In meiner Jugend wollten wir als rebellische Minderheit superkritisch sein. Mit den Eltern, den „Verhältnissen“, dem Staat. Wir wollten protestieren, provozieren gegen „die da Oben“! Schuld an Allem war immer „das System“ oder „die Gesellschaft“. Man war immer auf der richtigen Seite, wenn man grundsätzlich DAGEGEN war.
Irgendwann habe ich erschreckt festgestellt, dass das DAGEGENSEIN zur neuen Mehrheitsmeinung geworden war. Zu einer Art neuem Spießertum. Bürgerinitiativen waren plötzlich nur noch GEGEN, nie mehr FÜR etwas. Gegen „die Idioten da oben“ zu schimpfen, geriet zu einer Art Massen-Epidemie, die allzu leicht in dunkles Grölen umkippte.
Ich erinnere mich an das schöne Wort „Streitkultur“. Der Begriff hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich wie Querdenken. Querdenker waren früher Menschen, die sich bemühten, die Dinge neu im Sinne der Zukunft zusammenzufügen. Das ist lange vorbei. Heute sind Querdenker Leute, die vor allem wütend sein und provozieren wollen. Und dabei ist ihnen jeder Unsinn recht.
Wie hieß das so schön? Streitkultur ist das lebendige Wesen der Demokratie. Und deshalb müssen kontroverse Meinungen ständig heftig aufeinanderprallen, damit bessere Lösungen entstehen …
Wirklich?
Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher.
Etwa, wenn ich das Fernsehen einschalte, und deutsche Politik-Debatten verfolge.
Kennen Sie das? Den Plasberg-Kater? Die Anne-Will-Depression? Die Maischberger-Erschöpfung? Den Illner-Überdruss? Alles dreht sich im Kreis, alle sagen unentwegt das Gegenteil, und doch immerzu das Gleiche.
Aber nichts ist wirklich neu. Selten weist etwas nach vorne, in die Lösung hinein.
In einer verdrucksten Weise versucht man, dem Anderen eins auszuwischen. Bis alles in einem zähen Morast moralischer Vorwürfe und verstärkter Unmöglichkeiten steckenbleibt.
Es ist interessant, die Wandlungen unserer öffentlichen Streitkultur nachzuverfolgen. Wenn man sich alte, verqualmte Talkshows aus den 70er und 80er Jahren anschaut, wirkt alles irgendwie steif und langsam. Aber da ist auch – meistens – ein Gefühl von Höflichkeit und Respekt. Ja sogar Neugier auf die Argumente des Anderen. Von gedanklicher Kooperation. Man bezieht sich aufeinander, auch wenn man streitet.
In den 80er und 90er Jahren bekamen Talkshows manchmal sogar etwas Zauberhaftes. Nicht nur, wenn Nina-Hagen den G-Punkt vor laufender Kamera zeigte. In manchen Talkshows konnte man richtig staunen: über neue Gedanken, überraschende Gefühle. Manchmal leuchtete sogar etwas Utopisches durch. Streit war ein Abtasten des Möglichen.
Und man konnte lachen. Über sich und andere, und wie man sich selbst sah.
Seit das Internet den medialen Takt angibt, wurden politische Talkshows auf professionelle Weise ritualisiert. Im Studio werden die sorgfältig ausgewählten Teilnehmer wie in einer Art Löwenkäfig als Kombattanten drapiert. Dann werden sie von den ModeratorInnen dompteurmäßig aufeinander losgelassen: Sind hier nicht schwerste Ungerechtigkeiten zu befürchten …?
Glauben Sie wirklich, dass …?
Aber müssen wir nicht Angst haben, dass …?
Die ModeratorInnen beharren solange auf dem Furchtbaren, Ungerechten und ganz Skandalösen, bis jeder Ansatz konstruktiver Ideen gewichen ist.
