47 – Corona: Eine Resilienz-Übung

Was man vom Virus über die Zukunft erfahren kann

Gibt es eine Möglichkeit, anders mit der globalen Corona-Epidemie umzugehen als in den Reflexen von Angst (Panik!) oder reiner Beschwichtigung? Versuchen wir es. Machen wir eine kleine historisch-futuristische Übung.

Zunächst erinnert uns das Coronavirus (oder COVID-19) an etwas, was wir in einer hochtechnischen Zivilisation gerne verdrängen. Wir sind Teil der Natur. So sehr wir uns auch von der Welt des Organischen distanzieren, wir leben mit dem Biom der Erde in einer dynamischen Co-Evolution. Viren und Bakterien besiedeln unseren Körper inwendig und auswendig, so sehr wir uns auch schrubben und sterilisieren – ohne sie könnten wir gar nicht existieren. Die Mitochondrien, die Energiekraftwerke unserer Zellen, sind vor hunderten von Millionen Jahren aus der DNA von Mikroorganismen entstanden. Wir sind symbiotische Wesen; erschaffen aus dem gigantischen Pool der DNA auf dem Planeten Erde.

Das kränkt natürlich unser Autonomiebedürfnis. Manchmal wünschen wir uns deshalb, sterile Maschinen zu sein, die sich um das ganze biologische Gewimmel und Gewusel nicht scheren müssen. Das erklärt einen Großteil unserer Faszination mit Roboter-Existenzen und Künstlicher Intelligenz.

Das Leben aber geht seinen eigenen Weg. Es mutiert und adaptiert und baut um. Wo sehr viele Genome – von Hunden, Katzen, Schlangen, Vögeln, Reptilien – in nahen Kontakt geraten, wie etwa auf chinesischen Märkten, sind die Mutationsraten hoch. Viren sind Überlebensmaschinen auf organischer Basis, und sie suchen ihre Chance – wie wir.

Das COVID-19-Virus ist im Grunde nur eine weitere Variante der Grippe. Es ist nicht im Entferntesten so tödlich wie Ebola oder andere »Killer-Keime«, man denke an die »geschärften« Bakterien aus den Krankenhäusern. Eine echte Innovation ist jedoch die Selektivität des Virus. Eine Grippe macht alle Betroffenen gleich krank, COVID aber sucht sich die Alten und Schwachen heraus, bei Kindern und Jugendlichen gibt es oft noch nicht mal Symptome. Es scheint auch unscharf zu bleiben, wie lange eine Infektion braucht, und ab wann die Infizierten ansteckend sind. Das ist – aus der Sicht des Virus – ziemlich raffiniert, denn diese Varianz macht es schwierig, die Infektion zu unterbrechen. Der Virus hat sein Verhalten sozusagen an eine individualisierte Gesellschaft angepasst und sich dabei getarnt. Ziemlich schlau – im Sinne der evolutionären Fitness.

Der Sinn von Seuchen

Epidemien haben Millionen Menschenleben frühzeitig beendet. Sie waren, unter bestimmten Umständen, Massenkiller, was dann aber ihre Ausbreitung schnell begrenzte. Denn ein Keim, der seinen Wirt schnell tötet, hat keine echte Zukunftsperspektive. Gleichzeitig haben die Keime unser humanes Immunsystem aufgebaut, trainiert und immer weiter verfeinert. Es gibt Biologen, die sogar das menschliche Bewusstsein, die Größe unseres Hirns, auf diese ständige Wechselwirkung zurückführen. Wer unserer Vorfahren Infektionen überlebte oder gar nicht erst erkrankte, pflanzte sich fort, und »verankerte« seine Immun-Fähigkeiten und Resilienzen im menschlichen Erbgut. So setzten sich diejenigen durch, die über höhere organische Resilienz verfügten. Survival of the fittest Immune System.

Epidemien sind ein Produkt von Massengesellschaften, sie plagen den Menschen seit der Sesshaftigkeit, also seit rund 10.000 Jahren. Nomadische Jäger und Sammler sind oft die gesündesten Menschen – allerdings nur, wenn sie nicht mit »Fremdkeimen« konfrontiert werden, gegen die ihr Immunsystem hilflos ist. Das besiegelte das Schicksal der Inkas und vieler anderer indigener Stämme. Womöglich entwickelten sich schon in der Steinzeit Formen von sozialer Absonderung, von Quarantäne, als Reaktion auf Infektionsgefahren. Sozialtechniken von Askese und engem Gruppenbezug im Kontext von Religionen könnten also auch etwas mit Keimabwehr zu tun haben. So schufen Krankheiten womöglich gesellschaftliche Differenzierungen, Verfeinerungen von Kultur.

