56 – Das Blaue Leuchten

Warum wir in der Ökologie einen Neuanfang des Denkens brauchen

Biolumineszentes Meeresleuchten durch den Einzeller Noctiluca scintillans / Foto: Wikimedia Commons

Handele stets so, dass neue Möglichkeiten entstehen.
Heinz von Foerster

M

itten in der Corona-Krise veröffentlichte der amerikanische Umwelt- und Sozial-Aktivist Michael Moore seinen neuen Dokumentarfilm „Planet of Humans“ auf YouTube. Der Titel verweist auf „Planet of the Apes“, jene düstere Sci-Fi-Serie, in dem die Affen die Weltherrschaft übernehmen. Und sich die Menschheit durch eine Superbombe selbst auslöscht.

Moores Zwei-Stunden-Doku-Drama beleuchtet den Weg ins ökologische Desaster in düsteren Bildern. Dräuende Musik, zerstörte Landschaften – wir kennen das aus tausend anderen Global-Warming Filmen. Im Zentrum von „Planet of Humans” stehen aber nicht die Bedrohungen, sondern die Vergeblichkeiten. Es geht um umweltfreundlichere Fake-Produkte, kaputte Windturbinen, Kraftwerke, die nur Greenwashing sind. Um „Ökokapitalisten”, die den Planeten nur noch weiter zerstören. Die Grundaussage des Films: Alle Bemühungen, die Katastrophe zu verhindern sind nur Betrug und Selbstbetrug. Alternative Energien, umweltfreundlicher Konsum? Quatsch. Es ist alles längst zu spät.

Am Anfang des Films wird eine Frage an Passanten auf der Straße gestellt: „Wie lange, glauben Sie, HAT die Menschheit noch?”
„Hmm. 10 Jahre, höchstens.”
„Vielleicht 40 Jahre, wenn’s hoch kommt. Alles ist doch längst fucked up.”
„Wir sind doch wie Kakerlaken auf der Erde!”

Nur eine ältere, grauhaarige Dame sagt: „Wir sind hier für eine lange Zeit. Aber klar, wir werden uns ändern!”
Sie wirkt irgendwie fehl in diesem Film, mit ihrer resoluten Zuversicht. In Moores Untergangs-Dramaturgie hat die Hoffnung keine Chance.
„Planet of Humans“ bekam viele Links und Likes von den harten Alt-Rights, den Klima-Leugnern und Trump-Fans. Motto: Endlich sagt mal ein Linker, dass der ganze Öko-Kram nur QUATSCH ist!

Ist wirklich alles längst zu spät?
Schauen wir uns nun eine dieser fantastischen Natur-Dokumentationen an, die in 4K-Breitbild die überirdische Schönheit der irdischen Natur zeigen. Mit dramatischer Musik fliegt die Kamera über Millionen Gazellen in der afrikanischen Savanne, träumt sich hinein in blaue Atolle. Tintenfische tanzen, Erdmännchen balzen, tausende Wale tummeln sich im Meer. Der blaue Planet. Die wunderbare Erde. Der Tanz des Lebens im Kosmos.

Wie passt das zusammen?
In welcher Wirklichkeit leben wir tatsächlich?
Nein, diese Bilder grandioser Natur sind nicht am Computer generiert. Sie sind REAL News, nicht Fake News. Aber warum wirken sie trotzdem irreal – wie eine Fälschung?
Es ist womöglich die Endzeitlichkeit selbst, die diesen irrationalen Überschuss in unserem Hirn erzeugt. Man könnte das die »Abschiedsverstärkung« nennen. Wir kennen das, wenn wir das Gefühl des letzten Mals erleben: Zum letzten Mal betreten wir ein Haus, in dem wir gelebt haben. Ein letztes Mal sehen wir auf die Hügel unserer Kindheit, den Urlaubsort, zu dem wir nie mehr zurückkehren werden. Dann wird es VORBEI sein. Die Elefanten, so sagen es uns die älteren Herren mit ihrer sonoren Stimme (von Attenborough bis Lesch), werden bald nicht mehr über die Savanne ziehen. Die Wale sind am Aussterben. Diese kleinen schönen Käfer wird es demnächst nicht mehr geben.