Politische Interviews ähneln immer mehr Verhören, in denen Politiker von den Journalisten mit Fragen am Rand der Unverschämtheit traktiert werden. Es geht vor allem darum, jenen „Sager“ zu generieren, mit dem sich ein dauerhafter Shitstorm lostreten lässt. Es geht darum, einen Konflikt loszutreten, mit dem man dann wieder die nächste Talkshow bestreiten kann …
Vor ungefähr sechs Jahren, Mitte der 10er Jahre, als der Trend zur Polarisierung und Polemisierung richtig losging, habe ich mir einmal die Mühe gemacht, die Titel der größten deutschen Talkshows mit den Titelthemen der rechtsradikalen Zeitschrift „Compact – Magazin für Souveränität“ zu vergleichen. Raten Sie mal, welche Überschrift von welchem Medium stammt:
„Wie politisch ist die Sprache? Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“
„Wozu brauchen wir noch ARD und ZDF?“
„Lachnummer SPD: Von der Volkspartei zur Kasperlebude.“
„Mächtig ohnmächtig? Wie geschwächt ist Angela Merkel?“
„Trump oder Putin – Vor wem müssen wir mehr Angst haben?“
„Bildungsmisere – Wollt ihr die totale Einheitsschule?“
„Kampfzone Klassenzimmer“
„Kalifat BRD – Feindliche Übernahme durch Erdogan und Co?“
„Islam ausgrenzen, Muslime integrieren – kann das funktionieren?“
„Chaos beim Asyl: Warum hat der Staat versagt?“ – Marietta Slomka
In diesen Formulierungen liegt bereits die Rhetorik des Populismus. Alles wird zugespitzt. Von vorne herein negativiert. Unmöglich gemacht.
Könnte es sein, dass unser mediales System den Populismus geradezu gezüchtet hat – im vermeintlichen Geiste des Kritischen?
Könnte es sein, dass es so etwas wie Polarisierungsunternehmer (Steffen Mau in der ZEIT) gibt, die aus unterschiedlichen Perspektiven – politischen, ökonomischen, aufmerksamkeitsheischenden – Ängste und Übertreibungen regelrecht bewirtschaften?
Was sich in der heutigen „Streitkultur“ auch zeigt, ist die Verwandlung des Bürgers zum Konsumenten, zum „Verbraucher“. Das Reklamationsdenken durchzieht viele gesellschaftliche Debatten. Wir fordern von der Politik, von „denen da oben“ mehr Sonderangebote, garantierte Dienstleistungen, sofortige Perfektion! Wenn nicht, werden wir sehr, sehr wütend!
„Genuss ist die letzte Instanz.
Verwöhntheit der Lebensmodus.
Quengelei ein legitimes Stilmittel.
Wut die latente Drohung.”
Die Semantik des Streits
Es gibt drei Arten von Streit:
– kindischen Streit,
– bösartigen Streit
– konstruktiven Streit
Und manchmal sogar: wunderbaren Streit.
Kindischer Streit ist der Streit um Nichts. Wenn Kinder sich gegenseitig Sand in die Augen schmeißen und dabei brüllen: „Du hast angefangen!“. Das erinnert an den Streit um die Gender-Sprache, oder „Darf man Winnetou verbieten?“. Das, worum gestritten wird, hat eigentlich keine Substanz. Aber es ist hochsymbolisch und wird zu einem Weltdeutungskrieg aufgebläht.
Bösartiger Streit nutzt die Trigger-Punkte, die sich im Meinungskrieg zeigen, um Keile in das Denken hineinzutreiben. Es geht um Umdeutung. Die Leute sollen so verzweifelt und verwirrt werden, dass sie jede Übersicht über die Zusammenhänge verlieren. Aus Faschismus wird so irgendwann Freiheit. Aus Unterdrückung Befreiung. Aus Demokraten, die die Verfassung schützen, werden „Feinde der Demokratie“, aus Wahrheiten „Fake News“ (die Trump-Putin-Methode; drehe einfach alles um, was einem selbst zu Recht vorgeworfen wird!).
Wer die Begriffe umdrehen kann, hat den Kognitiven Krieg gewonnen. Deshalb hat es keinen Sinn, mit bösartigen Populisten zu streiten.
Konstruktiver Streit ist hingegen immer verletzlicher Streit.
Konstruktiver Streit geht davon aus, dass es keine feststehenden Wahrheiten gibt. Dass die Wahr-Nehmungen, die wir von der Welt haben, ebenso im Fluss sind wie die Welt selbst. Deshalb sind wir auf ANDERE angewiesen, um unsere Anschauungen zu erweitern, unsere Differenzen zu differenzieren – und die Komplexität der Welt zu verstehen.
In einem konstruktiven Streit befragt sich jeder Teilnehmer beim Sprechen auch selbst: Kann man das nicht auch anders sehen? Der Streit hat nicht das Ziel, den anderen zu widerlegen, sondern mit ihm in eine Art Tanz einzutreten. Etwa so: „Ich finde, Sie benennen da einen wichtigen und richtigen Punkt. Ich möchte noch hinzufügen, dass… und daraus könnte man einen neuen Gedanken entwickeln, der …“
The test of a first-rate intelligence is the ability to hold two opposed ideas in the mind at the same time, and still retain the ability to function.
F. Scott Fitzgerald (1896 – 1940)
Ein Zeichen von Intelligenz ist es, zwei sich widersprechende Gedanken gleichzeitig im Kopf zu haben, und dabei funktionsfähig zu bleiben.