Als im Mittelalter die Pest die Anzahl der europäischen Bevölkerung in manchen Regionen bis auf die Hälfte reduzierte, führte dies zu einer ganzen Kaskade sozialer Innovationen. Die Idee des Privatlebens setzte sich durch und gleichzeitig entstanden Formen gesteuerter Migration, weil die Fürsten Ersatz für den Bevölkerungsverlust suchten. Hatte es zum Höhepunkt der Pest die klassischen Symptome von Hass-Paranoia und Sündenbock-Suche gegeben – zum Beispiel Hexenverbrennung und Judenhass – entstanden im Nachgang der Epidemie neue Toleranzen. Wo ganze Landstriche entvölkert waren, brauchte man Arbeitskräfte, »Bevölkerung«. Auch die Pest war eine Zoonose, die von Tieren (Ratten und Flöhen) auf Menschen übersprang – und sie erzwang Kulturformen der Hygiene. Dort, wo man Kanalisation, Badekultur und Sanitärwesen vorantrieb, konnten die großen Epidemien schneller bewältigt werden, auch Typhus und Cholera konnten so zurückgedrängt werden. Der Kampf gegen die Keime mündete schließlich in den bahnbrechenden Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften um 1900, dem Wissen um Sepsis, Viren und Bakterien, der das Spiel Mensch/Virus auf eine neue Stufe brachte.

So ist »Zivilisation« eben auch ein Resultat gelungener Seuchenbekämpfung – und gleichzeitig ihre Voraussetzung. Die meisten Opfer forderten Infektionen immer in Situationen, in denen sich soziale Strukturen zugunsten von Massen-Chaos auflösten. Die Spanische Grippe, die am Ende des ersten Weltkriegs weltweit 50 Millionen Opfer forderte, zeigte, wie sich Viren und Bakterien an die »Verhältnisse« anpassen können – sie »schärfen« ihre Mortalität, wenn sie auf ein unbegrenzt verfügbares organisches Reservoir stoßen, auf Menschenmassen ohne Abwehrkräfte. Viren sind adaptiv – aber das sind auch die menschlichen Sozialformen, die denselben evolutionären Gesetzen von Mutation, Selektion und Adaption folgen.

Das Zeitalter der Meta-Kooperation

Erstaunlich ist zunächst, dass wir in einem Zeitalter des globalen Massentransports leben, aber sich dennoch in den letzten 50 Jahren keine größere Pandemie herausgebildet hat (mit EINER Ausnahme, dazu gleich mehr). Vier Milliarden Menschen sitzen jährlich in Flugzeugen auf engstem Raum zusammen und dennoch hat sich noch kein echter planetarer »Killerkeim« entwickelt. Die Ursache könnte auch darin liegen, dass unsere Immunsysteme heute andere sind als früher. Besser trainiert, variabler aufgestellt. Allerdings sind sie auch »gestresster«. Während wir nur noch Soy-Latte schlürfen und auf Erdnüsse allergisch reagieren, arbeitet unser Immunsystem auf Hochtouren, um mit der ganzen Keim-Diversität fertigzuwerden. Auch Viren und Bakterien sind längst multikulturell.

Eine Ausnahme war die AIDS-Epidemie. Sie verbreitete sich nur in intimen Kontakten, wählte also einen globalen Verbreitungsweg, der SO vorher nicht existierte. AIDS verlief völlig anders, als in den pessimistischen Prognosen vorausgesagt – ich kann mich noch an die Weltuntergangsstimmung und die Schlagzeilen in den 80-er Jahren erinnern. Doch AIDS führte weder zum Niedergang von Sex noch zu einer verschärften Stigmatisierung von Homosexuellen, sondern auf verquere Weise zum genauen Gegenteil. Die steigende Toleranz gegenüber Homosexualität und das erstaunliche Mitgefühl mit den Infizierten (Ausnahmen bestätigen die Regel) war ein Triumph der Aufklärung. Ein Erfolg, der selten gewürdigt wird, der aber etwas über die Paradoxialität erzählt, in der sich Werte- und Kulturnormen verändern. Neben Genen verbreiten sich auch MEME – kulturelle Codes – in der globalen Gesellschaft. Auch Toleranz und Solidarität wirken manchmal ansteckend.

Der Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014 hat gezeigt, dass die globalen Gesundheits-Institutionen durchaus in der Lage sind, schnelle Interventionen bei regionalen Krisen zu organisieren. Hans Rosling, der Große Meister der globalen Statistik beschreibt in seiner Biographie „Wie ich lernte, die Welt zu verstehen”, wie dieses erstaunliche Ergebnis zustande kam. Wenn es darauf ankommt sind Menschen durchaus in der Lage, Solidarität über Grenzen hinweg zu organisieren. Auf diesen »kooperativen Egoismus« kann man in Richtung Zukunft besser vertrauen als der Hoffnung auf reine Selbstlosigkeit.