Endzeitlichkeit verbindet uns in einer ganz besonderen Art und Weise mit der Welt. Das Vergehende, oder vermeintlich Vergehende, konfrontiert uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit, unserer Existentialität. Dadurch können wir uns plötzlich wieder intensiv spüren.

Halten wir einen Moment inne.
Was wäre, wenn es sich bei der „Großen Anzunehmenden Untergangsgeschichte”, dem ökologischen GAU, dem Aus-Sterben der Natur, nicht um »Wirklichkeit« handelt. Sondern um einen Mythos, eine Story, ein KONSTRUKT?
Stellen wir uns vor, die Natur, die Erde, KÖNNTE gar nicht »sterben«. Oder »untergehen«. Auch der – unbestreitbare – Klimawandel wird nicht das Ende der Menschheit bringen.
Natürlich ist das ein riskanter Gedanke. Es provoziert sofort Aggression im Sinne des Loyalitäts-Effektes: Auf welcher Seite stehst Du eigentlich? Willst Du verharmlosen? Die Gefahren leugnen?

Natürlich ist all das REAL: Die Plastikstrudel in den Weltmeeren. Die Waldbrände in Kalifornien. Die Müllkippen in Afrika, auf denen Kinder in giftigen elektronischen Geräten stochern.
Wir sollten allerdings wissen, dass die Art und Weise, mit der wir Wirklichkeit konstruieren, eine »Wahr-Nehmung« ist.
Von entscheidender Voraussetzung ist dabei, wie wir mit Angst umgehen. Ob wir Angst erleben, oder ob wir zu ihr werden.

Corona hat gezeigt, dass Angst vor Katastrophen in bestimmten Situationen sinnvoll und produktiv sein kann. Sie kann zu hilfreichen Verhaltensänderungen führen – genau das ist ihr evolutionärer Sinn. Als innerlich erstarrte Form führt die Ängstigung jedoch leicht zu »mindfucks«, zu Verwechslungen von Schein und Wirklichkeit. Wir können dann nur noch in eine Richtung denken – Richtung Abgrund.

Fatalismus, maskiert als Realismus, ist eine Form der Kapitulation, die jene Trends verstärkt, die ihn erzeugen.
Eileen Christ, Ökologin

Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass man sich in ein Problem narrativ so verstricken kann, dass es durch die Art und Weise, wie es betrachtet und (kulturell, sozial, mental) prozessiert wird, unmöglich wird, es zu lösen. Dann brütet der „collective mind“ Hoffnungslosigkeit aus. Wir starren in eine falsche, verengte Zukunft, von der wir nicht mehr loskommen.

Im Jahr 1973, ich machte damals gerade Abitur, kam einer der ersten großen dystopischen Science-Fiction-Filme in die Kinos. Soylent Green – das Jahr 2022 … die überleben wollen, mit Charlton Heston in der Haupttrolle als New Yorker Polizist.

In »Soylent Green« gibt es eine gespenstische, hochsymbolische Szene. Ein alter Mann lässt sich auf sanfte Weise »euthanasieren«. Er wählt den Freitod, weil er »überflüssig« geworden ist. 50 Milliarden Menschen leben auf der übervölkerten Erde. Alles ist ein einziger Slum, der von bewaffneten Kräften unter Kontrolle gehalten wird. Während er »freiwillig« stirbt, werden Bilder der wundervollen Erde »wie sie früher war« an die Wände projiziert. Wogende Blumenfelder. Korallenriffe. Zebraherden. Dazu ertönt auf magisch-schwebende Weise Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Mit solchen starken Dystopien bin ich aufwachsen. Sind wir alle aufgewachsen. Die Grundannahme lautet, dass »der Mensch«, die humane Zivilisation, eine Art Schimmelpilz auf dem Planeten ist, eine Seuche, die sich immer weiter ausbreitet. Ein Verwüstungs-Virus.

Es ist womöglich kein Zufall, dass sich die Vorstellung der »Bevölkerungsexplosion« hartnäckig in sehr linken UND in sehr rechten Kreisen hält. Das Spektrum reicht von den »Preppers«, die sich mit Gewehr und Benzinkanistern auf die Endzeit vorbereiten, bis zu den ökologischen Antinatalisten, die die Geburtenrate zwangsweise verringern oder gleich ganz auf Null bringen wollen.

