – entstanden aus asymmetrischer Verschiebung. Dazu gehörte die Strategie, die Regeln des internationalen Rechts gnadenlos auszuhebeln. Der russische „Barbarismus“, in dem Kindergärten und Krankenhäuser angegriffen werden und jede Grausamkeit grundsätzlich der Gegenseite angelogen wird, besteht aus bewusstem Regelbruch. Und ist sehr erfolgreich. Brutalisierte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung setzt den Gegner und seine Verbündeten nicht nur in Angst und Schrecken. Sondern in ein schreckliches Dilemma: Das Paradox der reziproken Eskalation.
Jeder Gegenangriff führt zu einer Verschrecklichung der Situation.
Jedes Zögern ebenfalls.
Jede Zurückhaltung ist Verrat am Menschlichen, Humanitären.
Jede Entschlossenheit auch.
Wenn man die Unterlegenen stärkt, vermehrt man den Blutzoll.
Man macht sich schuldig.
Wenn man sich heraushält, vermehrt man den Tod und die Verzweiflung.
Man macht sich schuldig.
Wenn man einen Krieg tatsächlich gewinnen will, muss man das Spielfeld erweitern. Man muss das „level playing field“ auf eine höhere Ebene verlegen. Und neue Mitspieler und Verbündete finden.
Die weltweite öffentliche Meinung.
Die Interessen anderer Länder.
Globale Akteure der Zivilgesellschaft wie UNO, NGOS, Internationale Organisationen.
Die Kraft von Kunst und Kultur.
Kulturelle und religiöse Institutionen.
Die Lösungen neuer Kapitalinteressen und Technologien (Die Energie-Revolution).
Das Einzige, was diesen Krieg wirklich mit einer Niederlage Russlands beenden könnte, wäre eine überwältigende globale Mehrheit gegen den Krieg. Eine aktive, beharrende, entschlossene Welt-Mehrheit für die Einhaltung oder Wiederherstellung des Völkerrechts.
Das ist aber nicht möglich, solange die vielen Völkerrechts-Verletzungen der Supermacht Amerika im Raum stehen, ohne bearbeitet und verziehen worden zu sein. Denn der Vorwurf der Doppelmoral ist die eigentliche semantische Waffe in diesem Krieg.
Die ukrainische Regierung hat, im Zusammenspiel mit der ukrainischen Zivilbevölkerung, bereits eine äußerst kluge Symbolpolitik betrieben. Sie hat auf unvergleichliche Weise die Selbstorganisations-Kräfte der Bevölkerung mobilisiert. Die Ukraine spielt ihre erfolgreichsten Spiele nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im kollektiven Wahrnehmungsraum. In den globalen MEMEN, den Inszenierungen der Widerstands-Empathie. David gegen Goliath, ein Kampf auf dem moralischen Spielfeld.
Für den Frieden jedoch ist die Moral eine ungünstige Währung. Sie wirkt ja immer auf beiden Seiten, dient als Bestätigung, Rechtfertigung, ja Begründung der Gewalt.
7. Die dunkle Resonanz
Die acht Szenarien, die ich in Kolumne Nr. 92 beschrieben habe, verdichten sich immer mehr zu einem wahrscheinlichen Verlauf. Die östliche Ukraine wird besetzt, durch eine Orgie der Zerstörung, in der das russische Militär noch einmal alle seine Grenzüberschreitungen vorführt.
Wie weit das gehen wird, wissen wir nicht.
Hier rollt der historische Würfel des Zufalls.
Die Zerstörung wird dann als Sieg verkauft werden.
Doch die Eroberung eines auf Jahrzehnte verseuchten und verminten Ruinen-Trümmerfelds, das man selbst erzeugt hat, erfordert einen hohen Preis. Eine gigantische Minus-Rechnung muss in einen Triumph umgedeutet werden.
Damit könnte sich das Imperium, wie schon viele Imperien zuvor, überheben.
In Andrei Tarkowskis dystopischem Film STALKER reisen drei Personen in eine radioaktive Landschaft, die den Ruinen von Mariupol oder der Zone von Tschernobyl ähnelt.
Alles schimmelt, rostet, dampft. Irgendwo in dieser ruinösen Landschaft soll sich ein Raum befinden, in dem alle Wünsche endlich erfüllt werden. Man muss sich in diesem Raum nur das wünschen, was man wirklich will. Die Reisenden erreichen diesen Raum nie. Sie vergessen unterwegs, was sie sich wünschen könnten. Sie zerstreiten sich darüber, was überhaupt wünschenswert sein könnte. Und ob man diesen Raum nicht lieber zerstören sollte. Weil er gefährlich ist.