So erzeugt die globale Seuchengefahr womöglich einen neuen integrativen Globalisierungs-Effekt. Ähnlich wie die Weltraumfahrt, die die Menschheit auf einer höheren Ebene symbolisch vereint (Der »Overview-Effekt«), spielen Pandemien die Rolle einer Menschheits-Vereinigungs-Instanz. Vor dem Virus sind wir alle gleich. Wie Aliens können Keime die menschlichen Streit-Kräfte vereinen.

Der Corona-Virus wirkt also wie ein großes sozialevolutionäres Experiment. Eine Übung in globaler Resilienz und Zusammenarbeit. In diesem Experiment wird getestet, welche sozialen Kooperationsformen sich bewähren und die besten Antworten gegen die Mikroben-Welt entwickeln. China hat nach einem ersten Versuch der Ignoranz seine mächtige kollektive Kompetenz bewiesen – Rigorosität kann manchmal sinnvoll und human sein. Aber diese Erfahrung wird China auch SELBST verändern. In China wird es keine Wochenmärkte des alten Stils mehr geben, davon kann man ausgehen. Und auch die Frage einer bürger-kooperativen Informationspolitik wird auf dem Tisch bleiben. Singapur und Hongkong haben durch effiziente Organisationsformen die Seuche konsequent bekämpft – obwohl diese Stadtstaaten eine enorme Menschendichte aufweisen, gab es bislang kaum Todesopfer. Südkorea versucht sich in Digital-Methoden, scheitert aber teilweise im Kulturellen. Generell stellt der Virus auch die digitale Frage neu: Haben uns die Auguren der Künstlichen Intelligenz nicht immer wahre Wunderwerke versprochen, wenn es um die Entwicklung neuer Medikamente geht? Also her mit dem Impfstoff! Oder sind am Ende soziale Antworten doch besser als technologische?

Im Iran hat COVID-19 den Bruch zwischen despotischer Herrschaft und Bürgern weiter verbreitert. In Italien ist die Lage widersprüchlich – manche Beobachter sprechen aber von einem Solidaritäts-Effekt, der die inneren Spaltungen überbrückt. In Deutschland ist endlich eine Meta-Debatte um die hysterische Überzeichnung von Gefahren entstanden. Hinter der Virus-Angst kulminieren viele andere Ängste: Wohlstands-Angst, Fremden-Angst, Versagens-Angst, soziale Paranoia in allen Varianten. Unweigerlich wird hier magisches Denken aktualisiert, Schuld- und Strafbereitschaft. Haben „wir uns an der Natur versündigt, die jetzt zurückschlägt?”

Epidemien bieten jedoch auch einen Erfahrungsraum für das Gegenteil. Der Stillstand, der durch Seuchen entsteht, hat eine erfrischende Gegenseite. Wir erfahren Entschleunigungen, erleben, dass nicht alles gleich zusammenbricht, wenn einmal Großveranstaltungen ausbleiben oder die ewige Flut der Waren stockt. Wenn nicht alles immerzu rennt und hastet, werden neue Kommunikationsformen ermöglicht. Wie auch beim Ausbruch des Isländischen Vulkans Eyjafjallajökull vor zehn Jahren, als die globale Zivilisation auch »zusammenbrach«, aber sich plötzlich Menschen begegneten, die sich sonst nie begegnet wären. Und Island der größte Touristenboom aller Zeiten beschert wurde.

Ausgerechnet Gesundheitskrisen bergen kulturelle Heilungspotentiale. Wir erleben uns als verletzlich, aber auch auf einer neuen Ebene gleich. Erfolgreich sind in dieser Entwicklung jene Gesellschaften die a) vertrauensvoll kooperieren können und b) denen es gelingt ihre Ängste und Paniküberschüsse zu moderieren. So bildet sich ein neuer evolutionärer Selektor für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft aus. Erfolgreich und gewinnend sind diejenigen, die sich Risiken selbstbewusst entgegenstellen, ohne gleich die Nerven zu verlieren. Darin liegt eine Weisheit des menschlichen Kultursystems. Das Immunsystem des Gesellschaftlichen kann durch Krisen wachsen.

Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte mit erheblichem Heiterkeits-Effekt, wenn Donald Trump ausgerechnet am Corona-Virus scheitern würde. Das behauptet der US-amerikanische Nationalökonom Nouriel Roubini, der die Finanzkrise von 2009 ziemlich präzise prognostizierte. Trumps Wiederwahl, so Roubini, ist schon verloren, weil Trump die Corona-Infektion verharmloste. Populisten dürfen alles, aber nicht die Grandiositäts-Illusion ihrer Anhänger beschädigen. Wenn in den USA die Börsen zusammenklappen und das US-Gesundheitssystem sich als dysfunktional und überfordert herausstellt, wird aus dem Ballon Trump die Luft herausgelassen – pffff. Wenn das tatsächlich so käme (ich glaube allerdings nicht so ganz daran), wäre das eine interessante Pirouette der Weltgeschichte – und eine lehrreiche Erzählung über das wahre Wesen des Wandels.