Aber eigentlich das ist gar nicht nötig. Die Welt-Geburtenrate ist seit Jahrzehnten weltweit zurückgegangen, sie liegt heute bei 2,35, nur noch wenig über der Reproduktions-Ausgleichsrate von 2,1 – bei dieser Zahl würde sich die Weltbevölkerung stabilisieren. Und trotzdem ist das alte Paradigma der globalen »Überbevölkerung« allgegenwärtig. Ein reaktionär-ökologisches Angstmuster. Das führt zu fatalen Engführungen unseres Zukunftsbildes. Und es füttert, nebenbei, den Rassismus.

Siehe die Arbeiten zur Weltpopulation von Wolfgang Lutz, oder z.B. diese neue Studie, nach der der »Human Peak« bereits bei 9,7 Milliarden Menschen im Jahr 2065 stattfinden wird: www.thelancet.com

Was wäre, wenn die ökologische Untergangsvision nichts anderes ist als eine Selbstabwertung, eine Selbst-Verwerfung des Menschen in einem tiefen Schuldverhältnis zu sich selbst?

Das Knappheits-Paradigma

Unser modernes Umwelt-Verständnis entstand aus drei weltanschaulichen Basis-Ideologien: Die erste ist die Natur als »heile«, ja heilige Welt, sozusagen als »die Welt an sich«. Darin spiegeln sich alte religiöse Muster, Ursprungs-Mythen, die nicht nur im Christentum eine Rolle spielen. Vor dem »Sündenfall« lagen im Paradies Lamm und Löwe friedlich nebeneinander – bis das sündhafte Verhalten der Menschen für Chaos sorgte. Naturromantik ist heute das vorherrschende Naturverständnis, was man schon erfährt, wenn man urbane Freunde in seinen Garten einlädt („Gehts Deinem Gemüse auch wirklich gut?”).

Das zweite Dogma des Ökologischen ist die Knappheit. »Die Welt« wird als ein geschlossenes System beschrieben, in dem strenge Limitierungen herrschen. Moleküle, Energien, Rohstoffe sind »endlich«, und ihre Nutzung ist von der Idee des Verbrauchs dominiert. Wenn man einen Rohstoff nutzt, ist er danach WEG – verschwunden, vernichtet. Natur wird auf diese Weise als eine Art Not-System verstanden, in dem man leicht durchfallen kann. Politik wird so zu einem reinen Verteilungs- und Zuteilungs-Projekt; die Zukunft ist Rationierung.

Die Weltmodelle des Club of Rome, dessen legendärer Bestseller „Die Grenzen des Wachstums” das grüne Denken formte, basierten auf solchen Modellen der Umwelt als Rationierung. In allen Club-Of-Rome-Szenarien steht die Menschheit immer vor dem unweigerlichen Kollaps. Egal, was »wir« tun, selbst wenn wir alle aufhören würden, Fleisch zu essen und Auto zu fahren – es würde niemals reichen.

Warum die Club-of-Rome Modelle an vielen Stellen unterkomplex waren, kann man etwa in diesem Artikel von Brian Hayes lesen: www.spektrum.de

Aber ist die Erde wirklich ein geschlossenes System? Ein Raumschiff, wie das immer beschrieben wird?
Wenn wir duschen – wird das Wasser, dass wir dann nutzen, eigentlich verbraucht?

Die dritte Dimension des Ökologischen ist die Schuld. Haben wir nicht ständig ein schlechtes Gewissen? Schon wenn wir ins Auto steigen, begehen wir eine Sünde, kaum haben wir einen Supermarkt betreten, beteiligen wir uns an Ausrottungsfeldzügen… Es gibt kein Entkommen aus der Ewigen-Fußabdruck-Schuld, die mit unserer puren EXISTENZ verbunden ist.
Schuld und Scham bringen uns allerdings in Richtung auf echten Wandel kaum voran. Im Gegenteil. Diese Gefühle wurden von der Evolution als soziale Selbstregulierungs-Formen in kleinen, überschaubaren Gruppen »erfunden«. In großen Gesellschaften, die hypervernetzt kommunizieren, werden sie leicht zu Machtinstrumenten und Waffen in Deutungskriegen. Es geht darum, wer dem anderen ein schlechtes Gewissen machen kann. Das führt zur Selbstbeschämung, verbunden mit Vermeidungs-Hysterien aller Art. Oder in jene Kaskade von »Sündenstolz«, in der wir alles, was mit dem Ökologischen zu tun hat, aggressiv leugnen und abwerten.