8. Cyber-Nations
Zu den Erweiterungs-Optionen des Spielfelds gehört auch das, was man die ankommende Emigration nennen könnte. Aus Vertreibung wird dann Migration.
Vertreibung ist immer ein schrecklicher Heimatverlust. Aber es kann auch ein kreativer Welt-Zugewinn werden. So, wie die jüdischen Künstler und Intellektuellen, die Wiener und Berliner Physiker und Naturwissenschaftler im Zweiten Weltkrieg „den Westen“ bereicherten, werden Millionen Ukrainer UND Russen zu einer globalen Bereicherung führen. Der größte Kriegsverlust Russlands ist der „brain drain“, der Verlust von unfassbar vielen Talenten, humanen Potentialen, kreativen Menschen. Der zweite Weltkrieg wurde nicht zuletzt dadurch entschieden, dass Millionen von Menschen in ihren Aufnahme-Ländern große Potentiale von Wissen, Energie und Wandel freisetzten.
Hier könnte das vielgerühmte „Metaverse“ endlich einmal zeigen, was es kann. Stellen wir uns vor: In einer neuen CYBER-NATION tun sich die Dissidenten Russlands UND die Vertriebenen der Ukraine zusammen. Solche virtuellen Neu-Staaten können im 21. Jahrhundert reale Machtpotentiale entwickeln. Sie können intensiv auf die Ursprungsländer zurückwirken. Das virtuelle Territorium wird wichtiger als das physische Territorium. Die Besatzung wird sinnlos. Sie scheitert an sich selbst.
9. Bewaffneter Pazifismus
Vielleicht lässt es sich nicht verhindern, dass die Ukrainer nun SCHWERE WAFFEN erhalten. Manchmal entwickeln sich die Dynamiken in einer Weise, in der sie nicht aufzuhalten sind.
Die buddhistische Lebensweisheit geht von einer wichtigen Differenz zwischen MITLEID und MITFÜHLEN aus. Während Mitleid immer auch einen narzisstischen Aspekt hat – es zieht uns in das Leiden und die Angst mit hinein, es bindet uns an unsere affektive Reaktion – führt Mitgefühl zu einer Zuneigung, in der wir in Empathie einen kühlen Kopf bewahren können.
Auch dieser Krieg wird nur asymmetrisch zu gewinnen sein.
Wenn „wir“ den Ukrainern schwere Waffen liefern, nehmen wir ihnen womöglich ihre wahre Möglichkeit auf Erfolg. Es könnte sein, dass wir ihren asymmetrischen Sieg verhindern, indem wir sie ihrem Gegner angleichen.
Zum Siegen gehört auch, auf die richtige Weise verlieren zu können.
Um dann auf einer neuen Ebene weiterzukämpfen.
Die Re-Militarisierung, die wir in Europa nun vollziehen müssen, kann nicht in die alten Militarisierungsformen zurückführen. Die Finnen haben das schon lange verstanden, ebenso wie die Letten und Litauer, oder die Schweizer. Ein bloßes „Gegenrüsten“ auf derselben Ebene ist sinnlos. Eine Gesellschaft jedoch, die sich mit Hightech-Defensiv-Waffen und heller Entschlossenheit ihr Land für jeden territorialen Aggressor „unsinnig“ machen kann, ist die richtige Antwort auf das Ende der nuklearen Abschreckung.
Individualismus, Vitalität, politische Freiheit, Innovationskraft, Zivilität und Verteidigungsfähigkeit können erstaunlicherweise zusammengehen. Wie die Ukraine, aber auch das Beispiel Israel – in großen Teilen – zeigen.
Hoffen wir also auf asymmetrische Weisheit.
Hoffen wir auf die Klugheit unserer Politiker, in diesem Konflikt in Sinne von Nicht-Nullsummen-Spielen zu agieren.
Dazu bedarf es des wiederholten Ebenenwechsels.
Vertrauen wir auf die menschlichen Fähigkeiten, in großer Paradoxie innere Klarheit zu behalten.
Das Spiel auf einer höheren Ebene zu spielen.
Eine Verhandlungs-Streitmacht zu entwickeln.
Hoffen wir auf eine neue Poesie des Friedens.
Ein Spielfeld, das sich aus der Zukunft heraus entfaltet.
