38 – Meine Lieblings-Futuristen

Hat ein Zukunftsforscher eigentlich Kollegen, Freunde in der eigenen Profession? Andere Futuristen, mit denen ihn etwas verbindet – geistige Nähe, ähnliche Gedanken, gleiche Theorien? Nun gibt es ja nicht allzu viele Menschen, die sich selbst als Zukunftsforscher (oder »Futuristen«) bezeichnen. Deshalb gibt es auch keinen Zukunftsforscher-Club, oder gar eine Organisation (übrigens kann man Zukunftsforschung, »future studies«, an einigen Universitäten studieren, zum Beispiel in Kapstadt und Honolulu, auch an der Humboldt-Universität zu Berlin gibt es einen Kurs).

Aber habe in meinem Leben schon einige Kollegen aus dem Prognose Business getroffen, mit denen mich eine Geistesverwandtschaft verbindet. John Naisbitt, der »Erfinder« der Megatrends gehört dazu, ein Amerikaner mit europäischen Wurzeln, mit seiner Analyse der großen Strömungen, der Megatrends, eine wichtige UNTERSCHEIDUNG in die Prognostik einführte. Die Unterscheidung von zufälligen, marginalen Phänomenen (»Trendtrends«) und wahrhaftigen Tiefenströmungen. John hatte den Mut, noch im Alter von über 70 nach China auszuwandern und seine Megatrends auf das Reich der Mitte zu beziehen.

Auch die ziemlich schräge New Yorker Trendforscherin Faith Popcorn, die in den Neunzigern einen weltweiten Ruhm durch ihre »namings« von Sozio-Phänomenen wie »Cocooning« oder »Clanning« erlangte, hat mich schwer beeindruckt. Ganz gut finde ich Kevin Kelly, einen unermüdlichen Hippie im Futur, der die Zukunft irgendwie so behandelt wie eine psychedelische Droge, an der man sich berauschen kann. Großartig auch der immer sehr amerikanisch aufgeregte Jeremy Rifkin, der mit seinen humanistischen Thesen und Weltmodellen immer ein bisschen idealistisch danebenliegt. Aber uns gerade deshalb unseren FUTURE MIND herauskitzelt.

Mein Lieblings-Futurist ist Stewart Brand. Obwohl ich ihn nie persönlich getroffen habe, erscheint er mir sehr vertraut. Stewart ist kein Zukunftsforscher, sondern ein Zukunftsmacher. Ein Bewusstseinsarbeiter. Er unterscheidet sich von anderen Vertretern unseres seltenen Gewerbes durch eine bestimmte Art der Leichtfüßigkeit und Ironie. Auch in Bezug auf sich selbst. Das vermeidet die größte Gefahr: den futuristischen Fanatismus.

Stewart startete, wie ich, als politischer Aktivist in der Hippie-Zeit. Mit dem Blick nach oben, ins unermesslich Weite. Seine erste öffentliche Kampagne galt 1970 einem Bild, dem »Earthrise«-Foto der NASA, dem ersten vom Mond aus geschossenen Bild der GANZEN Erde. Stewart Brand wusste um die bewusstseinsveränderte Bedeutung dieses Fotos und zettelte eine Kampagne gegen die NASA zur Freigabe des Copyrights an. Auf der ersten Ausgabe des »Whole Earth« Kataloges, des Versandhandel-Kataloges der Hippie-Kultur (ein Vorläufer von Google), prangte dieses Bild. Ein wunderbares Spiel mit Symbolen, die Wirklichkeiten schaffen.

Später gründete Stewart die Zeitschrift CO-EVOLUTION und dann die erste Online-Community, THE WELL, verließ das Netz aber wieder als es sich zu sehr kommerzialisierte. Um die Jahrtausendwende startete er ein neues magisches Projekt: The Clock of the Long Now. Es ging um den Bau einer hochkomplexen mechanischen Uhr, die zehntausend Jahre lang die Zeit ansagen, beziehungsweise mit einem wandelnden Ton »ansingen« soll. Ein analoges Statement gegen die Idee, dass alles unbedingt immer schneller und digitaler werden muss. Die Uhr existiert inzwischen in mehreren Prototypen, sie TICKT einmal im Jahr.

Wir sind als Menschheit SO weit gekommen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Das ist ein ziemlich gutes Zeichen, dass wir auch weiterhin weiterkommen können. Stay hungry, stay foolish.
Stewart Brand

Stewart Brand war immer ein bisschen ein Ketzer im eigenen Lager. Wie ich ist er ein Vertreter von Gegentrends, ein Bewunderer von Komplexität, Evolutionstheorie und Systemdenken. Er ist humanistischer Futurist. In einem zeitlosen Alter um die 80 lebt er heute auf einem Boot. In den letzten Jahren hat er ein bisschen provoziert, indem er für neue Formen der Atomkraft und der Gentechnik plädierte. Nun gut, da kann man verschiedener Meinung sein. Aber genau darum geht es ja: Dass man sich nicht mit sich selbst verwechselt. Oder mit dem, was man irgendwann mal zu glauben glaubte.