Die Fülle

Machen wir ein Gedankenexperiment. Es schließt an die »Miracle Question« an, die in der konstruktiven Psychologie genutzt wird (nach der amerikanischen Psychologin Linda Metcalfe). Dabei wird eine Lösung eines Problems simuliert, um an die wahren inneren Motive für dieses Problem heranzukommen (für Kenner: hier liegt die psychologische Grundlage der Re-Gnose). Die Frage lautet so:
„Wenn das Problem, an dem Du leidest, durch ein Wunder über Nacht gelöst wäre – wie würdest Du Dich dann fühlen?”

Hier also der Wunder-Satz der Ökologie:

Stellen Sie sich vor, dass die Rohstoffe der Erde unendlich wären, Biomasse in endloser Fülle generiert werden kann, die Erde das fünffache der heutigen Erdbevölkerung ernähren kann und nichtfossile Energie der Menschheit in beliebigen Kapazitäten zur Verfügung steht.

Vollkommen irre, oder?
Aber nehmen Sie diesen Satz einfach mal so an:
Wie würde sich dann Ihr Verhalten ändern?
Würden Sie sofort ein noch fetteres Auto kaufen?
Noch viel mehr Fleisch essen?

Wenn wir aus der Fülle heraus denken (oder fühlen) realisieren wir, dass unsere ökologischen Ängste oft Übertragungsängste sind.
Übergewicht – oder Überkonsum – ist nicht das Resultat von Gier. Sondern von Angst. Wir essen zu viel, weil wir damit einen anderen, tieferen, seelischen Mangel kompensieren. Wir werden nicht satt, und deshalb stopfen wir uns voll. Aber gleichzeitig werden wir gleich wieder schrecklich hungrig, weil uns das Satte ja nicht dort satt macht, wo wir wirklich darben.
Die einzige Weise, Über-Konsum zu überwinden, ist der Genuss. Genuss besteht darin, dass wir Fülle erleben. Im Genuss werden wir satt, indem wir unsere innere Fülle ver-wirklichen.

„Wenn wir uns eine Welt vorstellen, in der überhaupt keine Ressourcen mehr verschwendet würden”, so schrieb neulich eine große deutsche Wochenzeitung, „dann sähen wir vor uns, wie Menschen in naturbelassenen Kleidern in selbstgepflückte Biofrüchte beißen, auf selbstrecycelten Fahrrädern ihre Ferienreise nur ins nächstgelegene Mittelgebirge machen; und zum Einkaufen gehen sie, wenn sie überhaupt etwas einkaufen, mit einer zehn Jahre alten, selbstgeflickten Tasche aus heimischem Hanf… Etwas Neues kommt nicht mehr, weil nämlich für alles Neue auch neue Ressourcen erschlossen werden müssten.”

Das ist natürlich bösartig. Aber es trifft den Kern einer Debatte, die sich im Kreis dreht. Die »grüne« Ökologie hat bis heute keine stimmige Vision der Erweiterung entwickelt. Das ökologische Denken hängt immer noch fest in linear-industriellen Metaphern, in angstbasierten Verlustängsten. In Straf-Phantasien und Vermeidungs-Strategien.

„Nichts ist mächtiger, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist”, sagte Victor Hugo. Für jede neue Ära, jede echte Transformation, benötigen wir ein neues Zukunfts-Narrativ. Einen Mindset, der die kognitiven Muster, mit denen wir bislang die Welt betrachteten, ins Zukünftige auflöst.
Wie sagte Yuval Noah Harari so schön? „Es kommt nicht darauf an, was wir in Zukunft nicht dürfen. Es kommt darauf an, was wir werden wollen.”

Die Blaue Ökologie begreift Ökologie nicht als Zwang zum Verzicht, sondern als lustvolle Befreiung vom schädlichen Zuviel.