P.S.:
Dieser Text bezieht sich auf eine Unmenge kluger und weniger kluger Gedanken in der momentanen Kriegsdebatte. Sehr wertvoll war ein Interview mit dem ehemaligen Pazifisten Arvid Bell, der heute eine „Negotiation Task Force“ an der Harvard University führt, die die Rolle von Verhandlungsstrategien in internationalen Konflikten erforscht („Der Westen nimmt sich wichtiger, als er noch ist“, ZEIT online 17. April 22). Und ein Hinweis auf den wunderbaren Text „Ukraine is our Past and Future“ des Journalisten und Filmproduzenten Peter Pomerantsev, veröffentlicht in TIME Magazine, 6..4.22: Once again, Ukraine is making us rethink our values, our laws, our policies, our defense. This war is not just a problem you can localize to Russia-Ukraine. There’s an increasingly coordinated network of dictatorships and soft authoritarians who think the 21st century belongs to them. Working out how to help Ukraine win is the first step to fathom this defining question. As so many times a global fault-line in our thinking, one that we wanted to ignore, is being made apparent in Ukraine. The Ukrainian writer Igor Pomerantsev once defined poetry as a bat flying through the night suddenly illuminated in the flashlight of our focus. That metaphor can apply to politics as well. Ukraine is the place where the invisible is surfaced, where the suppressed will be remembered, where horror is made into meaning. For their freedom and ours. www.time.com
Geboren in Kiew, aufgewachsen in Deutschland, lebt Peter Pomerantsev heute in London. Er ist Autor des Buches „Nothing is true and everything ist possible“ und „This Is Not Propaganda: Adventures in the War Against Reality“.
Eine kleine Auswertung der Ukraine-Szenarien und der Blick auf andere Konflikte
Wie entwickelt sich der Ukraine-Krieg? Das war die Grund-Frage meines Szenarios vom 21. März, drei Wochen nach Beginn des Krieges. Zahlreiche Zusendungen haben sich intensiv mit den 8 Szenarien beschäftigt.
Interessant waren die Einschätzungen, die Sie, liebe Leser, mir zugeschickt haben. Ich hatte Sie gebeten, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen und in einer Art „Ranking“ (1-2-3) die Szenarien zu bewerten. Was ist dabei herausgekommen?
Erster Platz: „Hinausschleichende Drift“ oder Der plötzliche Friede (ein Drittel aller Zusendungen)
Hier handelt es sich um das optimistischste Szenario: Der kriegerische Konflikt kommt plötzlich zu einem Stillstand. Es beginnen Verhandlungen, und am Ende steht ein Kompromiss, mit dem sich Putin als Sieger zurückziehen und die Ukraine sich als autonom behaupten kann.
Dass wir uns diese „Lösung“ wünschen, ist verständlich. Einige Leser drückten das direkt als HOFFNUNG aus: „Ich wünsche mir Frieden!“ Aber wie soll das gehen? Mit jedem in Schutt und Asche gelegten Wohnblock oder Kindergarten wächst der Hass, die Verzweiflung der Ukrainer, und mit jedem getöteten russischen Soldaten und zerschrotteten Panzer wächst der Hass (und Wahn) Putins. Im Kern des Konflikts liegt die Unmöglichkeit eines Friedens, der auf Übereinkunft beruht. Solche Kriege gehen „normalerweise“ nur durch gegenseitige totale Erschöpfung oder den Sieg der einen Seite zu Ende (geschildert in „Bloodlands“ oder „Heroische Kapitulation“).
In den letzten Tagen hat sich allerdings gerade WEIL der Konflikt so unlösbar erscheint, eine Tendenz des „Herausschleichens“ entwickelt. Ein langsames Abebben der Gewalt scheint gerade deshalb wahrscheinlich, WEIL der Konflikt unlösbar ist. Durch den Widerstand der Ukraine hat sich das Spielfeld in Richtung eines Patts entwickelt.
Aber genau das könnte auch das Zeichen einer weiteren Eskalation sein. Tyrannische Strategien à la Putin neigen in dieser Situation zu „Leugnungsexzessen“. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im April zu einem weiteren, womöglich schlimmeren Gewaltexzess kommt, ist deshalb ziemlich groß. Danach würden die beiden Szenarien „Bloodlands“ und „Heroische Kapitulation“ wahrscheinlicher.