Um konstruktiv zu streiten, ist es wichtig, den Unterschied zwischen „Meinung“ und „Argument“ zu verstehen. Meinungen basieren überwiegend auf Affekten; sie werden „rausgehauen“ als Urteile, die man durchsetzen will, weil man wahrgenommen werden will. Meinungskriege sind prinzipiell narzisstisch. Argumente hingegen sind ergänzende ASPEKTE eines größeren Ganzen, das gemeinsam zu erforschen ist. Die Wurzel des Begriffs Argument liegt in argu „weiß sein, glänzen“, oder auch „Erhellung, wahrhafte Klärung“.
Licht in die Dinge bringen. Nicht Dunkelheit.
Dazu braucht es Feingefühl. Sorgfalt der Worte. Und vor allem: Beziehung untereinander.
Wenn all das gelingt, leuchtet manchmal durch den Streit das Licht der Zukunft. Wenn die Dinge sich auf überraschende Weise neu zusammenfügen, entsteht Lösung. Der Beginn der Lösung ist immer das Loslassen von verkrampften Gedanken. Von Konstrukten, die die Welt auf irgendein Prinzip reduziert, in das sie nicht reinpasst.
Zusammendenken oder Die letzte Provokation
Vielleicht müssen wir erst einmal aus dem Streitzirkus aussteigen.
Ich gehe nur noch zu Diskussionen, in denen über LÖSUNGEN gesprochen wird. Ich schalte sofort den Ton aus, wenn in einer Talkshow das übliche MIMIMI aufkommt. Ich habe schon vor Jahren die „sozialen Medien“ verlassen.
Ich höre auf, Texte zu lesen, in denen nur noch mit Schreckensworten operiert wird. Abstiegsangst, Wohlstandsverlust, Gasnotstand… Heute ist die Angstmache überall, auch auf dem Titelbild des SPIEGEL.
Die letzte Provokation, (provocare, lat. hervorrufen, herbeirufen), die uns in dieser Situation übrigbleibt, ist womöglich, etwas GUT zu finden.
Ich finde die Bemühungen der Regierung gut, unser Land durch die Krise(n) zu manövrieren. Dabei gibt es keine von vornherein „richtigen“ Maßnahmen. Echte Krisen erfordern immer ein Abwägen in Paradoxien, ein Navigieren im Ungewissen. Fehler werden gemacht, weil die Situation sehr komplex ist, nicht weil die Politiker „unfähig“ sind.
Ich finde Europa gut. Auch wenn ich nicht ALLES, was in Brüssel beschlossen wird, gutheißen muss (ich WEISS ja auch gar nicht alles, und WILL auch gar nicht alles wissen). Ohne Europa wären wir ziemlich aufgeschmissen, besonders jetzt.
Ich finde, dass es in allen Parteien, CDU und SPD und Liberalen und Grünen, sogar bei den Linken, gute Ideen und wunderbar engagierte Menschen gibt. Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, diese Ideen quer zu den alten Lagern zu realisieren. Vielleicht müssen wir uns endlich von diesen Links-Rechts-Rastern verabschieden, die Politik immer zu einer Art Kabuki-Theater machen (Kabuki ist ein altes hochritualisiertes Tanzspiel in Japan).
Ist das nicht das Experiment der Ampel-Koalition – die Aspekte des Politischen zusammenbringen? Ich finde, das verdient Kredit.
In einer komplexen Welt ist das Dagegen-Denken reaktionär. Wenn die Dinge auseinanderzufallen drohen, brauchen wir umso mehr einen Denkstil des Zusammendenkens.
Es geht darum, sich vom Entweder-Oder zu befreien.
Staat ODER Gesellschaft.
Wirtschaft ODER Ökologie.
Ich ODER wir.
Da ist zum Beispiel der dumme Streit um den „Verzicht“. Worum geht es dabei eigentlich? Man darf nichts „verbieten“, also darf jeder Fleisch Essen, SUV-fahren, frauenverachtende Lieder singen wie er will. Na gut. Aber es geht ja eigentlich gar nicht um Verbote. Erfahren wir nicht alle in unserem Leben, dass Verzicht auch oft eine positive Gegenseite hat – nämlich den Genuss? Wenn man auf das Rauchen verzichtet, kann man endlich wieder frei atmen. Wenn man weniger Fleisch ist, schmeckt alles viel besser. Warum also den Verzicht gegen die Freiheit auszuspielen, statt die Räume für konstruktiven Verzicht auszudehnen, mit denen es uns allen besser gehen kann?