Die Kraft der Narrative

Es mag wahr sein, was Michael Moore und viele andere behaupten: Es existiert ein dunkles Kartell aus Ölfirmen, Konzernen, Lobbys, korrupten rechten Politikern, die mit allen Mitteln versuchen, die fossile Weltordnung aufrecht zu erhalten. Aber was folgt daraus? Dieses Kartell ist ja längst brüchig. Angeschlagen. Es franst an den Rändern aus. Umso mehr es unter gesellschaftlichen Druck gerät, umso mehr neigt es zu verzweifelten, lügenhaften Strategien. Trump, Bolsonaro und Co. sind das letzte Gefecht eines fossilen Denkens und Handelns, das keine Zukunft hat, und sich deshalb selbst zerstören wird. Die amerikanische Gesellschaft, die mit ihren exzessiven Konsumismus, ihrem Super-Size-Heroismus viele Jahrzehnte die »Leitkultur« des Planeten bildete, wird sich dabei neu erfinden. Ein neues Narrativ, einen wahren Traum entwickeln. Davon bin ich überzeugt.

In allen großen Epochenwechseln, vom Jäger- und Sammler-Zeitalter über die Agrargesellschaft bis in die Industriegesellschaft, erwiesen sich die alten Verhältnisse zunächst als überwältigend zäh, als unüberwindbar. Die ersten Bauernkulturen lebten kärger und kürzer als die Nomadenstämme, die vorher hunderttausende von Jahren die Erde bevölkerten. Bis die ersten blühenden Stadtkulturen der Antike entstanden, mussten unzählige Ruinen im Staub versinken.

„Während der kleinen Eiszeit (ca. 1570 bis 1700) konnten sich die damaligen Gesellschaften erst an die neuen Verhältnisse anpassen, als sie begannen, andere Bilder im Kopf zu haben, und aus ihnen heraus anders zu handeln.” schreibt der Historiker Phillip Blom, (Das große Welttheater, S. 55).

Die Antike schlägt die Verbindung des Göttlichen mit dem Menschen. Die Renaissance setzte den Menschen in den Mittelpunkt und entwickelte das Schöpferische. Die Neuzeit, die Aufklärung, verband die Idee der Freiheit mit dem technischen Fortschritt. Das Merkmal solcher Zukunfts-Skripte ist, dass sie eine alte Spaltung zugunsten einer neuen Synthese auflösen.
Das ist das Gegenteil von Dystopie, die in unseren Vorstellungen aus der Entropie entsteht.

Die blaue Ökologie – eine neue Komplexitäts-Erzählung

Nennen wir es das BLAUE Zeitalter.
BLAU steht für den Blauen Planeten, die Farbe der Erde aus dem Weltraum gesehen.
BLAU steht für Technologie, für Vision, den weiten Blick.
Im Unterschied zur GRÜNEN Ökologie, die auf Verzicht und Reduktion setzt, ist BLAUE Ökologie eine Ökologie der Fülle:

  • BLAUE Ökologie sieht Technologie nicht als Feind der Natur. Allerdings unterscheidet sich diese deutlich vom Maschinenzeitalter, in dem »Entfesselung« und lokale Effizienz im Vordergrund stand. Es geht nun um Integration: Zwischen Prozessen, Systemen, Materie/Molekülen, und den wahren menschlichen Bedürfnissen, die immer soziale Bedürfnisse sind.
  • BLAUER Fortschritt ist, das sollten wir nicht vergessen, zum größten Teil eine Ingenieursleistung.
  • BLAUE Ökologie denkt nicht biologistisch, sondern synergististisch. Dabei verschwinden Stück für Stück die verbleibenden Knappheiten.
  • BLAUE Ökologie glaubt nicht an die abstrakten Erlösungsversprechen des Digitalismus. Aber sie nutzt die Instrumente des Digitalen, um jene informellen Rückkoppelungen herzustellen, die auch die natürlichen Prozesse auszeichnen – das »biomische« Prinzip.
  • BLAUE Ökologie sucht nicht primär die Konfrontation mit »Umweltfeinden«. Das Neue kann nur gewinnen, wenn das Bessere sichtbar wird. Sie formt vielmehr Allianzen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur; möglichst ALLER Akteure der modernen Gesellschaft.
  • BLAUE Ökologie erkennt dabei die Autonomiefortschritte an, die durch die Industrialisierung entstanden sind. Trotz aller Zerstörung hat die fossile Produktionsweise Zuwächse menschlicher Autonomie mit sich gebracht, die wir wertschätzen sollten.