Zweiter Platz: Die Konfuzius-Lösung (ein Sechstel aller Zusendungen)
Dieser Konflikt ist durch die zahlreichen Verflechtungen des Globalen längt ein Weltkonflikt geworden. Da die UNO nicht mächtig genug ist, müsste dies zu einem neuen „Framing“ auf höherer Ebene führen. Eine Art neuer „Magna Charta“ wäre nötig, die den eigentlichen GRUNDkonflikt ausgleicht (nicht löst, das ist unmöglich) – den zwischen Demokratien und Autokratien. An diesem Punkt käme China ins Spiel. Als aufkommende Weltmacht müsste es China ein Anliegen sein, auch im eigenen Interesse den Krieg zu stoppen. Ist China mit seiner „konfuzianischen“ Strategie nicht ein Vertreter globaler Harmonie?
Diese Lösung ist – probabilistisch gesehen – derzeit sehr unwahrscheinlich. China kann sich nicht entscheiden. Unweigerlich würde das Thema der Menschenrechte auf dem Tisch liegen, und die Machtinteressen Chinas würden deutlich sichtbar. China ist jedoch ein großer Meister im Verbergen. Dass dieses Szenario dennoch von relativ vielen Lesern gewählt wurde, liegt daran, dass es gleichzeitig LOGISCH erscheint. Wie sonst sollte der Krieg „gelöst“ werden als durch die Einwirkung Chinas? Lösungen, die logisch sind, sind aber nicht immer wahrscheinlich.
Dritter Platz: Die Welt auf der Kippe (ein Zehntel)
Dieses Szenario geht von einer „Wendung durch höchste Gefahr“ aus – ein High-Risk-Szenario, das an unseren Nerven zerrt, an unsere Angst appelliert. Ein bisschen schwingt da die Erinnerung an die Kuba-Krise mit, wo es gelang, den Konflikt kurz vor dem großen Weltkrieg abzuwenden. Man könnte das als einen „Neuen Realismus“ interpretieren. Aber ist Realismus in dieser Situation realistisch?
Einige Leser haben eigene Szenarios – oder Varianten – vorgeschlagen. John Peter Strebel aus der Schweiz hat den klugen Begriff „Pragmatische Kapitulation“ gegen die „Heroische Kapitulation“ gesetzt: „Nicht heldenhaft aber vielleicht lebensrettend.“
Gabi O. aus Deutschland beschreibt eine Art Traum: „Putin wird von einer Vision ergriffen, erkennt, was er angerichtet hat und zieht alles zurück und begeht Selbstmord. In Russland bricht alles zusammen, aber Nawalny und andere schaffen es immer mehr Teile der Bevölkerung von einer neuen demokratischen Ordnung zu überzeugen. Putin-Vertraute werden verurteilt und müssen beim Aufräumen in der Ukraine helfen. Das dauert aber ewig und ist von Rückschlägen gezeichnet. Die Armut wird weniger. Europa hilft, wo es kann. Der Einzelne kann wieder Vertrauen in die neue Regierung aufbauen und selbstbewusster und sichtbarer werden.“
Eine andere Leserin, Annabel R., sieht die Religion in einer herausragenden Rolle: „Papst Franziskus und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill beginnen miteinander zu sprechen. Kyrill kann ermutigt werden, vom Schulterschluss mit Putin Abstand zu nehmen. Ein Rest Religiosität regt sich in der russischen Bevölkerung und Putins Zustimmungs-Basis wird schwächer. Er steht vor der Entscheidung, die Gewalt gegen sein eigenes Volk hochzufahren oder eine letzte Chance zu nutzen und als Friedensfürst in die Geschichte einzugehen. Man einigt sich, eine ostukrainische Enklave als russischen Trabantenstaat zu gründen.“
Diese Szenarien lösen die „Verhextheit“ des Problems, in dem sie neue Spieler auf dem Konfliktfeld einführen oder auf die Macht der Hoffnung setzen. Das ist keineswegs unrealistisch. Allerdings ändert es nichts an der Verhextheit des Konflikts, an der dunklen Magie, die eine Lösung verhindert.
Was sind „verhexte Probleme“?
Was macht es so außerordentlich schwer, die Zukunft dieses Konfliktes auch nur halbwegs verlässlich einzuschätzen? Sich auch nur eine Lösung zu DENKEN?
Beim Ukraine-Konflikt handelt es sich um ein Krisenphänomen, das man auch ein VERHEXTES PROBLEM nennt. „Verhexung“ meint eine bestimmte Art von negativer Verschränkung, in der die kognitiven Ebenen nicht mit den Wirklichkeiten übereinstimmen. (Siehe die philosophische Debatte über verhexte Probleme im DAI Heidelberg ). Jede Lösung erschafft sogleich wieder eine neue Reihe von Problemen, jeder Schritt erzeugt eine weitere Verirrung. www.spektrum.de/video/philosophie-und-verhexte-probleme
Ein wichtiger Faktor der Verhexung besteht in dem, was man einen „frame clash“ nennt, oder eine Referenzkrise. Die „frames“ der Konfliktparteien, also die Art und Weise wie der Konflikt gesehen und „gerahmt“ wird, sind vollkommen inkompatibel. Es existieren zwei Realitäten, die sich in ALLEM widersprechen: Semantik, Grammatik, Bedeutung von Worten.