Oder die Debatte „Waffen ODER Verhandlungen“? Soll man der Ukraine Waffen liefern oder Friedensverhandlungen versuchen? BEIDES ist notwendig. Diplomatie braucht allerdings Diskretion, und zum Verhandeln braucht man eine Verhandlungs-Position.
So einfach ist es, wenn man es zusammenbringt … statt es zu spalten.
Guter Streit soll, kann und muss uns klüger machen in Bezug auf unsere eigenen blind spots. Unsere Konstrukte, mit denen wir die Welt (und uns selbst) in Schubladen zu stecken versuchen. Auf der Website CHANGE MY VIEW kann man lernen, seine felsenfesten Sichtweisen, Ansichten, Gewissheiten zu verändern. Mit Hilfe von erfahrenen Moderatoren.
Sind – zum Beispiel – folgende Annahmen „wahr“ oder „richtig“?
Wir leben nicht in einer Simulation.
Ich will zu meinem Kind nicht über den Weihnachtsmann lügen.
Zoos sind unmoralisch.
Cannabis sollte legalisiert werden.
Digitalisierung ist prinzipiell gut.
Die Gesellschaft ist gespalten!
Versuchen Sie es einmal, Ihre Dogmen zu kitzeln. Im Hinterfragen lernen wir viel über die wahre Komplexität der Welt. Und etwas darüber, wie wahres Streiten – auch mit sich selbst – uns vorwärtsbringt. In die wahre Zukunft.
„You cannot imagine big shifts until they happen.“ Nelson Mandela
„Wir haben so viel.
Wir haben diese riesigen Wälder.
Wir haben unermesslich weite Felder.
Wir können die entferntesten Horizonte sehen.
Schauen Sie sich um. Schauen Sie!
Wir sollten Riesen sein. Das sind wir aber wahrlich nicht.“ Anton Tschechow, „Der Kirschgarten“, 1903
Ich werde derzeit manchmal gefragt, ob sich die Zukunft nicht als solche erledigt hat. Welchen Sinn machen Prognosen, Szenarien, Trends, wenn es gar keine Zukunft mehr gibt? Fallen wir, als Zivilisation, als ganze Menschheit, nicht immer wieder zurück in die Vergangenheit, ins Finstere, in Vernichtungslogik und aussichtslosen Konflikt?
Die Angst spricht: Es hat keinen Zweck, sich die Zukunft vorzustellen. Die Menschheit wird sich demnächst sowieso ausrotten. Sie ist lernunfähig.
Die falsche Hoffnung sagt: Es wird schon nicht so schlimm kommen. Machen wir Party, solange es geht! Und noch ein paar schöne Fotos auf Instagram…
Gibt es noch eine andere Haltung als den Doomsday-Zynismus oder die optimistische Ignoranz? Wie können wir die Zukunft bewahren? Darüber möchte ich mit Ihnen in dieser Kolumne nachdenken.
Das Paranoia-Prinzip oder die Rückkehr des Tyrannen
Warum kehren sie immer wieder zurück, die Despoten und Tyrannen, die mörderischen Diktaturen und monströsen Gewaltherrscher, die die Welt in Schutt und Asche legen?
Eine erste Antwort liegt in der Tiefen-Psychologie des Menschen.
Angst ist die stärkste und treibendste Kraft des Lebens. Sie kann uns vor Gefahren warnen, das ist ihre eigentliche Aufgabe. Aber sie kann auch von uns Besitz ergreifen – individuell und als Gruppe. Und zu einer Besessenheit werden, die in den Wahn führt.
Das nennt sich Paranoia. In der medizinischen Definition heißt es: „Menschen, die von einer Paranoia betroffen sind, sieht man dieses Leiden von außen nicht auf den ersten Blick an. Sie tragen eine große psychische Last, von der sie meist nur mit einem enormen Aufwand befreit werden können. Patientinnen und Patienten mit Paranoia werden von ihrem sozialen Umfeld häufig nicht verstanden, weil sie ein recht eigenwilliges Verhalten und Benehmen an den Tag legen.“ (krank.de)
Kommt uns das irgendwie bekannt vor?
In der Corona-Krise haben wir die ursprünglichen Formen jener Angstwut erlebt, die entsteht, wenn Menschen ihre Angst nicht aushalten und diese in dunklen Projektionen auf die Umwelt richten. Das führt zu Verschwörungstheorien und Weltanklagen. Zum Unglück der Verschwurbelung.
Derselbe Mechanismus kann aber auch viel weiter führen.
Paranoia ist gefährlich, weil sie ein selbstverstärkendes System ist. In der Paranoia werden die seelischen und emotionalen Verbindungen zur Welt Stück für Stück abgesprengt und durch innere Halluzinationen ersetzt. Das Hirn baut sich in eine Imaginationsmaschine zur Produktion von Feinden und Feindschaften um.