Es gibt keinen Weg zurück, nur ein Tasten nach Vorne. Vom Mehr ins Bessere.

Die Regnose der Ökologie

Machen wir also ein RE-GNOSE-Experiment.
Versetzen wir uns nach 2050. Die Menschheit feiert in diesem Jahr den Sieg über die Erderhitzung. Zu Neujahr gibt es ein traumhaftes biodynamisches Feuerwerk in allen Städten. Der globale CO2– Ausstoß ist unter die 10-Prozent-Marke gefallen; außer einigen kleinen »Rogue States« haben die großen Nationen und Kulturen die postfossile Transformation vollbracht. Neue Techniken erlauben es, einen Teil des atmosphärischen Carbons in Senken und Absorptionsprozesse umzuleiten (etwa Regenerative Agrikultur, Carbon-Positive Städte). Die Erderwärmung hat sich in einem Bereich von etwa 2 Grad eingependelt – ja, es hat extreme Wetterphänomene gegeben, auch Migrationen, aber alles in allem hat sich die menschliche Zivilisation als erstaunlich adaptiv herausgestellt.

Wie haben wir das geschafft?

Zuerst waren es die europäischen Nationen, die in den 20er Jahren kräftige Fortschritte in der CO2-Reduktion erzielen konnten. Die Ziele der EU bis 2030, die 60-Prozent-Verminderung, wurde sogar übertroffen. Das überraschte viele, aber vor allem war es das Ergebnis eines Positionierung-Vorteils, den sich Europa in der neuen multipolaren Weltordnung verschafften musste. Dieser Vorsprung erzeugte einen neuen globalen Konkurrenz-Zyklus. China erreichte den Carbon Output Peak bereits 2025 – und war mächtig stolz darauf. In den USA löste der krachende Fall von Trump eine Groß-Offensive in Richtung BLUE SYSTEMS aus – was die Vormachtstellung des Silicon Valley beendete. Die arabischen Länder investierten alles, was sie fossil angehäuft hatten, in »Blue-Smart-Tech«; in der Wüste entstanden ganze autarke Riesenstädte.
Im Jahr 2026 wurde »Carbon Peak«, der höchste jährliche globale CO2-Ausstoss erreicht – nur einen winzigen Wert höher als die 37 Gigatonnen, die den Höchstlevel vor der Coronakrise markierten.
Es begann ein Rennen um die Wasserstoffwirtschaft. Ein gewaltiger Boom im Bereich Hyperbatterien, Power-to-Gas, Dynamic Storage, Carbon Planting. Innerhalb weniger Jahre finanzierte keine Bank mehr Öl- oder Gasfirmen. Es gelang sogar, den Problemstoff CO2 direkt zu nutzen. Ende der 20er Jahre wurden Häuser und Straßen aus Carbon-Derivaten gebaut, es gab sogar CO2-LEBENSMITTEL. Und selbstverständlich flogen Flugzeuge ab 2027 mit Synfuels, made of CO2.
Sie halten dieses Szenario für völlig unmöglich?
Sind Sie sicher?
Siehe: Einige Hoffnungsbotschaften

Willkommen im Humanozän

In den Deutungs-Medien wird derzeit der Beginn einer endzeitlichen Epoche beschworen: Des Anthropozäns. Der Mensch übernimmt den Planeten und richtet ihn dabei zugrunde. Aus dem Weltall sind diese Aktivitäten in den Lichtclustern der Städte sichtbar, die sich wie ein leuchtendendes Netz um den Globus ziehen: Zeichen der dämonischen Macht unserer Spezies, die sich wie ein »Krebsgeschwür« über den Planeten ausgebreitet hat…

Ich möchte dieser deprimierenden Erzählung eine andere gegenüberstellen.
Was, wenn »wir«, die humane Zivilisation, selbst NATUR wären?
Wenn die leuchtenden Bänder der Städte aus dem Weltraum Zeichen der Lebendigkeit wären?
Die Story andauernder Evolution erzählten?
Wir, die Menschen, sind tatsächlich »Terraformer«. Wir formen den Planeten Erde. Dafür brauchen wir nicht den Mars. Schon die Blaualgen, die »Erfinder« des Sauerstoffs, haben vor einer Milliarde Jahren den Planeten verändert. Die Dinosaurier haben nicht nur Landschaften geprägt, sondern auch das Klima beeinflusst. Wir verändern den Planeten, durch Technologie, Stoffwechsel, unsere Lebensweise, wie anderen Organismen auf dem Planeten das tun.