Nichts anderes ist aber „Realität“: Semantik, Grammatik, Bedeutung von Worten.
Das ist im Prinzip nichts Neues – menschliche Kulturen haben immer schon in unterschiedlichen „nützlichen Halluzinationen“ gelebt. Religionen, Kulturbilder, „Identitäten“ sind ja nichts anderes als mentale Konstruktionen, die gemeinschaftsbildenden Charakter haben. Gewalt entsteht jedoch dann, wenn die Realitäts-Konstruktionen keine gemeinsame Wirklichkeit, keinen UNIVERSALISIMUS mehr ermöglichen.
Wir kennen diese negative Verschwurbelung oder „Wahrheits-Verhexung“ von Diskussionen mit Corona-Leugnern und aggressiven Populisten. Wenn fiktionale Wirklichkeiten die Wahr-Nehmung von Menschen übernehmen, entsteht ein kognitives Universum, das dazu neigt, sich hermetisch abzuschließen – durch eine Mischung aus Paranoia und Feindbildung. WIR gegen DIE. Dabei löst sich der Begriff der Lüge in Meinung auf, und Information wird zur (Selbst-)Manipulation. Eine besondere Rolle dabei spielen die heutigen Echtzeitmedien, die erstaunlicherweise Menschen und Kulturen in der Globalisierung nicht zusammengebracht, sondern umso gründlicher gespalten haben.
Trump lässt grüßen. Putin grüßt zurück. Und die Lüge wird zur Wirklichkeit.
Normalerweise funktioniert die Welt mit dem Prinzip dynamischer Dialektik: Widersprüche lösen sich auf, indem sie auf der nächsten Ebene transformiert und „universalisiert“ werden. Wir entdecken trotz aller Unterschiede das Gemeinsame. Aus Machtprivilegien entstehen Menschenrechte. Mit Hilfe von Technologien lösen wir Knappheitsprobleme, und erzeugen Nichtnullsummenspiele (Win-Win-Konstellationen). Das ist das, was wir Fortschritt nennen.
Es ist gleichzeitig das Metaprinzip der Evolution: Integration ins Höhere. Komplexe Organismen entstammen einer endlosen Reihe von „Krisen“, in denen frühere, einfachere Organismen in Überlebensnot gerieten. Darauf reagierten sie mit Mutationen oder Adaptionen, die sie in einer veränderten Umwelt überlebensfähig machten – und Schritt für Schritt ihren Handlungsraum erweiterten. Die blühende Vielfalt eines Dschungels oder Korallenriffs ist das Ergebnis von Millionen Jahren von Differenzierung UND Kooperation. Komplexere Hirne sind fürs Überleben langfristig besser, weil sie mehr Sinneseindrücke und Informationen für Gefahrenabwehr, Nahrungssuche und Reproduktion verarbeiten können.
Verhexte Konflikte entstehen letztlich durch eine Art Zukunfts-Versagen. Die russische Gesellschaft hat ihre innere Zukunft verloren – die Vorstellung, dass etwas besser werden kann, etwas „erlöst“ wird. Dadurch fällt sie in eine verhexte Regression, deren oberster Repräsentant Putin ist. Gewalttätigkeit ist Ausdruck des Unglaubens an das Zukünftige. An das, das sich weiterentwickeln kann. Ein Rückfall in eine imaginäre Gloriosität der Vergangenheit.
Ein typisches Beispiel für ein verhextes Problem ist auch die Corona-Krise. Sie ließ sich nicht wirklich „lösen“, weil ihre Handlungsoptionen in einer Paradoxie verliefen. Was immer Staat, Gesellschaft, Individuen taten – sie MUSSTEN es falsch machen. Jede Handlung in Richtung auf Lockdowns beschädigte die Konnektivität der Gesellschaft, und jede Öffnung die Notwendigkeiten der Immunologie. Wenn der Staat eingriff, beschränkte er die Freiheit der Bürger, wenn Bürger sich verweigerten, beschädigten sie die Gesundheit der anderen. Die Medien stürzten sich gerne auf diesen Streit, verstärkten ihn g