Zur Despotie wird die Paranoia, wenn sie in ein Resonanzfeld tiefer Kränkungen gerät. Russland hat in den Jahrhunderten unfassbare Schrecken erlebt: Eroberungen, Zerstörungen, Demütigungen. Immer wieder neue Despotien, missglückte Revolutionen ohne Befreiungen, in denen die Entfaltung der balance of power and life keine Chance hatte. Daraus entstanden langfristige Traumata, die kaum zu heilen sind. Und die dem Despotischen als Nährboden dienen.
Wir sind als Menschen Bewohner eines tiefen evolutionären Paradoxes aus Ich und Wir, Liebe und Hass, das sich manchmal in Richtung eines Todeskultes entwickelt. Der Neuro-Verhaltensforscher Robert Sapolsky schreibt in seinem Werk „Gewalt und Mitgefühl – Die Biologie des menschlichen Verhaltens“ (Hanser, 2017, S. 102):
„Wir nutzen die dopaminerge Energie des beglückenden Belohnungssystems, um uns für Arbeit zu motivieren, die erst nach unserem Tod belohnt wird. Das kann je nach Kultur, in der wir leben, auch die Gewissheit sein, dass die eigene Nation dem Sieg in einem Krieg näher sein wird, wenn wir unser Leben auf dem Schlachtfeld opfern.“
Oxytocin – die „menschliche Kuscheldroge“, die ausgeschüttet wird, wenn wir uns sozial und geborgen fühlen – erzeugt als Nebenwirkung Abneigung gegen Fremde – bis hin zur Feind-Seligkeit (ein treffendes Wort). Im Krieg wird der Hass auf die Anderen zum Verstärker der emphatischen Bindungen, die wir zu „unserem“ Kollektiv, unserem „tribe“ empfinden.
„The Goodness Paradox – How Evolution made us Both More and Less Violent. The Strange Relationsship between Virtue and Violence in Human Evolution.“ Richard Wrangham
Der Anthropologe Richard Wrangham hat den Begriff „Goodness-Paradox“ geprägt: Wir sind als Menschen grundlegend soziale Wesen, großzügige Kooperateure. Aber GERADE weil wir so emphatisch sind, kann unser Emotions-System leicht umschlagen in eine Selbst-Stabilisierung durch Hass.
Die meisten Morde geschehen aus verletzter Liebe.
Wenn der Höllen-Mechanismus aus Kränkung, Größenwahn und Opfermythos einmal in Gang gesetzt ist, ist er nur sehr schwer zu stoppen. Despotische Wahnsysteme erleben allerdings immer nur ein kurze Zeit der Blüte. Dann produzieren sie eine rasende dunkle Dynamik, die ihren eigenen Untergang erzeugt.
Muss der despotische Schrecken, die dunkle Gewalt, immer bis in den millionenfachen Tod führen? In den letzten Bunker, über dem die Trümmer der Welt zusammenstürzen?
Momentan sieht es so aus.
Aber es könnte auch anders kommen.
Die Zukunft ist auf eine schmerzliche Weise offen.
Level Up oder die Verschiebung der Ebenen
Die dunkle Stimme sagt: Wir sind wieder da angekommen, wo wir schon 1914 waren. Oder 1938. Kurz vor Hiroshima. Die Geschichte dreht sich im Kreis. Es gibt keinen Fortschritt. Wir sind verloren.
Die Hoffnung sagt: Vielleicht schauen wir nur nicht genau genug hin…
Wie reimt sich die Ukraine auf Polen 1939? Putin auf Hitler? Dürfen wir das vergleichen? Wir müssen sogar. Solche Vergleiche sind aber nur sinnvoll, wenn wir nicht nur die Parallelen wahrnehmen, sondern auch das, was anders ist.
Es fehlt in diesem schrecklichen Krieg zum Beispiel der Massen-Jubel. Als die kaiserliche Armee 1914 in die Schützengräben der Westfront zog, in den ersten großen (Selbst-)Vernichtungskrieg, säumten hysterische hutschwenkende Massen die Straßen. Zu Beginn der Nazi-Feldzüge gen Osten füllten grölende Kollektive die Sportstadien. Heute ist der Rote Platz leer, verödet, geschlossen von den dunklen Schatten der Omon-Einheiten. In den russischen Medien wird der Vernichtungskrieg zu einer kontrollierbaren „Spezialoperation“ umgelogen.
Je lauter man lügen muss, desto stärker wirkt die Wahrheit.