Wir sind mit dem Planeten, mit der Fülle der Natur, durch »Interbeing« verbunden, wie der amerikanische Ökologe Charles Eisenstein diese tiefe Bindung zwischen Mensch und Planet nennt (siehe Literatur).

Der Resonanz-Philosoph Hartmut Rosa beschreibt das so:

„Demgegenüber wäre ein mediopassives Naturverhältnis eines, in dem menschliche Akteure mit dem, was sie als Natur erfahren, in einem anhaltenden, dynamischen Antwortverhältnis verbunden sind: Sie formen es, und sie werden durch es geformt – so, dass sich das Wesentliche in einem fortwährenden Austauschprozess dazwischen ereignet. An die Stelle der Haltung des Beherrschens und Nutzens träte eine Haltung des Hörens und Antwortens, die eben nicht meint: Höre auf die Natur und folge ihr, sondern die auf eine eigenständige Antwort auf das Gehörte vertraut.”

Menschen entwickeln nicht nur Zerstörung. Sie sind auch Agenten der Diversität. Wir erschaffen Kulturlandschaften, in denen neue Komplexität entsteht. Wir animieren durch Züchtungen Evolutionsprozesse. Wir können Natur bis zu einem gewissen Grad moderieren, so wie wir auch Städte, Musikpartituren und Spaghetti-Bolognese-Rezepte umgestalten können. Wie wäre es, wenn wir mit unserer Selbstabwertung als Schmarotzer, als Schädlinge aufhören würden? Und stattdessen in unsere humane Verantwortung hineinwachsen?
Was wäre, wenn wir uns selbst im Humanozän willkommen heißen würden?

Lassen wir uns durch das BLAUE LEUCHTEN verzaubern. Ist es nicht eine wunderbare technische Leistung, wie der Einzeller Noctiluca scintillans in manchen Nächten Meereswellen zum Leuchten bringt?

Im Jahr 1984 sah ich im Kino „Das Grüne Leuchten”, einen Film des französischen Regisseurs Eric Rohmer. Es unfassbar langsamer, romantischer Film, der heute nicht mehr gedreht werden würde. Die schüchterne Delphine, die sich nicht für die Liebe entscheiden kann, trifft in einem Urlaub am Meer einen jungen Mann. Sie beobachtet mit ihm den Sonnenuntergang. Wird beim letzten Strahl der Sonne ein grüner Schein zu sehen sein wie es Jules Vernes in seinem fantastischen Roman „Der Grüne Strahl” (1885) beschrieb?
Dieses Wunder wird allerdings nur sichtbar, wenn man in der Zuversicht lebt.
Wenn man seiner selbst sicher wird.

Big green flash / Foto: Wikimedia Commons

Wie wäre es, wenn wir uns in eine bessere Zukunft verlieben?

Vier Paradigmen der Blauen Ökologie

  • Moleküle sind auf der Erde weder selten noch knapp. Das Periodensystem ermöglicht eine unendliche Fülle molekularer Reaktionen, und selbst wenn man Öl verbrennt, »verbrennt« man es nicht, sondern spaltet es in seine Atome auf. Selbst die seltenen Erden sind nicht »endlich«. Denn hier gilt das Gesetz des lukrativen Recyclings: Wenn bestimmte Moleküle begehrt werden, lohnt es sich, sie wiederzuverwerten, oder sie chemisch zu ersetzen. Knappheiten existieren, aber sie entstehen vor allem aus Allokationsproblemen, die sich mit der wachsenden Vernetzung der Welt mildern lassen.
  • Die Sonne, dieser ziemlich gut funktionierende Fusionsreaktor, bringt uns jeden Tag hunderttausendfach mal MHER Energie auf die Erde, als wir für unsere Zivilisation benötigen. Neue technische Methoden können uns zudem Proteine jeder beliebigen Menge bringen. (Siehe Firmen-Beispiele).
  • Es gibt keinen »Müll«, sondern nur Moleküle am falschen Ort. Gülle im Grundwasser, Nitrat im Boden, Plastik im Meer, CO2 in der Luft, das sind Fehl-Allokationen. Das jeweilige Molekül selbst kann woanders womöglich Segen wirken. In intelligenten Kreislaufsystemen entsteht aus dem Substrat alter Dinge BESSERES. Das nennt sich UPCYCLING und ist die Grundidee der Zirkulären Ökonomie (Cradle-to-Cradle-Wirtschaft).
  • Natur ist nicht Harmonie, sondern dynamische Selbstorganisation, in der immerzu Überschüsse und überschießende Komplexitäten entstehen. Natur kennt keine Knappheit, sondern nur Intelligente Verschwendung.

