17 – Das Tromsø-Phänomen

Was hat Dunkelheit mit der Zukunft zu tun?
Eine ganze Menge…

Oktober 2017

By Svein-Magne Tunli – tunliweb.no (own work), via Wikimedia Commons

Die herbstliche Zeitumstellung erinnert uns daran, dass jetzt die dunkle Zeit kommt. Unweigerlich neigt sich die Sonne dem Horizont zu und die Zeitschriften sind voll von Tips, wie man „die depressive Jahreszeit übersteht”. Depressiv? Klar, in der Über-Optimierungs-Kultur ist alles, was nicht dem Optimum entspricht, ein Riesenproblem. Ein Menetekel. Der Zeitgeist der Hysterisierung ist unentwegt auf der Suche nach Gefahren. Am Ende werden wir alle sterben, wenn nicht an Terrorismus, Neoliberalismus, Separatismus oder Islamismus womöglich an der Dunkelkrankheit.

Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die etwas über die innere Konsistenz unserer Zukunfts-Erwartung aussagt. Sie spielt in Tromsø, Europas nördlichster „Großstadt” (nun ja, 75.000 Einwohner). Dort ist es praktisch ab jetzt, Anfang November, rund um die Uhr radikal dunkel. Die Sonne meldet sich, wenn überhaupt, als schwacher Schein am Horizont. Müssen Tromsøs Einwohner nicht ein massives Depressions-Problem haben? Licht wirkt ja, wie zahlreiche Studien festgestellt haben, direkt auf unser Serotonin-System, auf die Stimmungs-Substanzen in unserem Hirn. Haben die Skandinavier nicht sowieso erhöhte Selbstmordraten? MUSS man da nicht um die Gesundheit der Nordbewohner besorgt sein (wie Anne Will fragen würde)?

Kari Leibowitz, eine junge Stanford-Psychologin, zog im Winter 2015/16 in diese Stadt am Rande des Polarkreises und untersuchte genau diesen den „Winter­blues”. Dabei nutzte sie Erkenntnisse der Psychologie-Professorin Alia Crum, die sich mit den inneren Einstellungen von Menschen, den mindsets, beschäftigt. Mindsets sind Erwartungsbilder, Narrative, mit denen Menschen ihre Umwelt und die Zukunft wahrnehmen. Mit Hilfe von stress mindset measure entwickelte Leibowitz eine „Wie hältst du es mit dem Winter?”-Skala.

Die Befragten konnten auf einer Skala wählen zwischen „Es gibt viele Aspekte am Winter, an denen man sich erfreuen kann” oder „Ich finde die Wintermonate dunkel und deprimierend und versuche, so viel wie möglich wegzufahren.”

Erstaunlicherweise sahen viele Tromsø-Bewohner die Dunkelheit überhaupt nicht als „Problem”. Sie nahmen sie noch nicht einmal als „dunkel” wahr! Sondern im Gegenteil als eine Jahreszeit des Lichts! Im Winter legt man in Tromsø viele Strecken auf Skiern zurück, treibt Sport, schaut gemeinsam Filme und rückt sozial zusammen. Und feiert das Leben. Das Feuer in all seinen Varianten, von Kerzen bis Fackeln bis Kino, spielt eine besondere Rolle.

Im Januar gibt es in Tromsø ein großes internationales Filmfestival, das trotz Nullgraden teilweise im Freien stattfindet.„Als der November kam, waren Cafés und Restaurants, die heimischen Wohnzimmer und sogar der Arbeitsplatz von Kerzen erleuchtet. Im Laufe der folgenden Monate konnte ich mit eigenen, staunenden Augen sehen, dass die Polarnacht keineswegs absolute Dunkelheit bedeutete, sondern viel­mehr eine Zeit voller bunter Farben und weichem, indirektem Licht war.”, schreibt Leibowitz in ihrem Bericht.

Die Geschichte erzählt uns etwas von der Adaptivität des Menschen – und unserer inneren Freiheit. Die Tromsøer können dem Winter seine besten Seiten abgewinnen, weil sie ihren MIND – ihre inneren Erwartungs-Gefühle – in eine Form der BEJAHUNG gebracht haben. Statt am Problem entlangzujammern („Es ist viel zu dunkel!”) gestalten sie ihre Wirklichkeit entlang von Möglichkeiten. Dieser „Possibilismus” – im Gegensatz zu Optimismus und Pessimismus – ist schöpferisch, weil er die Welt im wahrsten Sinn des Wortes in neues Licht taucht. Licht wird im Dunklen erst schön!

„Paying attention to what we are paying attention!”
Wenn wir das Rauschen der medialen Angstmachmaschine abschalten, wachen wir in einer Wirklichkeit auf, in der die konkreten Beziehungen zwischen den Menschen wieder wichtig werden. Die Realität kehrt zurück – als formbare Wirklichkeit, in der wir etwas bewirken können. Das ist das Gegenteil des „Postfaktischen”: Wir gehen zurück ins Lebendige. Dabei geht es nicht um Abwendung oder Ignoranz der Weltverhältnisse, sondern um die Wieder­gewinnung der inneren Deutungsmacht.

„Wenn wir innerlich blind sind, lassen wir zu, dass die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft dominiert.” – in diesem Satz der Kognitionspsychologin Ellen Langer, die vor 25 Jahren den Begriff der „Mindfulness” – Achtsamkeit – erfand, konzentriert sich die Krankheit unserer Zeit. Aber jetzt kann man spüren, wie die Stimmung kippt. Immer mehr Menschen lassen sich nicht mehr ängstigen von der Angst, mit der uns das mediale System rund um die Uhr überfüttert. Es gibt einen fühlbaren Widerstand gegen den Hysterisierungs-Drang, der uns rund um die Uhr am Zappeln halten will, gegen immer neue monströse Gefahren, Über­treibungen und Verdächtigungen, Vermutungen über das Drohende und Dramatisierungen von einzelnen Problemen.

Immer mehr Menschen verlassen die Stressfelder der Übermedialisierung. Facebook verliert zum ersten Mal User. Smartphones werden heruntergefahren. Bücher wieder in die Hand genommen. Selbst Trump und die AFD werden endlich egal – womöglich die beste Methode, wie wir sie bekämpfen können!

Sybille Berg hat diese antihysterische Resistenz sehr poetisch in ihrem SPIEGEL-Blog unter der Zeile „Keine Angst vor der Dunkelheit” beschrieben. Ich darf zitieren:

„Winterfasten, die Angst relativieren, die Nervosität runterfahren, das exponentielle Wachstum wachsen lassen…
Das Netz ist immer noch ausgeschaltet, also die dunkle Seite des Netzes. Die Irre­machende. Tee. Gutes Licht. Bücher.
Oder Menschen treffen, Menschen, reale Menschen. Nett zu den Menschen sein, die man trifft. Menschenzeug machen, Kino, Singen, Sport, Tofu grillen, auf dem Sofa liegen, ins Dunkle sehen, sich freuen, dass es Menschen gibt, reale, die in Ordnung sind, und nicht irgendwelche Verbrecher, die man nicht kennt, irgendwo im Netz, die vielleicht nicht existieren, oder auch auf einem Sofa liegen und ins Dunkel sehen. So könnte das gehen, mit der Dunkelheit. So könnte eine Entmistung des Gehirnes funktionieren.”

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