So gut wie niemand reagiert heute mit Kriegsgeschrei. Es ist die Empathie, die überwältigend den öffentlichen Diskurs bestimmt. Die Politiker reagieren maßvoll, zweifelnd, nachdenklich, sogar mit Weisheit.
Selbst in den Gesichtern, auch aus Kiew, sieht man eher wütende Liebe, nicht Hass.
Das angeblich so gespaltene und zersplitterte Europa fand sich in derart schnellen Schritten zusammen, dass man nur staunen konnte.
Wenn etwas Furchtbares passiert,
sollte man nicht daran zweifeln,
dass es furchtbar ist.
Aber man sollte sich auch anderswo umschauen.
Was passiert gerade sonst noch?
Auf der dramatischen UN-Sicherheitssitzung vom 26. Februar hielt Martin Kimani, Kenya’s UN-Botschafter eine Rede, in der er die Putin-Invasion verdammte. Er wies darauf hin, dass es in ganz Afrika kein einziges Land gibt, dessen Grenzen nicht von den Kolonisatoren bestimmt wurde – von kollabierenden alten Imperien. Gerade deshalb ist das Vertrauen in eine höhere Welt-Organisation wie die UNO existentiell „for the long way we all have to go and live as people and societies“.
Kurz darauf enthielt sich die chinesische Delegation, die sonst immer mit den Russen votieren, der Stimme. Immerhin.
Eine Woche später stimmte die UN-Vollversammlung mit einer nie da gewesenen Mehrheit von 141 Stimmen gegen Russland als Aggressor.
Der Zweite Weltkrieg brachte die UNO und die anderen internationalen Instanzen – Weltbank, UNESCO usw. – in ihrer heutigen Form hervor. Wir haben uns daran gewöhnt, diese Organisationen als ohnmächtig, bürokratisch und nutzlos zu verachten. Das könnte sich nun ändern. Große Konflikte verschieben die Bezugsrahmen der Lösungen in Richtung auf eine höhere Instanz.
Letztendes entscheidet China diesen mörderischen Konflikt. Es wird sich zeigen, ob der Konfuzianismus, die Denk- und Fühlweise Chinas, für die Zukunft der Welt Gewicht hat.
Konfuzius sagt: „Über das Ziel hinausschießen ist eben so schlimm, wie nicht ans Ziel kommen.“
Konfuzius sagt auch: „Wer nicht an die Zukunft denkt, wird bald Sorgen haben.“
Die wichtigsten Siege entstehen aus Niederlagen
Es lohnt sich, wieder Machiavelli zu lesen. Oder „Die Kunst des Krieges“ des chinesischen Kriegsgelehrten Sun Tsu (5. Jahrhundert v. Chr.). Putin hat das getan. Er ist Judo-Kämpfer und war Inhaber des Schwarzen Gürtels (der ihm jetzt aberkannt wurde). Er kennt sich aus mit organisierter Gewalt.
Er hat gelernt: Der erfolgreiche Kriegsherr definiert das Schlachtfeld, auf dem er siegen will, selbst. Er täuscht den Gegner (besonders wirksam bei leichtgläubigen Gegnern). Und zieht in die Schlacht, wenn alle Bedingungen für seinen Sieg optimal sind.
Allerdings hat Putin den Juristen, Skeptiker, Philosophen und Genussmenschen Michel de Montaigne (1533 – 1592) nicht gelesen. Der formulierte vor 500 Jahren: „Es gibt Niederlagen, die triumphaler sind als Siege.“
Putin wird diesen Krieg gewinnen.
Und gleichzeitig für immer verlieren.
Die Ukrainer leisten heldenhaft Widerstand. Sie werden letztendlich der puren Vernichtungs-Gewalt nichts entgegensetzen können. Putin arbeitet mit einer Methode, die die Amerikaner früher „Shock and Awe“ nannten. Awe heißt Ehrfurcht. Das hat auch schon in Vietnam und im Irak nicht funktioniert.
Sinnvoll wäre es, heroisch zu kapitulieren und Leben zu retten. Wenn möglich, mit freiem Geleit.
Eine riesige Ukraine unter russischen Stiefeln. Das Schweigen des Grabes. Eine russische Marionettenregierung. Jeder Tag würde die Tyrannis überdeutlich sichtbar, die Lüge entlarvt, der Usurpator geschwächt.
Putin hat verstanden, dass nur asymmetrische Kriegsführung gewinnt.
Wir auch.