Einer seiner bekanntesten Slogans: „We are as gods and might as well get good at it.“
Das klingt ein bisschen großspurig, ist aber ganz bescheiden gemeint. Stewart ist Meister einer ganz zarten, fast zen-artigen »Zukunfts-Poesie«.
Hier zwei Beispiele.:

In einem System Kleinigkeiten zu ändern
Ist nicht nur die effizienteste Art
Es in eine interessante Richtung zu bewegen
Sondern auch die sicherste
Denn wenn du versuchst
Es komplett zu drehen
Dreht es gerne mal durch
Aber wenn du nur
Eine kleine Schraube bewegst
Wird es sich verwandeln.

oder:

Es ist sinnvoll und realistisch
sich eine Zivilisation als etwas vorzustellen
das gleichzeitig in verschiedenen
Geschwindigkeiten funktioniert.
Mode und Handel verändern sich schnell
Wie es sein soll.
Natur und Kultur ändern sich langsam.
Wie es sein soll.
Infrastruktur und Politik begleiten beides
in einem mittleren Tempo.
Aber weil wir uns vor allem auf die
sich schnell verändernden
Elemente konzentrieren
vergessen wir die wahre Kraft
in den Sphären der langsamen, tiefen
Veränderung.

Und dann ist da noch Evgeny Morozov. Er ist kein Futurist im eigentlichen Sinne, eher ein Zukunfts-Kritiker. Aber er hat mit uns TRENDforschern (der Nebenberuf des Zukunftsforschers) gemein, dass er BEGRIFFE erfinden kann, die in die Zukunft weisen.

Einer seiner »Wordings« ist das schöne SOLUTIONISMUS.

Das steht für den Wahn, ständig neue Lösungen für eigentlich nicht existente Probleme zu erfinden. Morozov beschreibt damit zum Beispiel eine wildgewordene digitale Technologie, die alles unentwegt digitalisieren und »verappen« muss, obwohl der reale menschliche Bedarf für manche dieser »Problemlösungen« eher gering ist.

Das zweite schöne Trendwort, dass er erfunden hat, ist TECHNO-POPULISMUS.

Hier einige Zeilen aus seinem Text dazu:

Von sämtlichen Ideologien, die das Silicon Valley hervorgebracht hat, ist der Technopopulismus die absonderlichste. Es sind leere Versprechungen, die auf digitaler Disruption seismischen Ausmaßes beruhen und es schaffen, dass sich politische Kräfte davon angesprochen fühlen, die ansonsten kaum einen gemeinsamen Nenner finden. Globalisten und Anti-Globalisten etwa, Nationalisten und Progressive. Mit dem Versprechen einer Welt der unmittelbaren und schmerzfreien persönlichen Selbstermächtigung ist der Begriff schwammig genug, um große Technologieunternehmen, Start-ups, Kryptowährungs-Aficionados und selbst die eine oder andere politische Partei zu vereinigen.

Das genaue Datum, an dem der Techno-Populismus Mainstream wurde, geht zurück in das Jahr 2006, als das Time Magazine »You« zur »Person des Jahres« kürte, also all jene Millionen, die hinter dem nutzergenerierten Web der Nullerjahre standen. Damit wurden techno-populistische Themen tief in unser kollektives Unbewusstsein eingemeißelt.

Heute – im Jahr 2018 – ist der omnipotente, kreative User von 2006 zu einem zombieähnlichen Content-Junkie verkommen, süchtig danach, ständig und überall zu scrollen und zu liken, für immer und ewig gefangen in den unsichtbaren Käfigen der Datenbroker. Der ehrenwerte Versuch, jeden von uns zu einem Ehrenmitglied des innersten Zirkels der kulturellen Elite zu machen, hat uns stattdessen alle in die unauslöschlichen Listen der Cambridge Analytica verdammt…

Das ist natürlich reine Polemik. Aber trotzdem gut. Lassen wir uns ruhig provozieren, um den richtigen Weg in die Zukunft zu finden. Evgeny Morozov spricht auf dem diesjährigen FUTURE DAY am 25. Juni in Frankfurt/Main. Es geht dieses Jahr um den futuristischen REALITY CHECK:

  • Was haben wir als Prognostiker kommen sehen, wo lagen wir daneben?
  • Welche Modelle und Denkweisen sind nützlich, um die Zukunft REALISTISCH zu sehen?
  • Wie setzt man das alles UM?

Ich hoffe, Sie dort zu sehen: https://futureday.network/
Ihr Matthias Horx