Literatur

  • Michael Braungart: Intelligente Verschwendung, The Upcycle, Oekom Verlag
  • Andre McAfee, More from Less, Simon & Schuster
  • Charles Eisenstein. Climate – A New Story, North Atlantic Books
  • Timothy Morton, Ökologisch sein, Mathes und Seitz, Berlin
  • Derrell Bricker, John Ibbitson: Empty Planet. The Shock of Global Population Decline, Crown, New York
  • Gregg Easterbrook, A Moment on the Earth, Viking-Verlag
  • Jonathan Porritt, The World we Made, Phaidon
  • Johann Norberg, Progress. Ten reasons to look forward to the Future, Onewold Verlag
  • Peter H. Diamandis, Stephen Kotler, Überfluss, Die Zukunft ist besser, als Sie denken., Plassen
  • Bernd Scherer und Jürgen Renn: Das Anthropozän, Zum Stand der Dinge, Matthes & Seitz

Einige BLAUE ÖKOLOGIE-Firmen

  • Elonroad: Stromschienen für E-Autos zum dynamischen Laden BEIM Fahren.
    elonroad.com
  • Lillium: Das Unternehmen für elektrische Flug-Mobilität
    lilium.com
  • MUD: Zirkuläre Leasing-Bio-Recycling-Jeans in allen Schnitten und Farben
    mudjeans.eu
  • Solar Foods: Grundnahrungsmittel aus CO2
    solarfoods.fi
  • Northvolt in Schweden: Eine Fabrik für CO2-freie Batterieproduktion für die Elektromobilität
    northvolt.com
  • Vortex: Windturbinen ohne Flügel
    vortexbladeless.com

Einige Hoffnungsbotschaften (nur ein Ausschnitt)

  • Frankfurter Allgemeine: Erneuerbare erstmals vorn
    Die Erneuerbaren stehen im EU-weiten Strommix vor fossilen Energieträgern wie Kohle und Gas – zum ersten Mal überhaupt.
    www.faz.net/aktuell
  • DIE ZEIT 30/2020 – Mehr Wildnis wagen
    Neue Studien zeigen: Naturschutz ist auch für die Wirtschaft ein guter Deal – 30 Prozent der Land- und Meeresoberfläche sollen unter Schutz gestellt werden. Gerade einmal vier Jahre sind seither vergangen, und tatsächlich scheint aus der provozierenden Radikalität politischer Mainstream zu werden: 30 Prozent der Land- und Meeresfläche sollen bis 2030 unter Schutz gestellt werden. Dazu haben sich die meisten großen Naturschutzorganisationen und eine Reihe von Staaten bekannt. Und vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission das »30-bis-30-Ziel« in ihre Biodiversitätsstrategie aufgenommen, als Teil des Green New Deals.
  • Microsoft announced that by 2050 it will remove all the carbon it has ever emitted since its foundation in 1975.
  • Starbucks announced aims to become ‘resource positive’ when it comes to carbon, water, and some other natural resources.
  • Low-Carbon Landwirtschaft wird eine wichtige Rolle spielen:
    www.wired.com
  • Gute Nachrichten aus der Blauen Ökologie:
    futurecrun.ch
  • Warum die Worst-Case Szenarios der Klimaentwicklung nicht stimmen:
    www.nature.com
  • Wie ein neues Wort entsteht:
    Köpskam. flysgskam (flight shame) is now evolving into köpskam: a shame associated with any kind of consumption. This is an epic shift, and one that poses a vast challenge to the incumbent business-economic-political elites. Consumers are going to have to change; but they won’t do that without demanding loudly that the legacy organizations that have enabled them make far-reaching changes, too. In the 2020s, a key question for any legacy business will be: how must we adjust to a world of consumption shame?