Farbenrevolutionen oder der Wandel der Gesellschaft
In meiner Jugend in den 70er Jahren gab es noch SIEBEN Diktaturen in Europa. In Spanien war noch Franco an der Macht und brachte Oppositionelle mit der Garrotte um (dem „Würgeeisen“), als ich als 19-Jähriger nach Portugal trampte. Und in Lissabon die Nelkenrevolution erlebte. Auf dem Largo do Carmo, dem Platz der friedlichen Revolution im Zentrum Lissabons, steckten unfassbar gutaussehende junge Frauen und Männer rote Nelken in die Gewehrläufe der Soldaten. Das Militär-Regime zerbröselte in einem phantasievollen Aufstand, und ein Aufbruch der portugiesischen Gesellschaft begann, der bis heute nachwirkt.
Wieso war es damals möglich, Diktaturen mit symbolischen Gesten und Erotik in die Knie zu zwingen, während sie sich heute mit ungeheurer Brutalität einfach halten? Eine Antwort lautet: Die Tyrannen haben gelernt. Sie müssen mit aller Macht brutal zuschlagen, bevor es für sie endgültig zu spät ist. Es ist ihr letztes Gefecht.
Der Wendepunkt, der zu diesem Krieg führte, war der Maidan, jene Revolte im Zentrum von Kiew, auf das jetzt die Lenkwaffen und Panzerkolonnen gerichtet sind. Ja, ich weiß, da waren auch Neonazis dabei. Die meine ich nicht.
Putins konzentrierter Hass richtet sich auf die sogenannten Farbenrevolutionen. Kulturelle Erhebungen, die die Gesellschaft von Innen so verändern, dass sie sozusagen despotieunfähig werden. Die Kultur der Vielfalt und Toleranz, der individualisierten Gemeinschaft, ist der Wald, der unaufhörlich auf die Festungen der Tyrannen vorrückt. Wie heißt das so schön in Shakespeares Macbeth? Bote:
Als ich auf meinem Posten stand am Hügel,
Sah ich nach Birnam, und da däuchte mir,
Als ob der Wald anfing sich zu bewegen. Macbeth (fasst ihn wütend an):
Du Lügner und verdammter Bösewicht! Bote:
Herr, laßt mich Euren ganzen Grimm erfahren,
Wenn’s nicht so ist. Auf Meilenweite könnt Ihr ihn
Selbst kommen sehen. Wie ich sage, Herr!
Ein Wald, der wandelt! Macbeth:
Winkt ab, wendet sich ab.
Der Wald, der wandelt – das ist die Freiheit, die Vielfalt, die Ökologie. Die Nichtgewalt. Für eine neue russische Generation wird das Digitale, das Ökologische und Kreative, wichtiger sein als der nachträgliche Rache-Sieg im großen vaterländischen Krieg. Das weiß Putin, und deshalb muss er sich beeilen. Es entsteht eine Generation, die sich nicht mehr zum Marschieren und zur Gesellschaft der Arbeitslage eignet. Sein totalitärer Terror ist die Torschlusspanik vor jener Transformation, die auch die russische Gesellschaft verwandeln wird.
Früher oder später.
So, wie es aussieht: leider später.
In der jetzigen Situation brauchen wir Weisheit. Auch Lang-mut ist ein schönes Wort. Weisheit könnte zum Beispiel darin bestehen, die NATO aufzulösen. Nein, nicht im Sinne von Kapitulation. Sondern nach vorne, im Sinne eines neuen „frames“. Die Nato geht in ein neues weltweites Widerstands-Bündnis gegen Despotie, Diktatur und Tyrannei auf. The Human Force. Eine Allianz, die nicht mehr „westlich“ ist. Sondern östlich UND südlich UND nördlich. Global eben.
Entwaffnende Weisheit wäre, wenn Amerika seine eigenen interventionistischen Fehler öffentlich bereuen oder bedauern könnte.
Könnte es sein, dass dieser Krieg die Umweltbewegung, die postfossile Transformation, nicht schwächt sondern stärkt? Putin beendet das Ölzeitalter, indem er es auf seinen zerstörerischen Kern bringt. Der Putinismus führt die letzte Schlacht der Ära von Eisen, Öl und Kanonen, von formierbaren Massengesellschaften und Manipulationen, in denen Menschen nur Marionetten sind, Informationshülsen, die man nach Belieben „befüllen“ kann.
Wir brauchen jetzt Wasserstoff und Millionen Solaranlagen, schon allein um am Leben zu bleiben.
Könnte es sein, dass Putins Wahn den Trumpismus (den rechten Populismus) endgültig decodiert hat?
Alles schön gedacht, sagt die Angst. Aber dadurch endet der Terror nicht, die Gewalt wird nicht gestoppt.
Mal sehen, sagt die Zuversicht. Manchmal geht die Zukunft verschlungene Wege.
Optimismus ist nicht, wie das oft missverstanden wird, einfach der Glaube daran, „dass alles gut wird“. Wahrer Optimismus entsteht, wenn wir durch Verzweiflung und Ohnmacht hindurchgehen. Und am anderen Ende verwandelt herauskommen.
Eine wunderbare Definition von erwachsenen Optimismus stammt von Victor Havel, der gerade in Tschechien eine Renaissance erlebt:
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“
Viktor Frankl, der Philosoph und Psychiater, der das KZ überlebte und danach eine neue Schule der konstruktiven SINN-Psychologie gründete, formulierte:
„Wenn wir nicht mehr dazu in der Lage sind, eine Situation zu verändern, dann besteht die Herausforderung darin, uns selber zu verändern.“
Schwerelosigkeit
Neulich war ich in den Bergen, um tief Luft zu holen. In einer kristallklaren Nacht sah ich über den schneebedeckten Gipfeln der Salzburger Alpen einen kleinen hellen Punkt über den Himmel ziehen. Die Internationale Space Station, immer noch der einzige Vorposten der Menschheit im Weltall.
Auf der ISS – verfolgbar unter www.isstracker.com – wohnen derzeit vier Amerikaner, ein Deutscher und zwei Russen, Anton Shkaplero und Pyotr Dubrov. Soweit wir derzeit wissen, hält sich der Frieden dort oben recht gut. Man scherzt miteinander beim Frühstück, das man wegen der Schwerelosigkeit durch Schläuche einnimmt.
Jetzt in diesen Zeiten muss ich oft an den wunderbaren schwerelosen Unsinn denken, den meine Generation, die Babyboomer, vor einem halben Jahrhundert angestellt haben. Als 1969 Menschen auf dem Mond landeten und The Blue Marble als Bild am Horizont stand – der blaue Planet in der Schwärze des Alls –, schien der Sinnzusammenhang der Zukunft plötzlich ganz klar. Es entstand etwas Drittes, nach oben Weisendes, im damaligen Blockkonflikt zwischen „Kapitalismus“ und „Kommunismus“. Eine Vertikale in die Zukunft. Der Aufruhr der romantischen Gefühle von Freiheit, Selbstbestimmung und Schönheit. Die Friedensbewegungen. Die Energie von Rock’n‘ Roll und später Techno. Die Umweltbewegung. Ein großer mental-gesellschaftlicher Wandel, der um die Welt ging.
Heute weiß ich, dass wir uns auf eine neue Wirklichkeit zu einigen versuchten. Die Wirklichkeit des Blauen Planeten.
Menschen sind Wirklichkeits-Konstrukteure. Wir können uns auf veränderte Umwelten einrichten. Unser Hirn ist in der Lage, die Muster und Meme, die uns mit der Welt, mit den Anderen verbinden, adaptiv zu verändern.
Das ist die Großartigkeit des Menschen.
Wie der nackte John Lennon auf dem Bett liegt und „Imagine“ singt. Wie scheinbar naiv das war, wie schwerelos! In Wirklichkeit war es GROSS. Es erinnert irgendwie an die überirdische Energie von Selenskyj.
Jetzt ist es Zeit, diese Energien zu reaktivieren.
Es ist Zeit für einen neuen Humanismus, der aufhört, herumzujammern.
Vielleicht müssen wir selbst zu Aliens werden, um auf die Erde zurückzukehren.
Nachwort: Future Loop
In der Symbolik archaischer Kulturen – im Altägyptischen, aber auch in der vedischen, nordischen und chinesischen Mythologie – gibt es ein Symbol für die Selbstvertilgung der Welt. Der Ouroboros, der Verschlinger, der Selbstverzehrer, der sich in den Schwanz beißt. Gern genutzt als Tattoo-Motiv. Das Bildsymbol eines in sich geschlossenen und unendlichen Zyklus, der in der Entropie enden muss.
Gegen diese Symbolik setzten wir in der systemischen Prognostik den Future Loop. Zukunft entsteht in diesem Modell aus einer rekursiven Dynamik, in der das Neue durch das Alte „gekrümmt“ wird, und sich dabei auf eine neue Ebene transformiert. Aus einem dynamischen Gleichgewicht entwickelt sich durch einen Krisenprozess ein neues dynamisches Gleichgewicht. Fortschritt, als höhere Komplexität, entsteht in kleinen Schritten, manchmal aber auch in großen Sprüngen – in einer endlosen, nach oben offenen Schleifen-Dynamik.
Alles kehrt wieder, aber ANDERS.
Durch Krisen bewährt sich das aufkeimende Neue.
Der Schmerz ist der Begleiter des Fortschritts.
Der Treiber des langfristig komplexen Trends.
Komplexität ist die Überwindung des Paradoxes.
Die Integration auf einer höheren Ebene.