57 – Die Zeit der Aufmerksamkeitskriege

Wie wir mit der Moral-Hysterisierung umgehen können

Derzeit werde ich häufig nach meiner Meinung zum Streit um »Political Correctness« gefragt. Soll man heute unmoralische Bilder aus Filmen entfernen? Soll man rassistische, sexistische chauvinistische und diskriminierende »Inhalte« verbieten? Soll man eine österreichische Kabarettistin öffentlich reden lassen? Soll man gar Michael Endes »Jim Knopf« aus den Bibliotheken verbannen?
Was halten Sie von »Cancel Culture«?
Ich habe dazu keine Meinung. Allerdings eine Haltung.

1. Die Hypermedialität

Was hat sich in den letzten zehn Jahren am meisten in unserem Leben verändert? Ich glaube, es ist das mediale System. Wir sind durch das exponentielle Wachstum des Medialen sozusagen auf einem anderen Planeten gelandet, dessen Gesetze und Gefahren wir erst langsam zu verstehen beginnen.

Wir leben in einem Zeitalter der Hypermedialität. Das heißt, dass aus den »Medien« (was ja ursprünglich »Vermittler« heißt; von mediare), Beschleuniger von Affekten geworden sind. Emotionsmaschinen, die rund um die Uhr nach Nahrung suchen.

Das Internet hat dazu geführt, dass jede Kommunikation in Echtzeit stattfindet, ohne dass sich die Teilnehmenden in einem Raum befinden. Das führt dazu, dass die Beteiligten eines Diskurses fast immer affektiv reagieren. Aus ihrem limbischen, emotionalen System heraus. Der Psychologe Daniel Siegel nennt das die »Limbic Lava«, die unentwegt in uns überkocht. Der Kognitionspsychologe Daniel Kahnemann taufte es das »System1« – Denken in Reflexen.

Das Ergebnis sind nicht so sehr Blasen-Phänomene (die gibt es auch, aber sie spielen womöglich gar keine so große Rolle). Sondern eine Logik der Stürme. Kommunikation findet nur noch im Sturm-Modus statt: Skandal-Stürme, Angst-Stürme, Erregungs-Stürme, Hass-Stürme, Moral-Stürme. Die tribale Ader, die in uns allen steckt, die Fähigkeit zum Mob, wird unentwegt getriggert und verstärkt.

Die Währung dieser hypermedialen Welt ist die Aufmerksamkeit. Daraus entsteht eine eigene Evolutionslogik, ein darwinistisches Feld der MEME. Gewinner ist in diesem Krieg ist derjenige, der interessante, abseitige, schrille, spannende, überraschende, provokative, angstmachende oder hasserfüllte Botschaften sendet. Das sogenannte »Clickbaiting«, mit dem mediale Webseiten versuchen, unsere Aufmerksamkeiten anzuzapfen, zerlegt die Welt in Reize, in Impulse, in kleine Fragmente von Erregungen und Gegen-Erregungen.

Kommunikation wirkt auf diese Weise wie eine Art kollektiver Entzündungsprozess. Es entstehen Reize, an denen sich immer mehr Gegen-Reize entzünden, an der sich Abwehrkräfte und Gegenreize entzünden – und so weiter.
Ähnlich verläuft bei ungünstigen Verläufen auch die Covid-Infektion. Und ähnlich entwickeln sich auch die Debatten um Political Correctness und »Cancel Culture«, ebenso wie Phänomene des Verschwörungswahns.

2. Das Emanzipationsprinzip

In meiner Jugend in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es ein magisches Wort: Emanzipation. Es war ein Zukunfts-Wort, das mit der Vision einer freieren und gerechteren Gesellschaft verbunden war. Es wurde, zumindest für eine Zeitlang, zu einer Art Super-Mem. Weite Teile der Gesellschaft, Mehrheiten UND Minderheiten, konnten etwas damit anfangen.
Emanzipation ist ein Versuch, oder der Wille, aus einer zugewiesenen, als unterdrückend empfunden Rolle auszubrechen. Dabei wächst man über das alte Verhältnis zu sich selbst – und zur Gesellschaft – in ein neues hinein. Zur Emanzipation gehört immer das eigene Handeln, die Selbstveränderung. Dabei geschieht eine HERAUSLÖSUNG aus Opferrollen. Da war zum Beispiel der Stolz der feministischen Frauen, die nicht nur sagten: „Wir lassen uns das nicht bieten!”. Sondern auch: „Wir nehmen das jetzt selbst in die Hand.”

Emanzipationen sind immer erfolgreich, auch wenn sie nicht gleich zum »Sieg« führen. Was bei Emanzipation wichtig ist, die die Erlangung von Autonomie. Autonomie bedeutet Stolz, Selbstbewusstsein. Bedeutet Würde, die man zunächst sich selbst zuschreibt. Damals, in den Emanzipationskämpfen, wurde die GAY PRIDE Parade erfunden, nicht die Gay Fear oder Gay-Wut-Parade. Frauen posierten stolz auf Zeitschriften-Titelbildern, um für ihre Rechte einzutreten. Seht her, hier sind wir! Selbstbewusstsein macht schön. Auch die Black-Power-Bewegung verströmte ursprünglich eine Art erotischer Attraktion – in ihrer Musik, in ihrer Körperlichkeit, ihrer Präsenz. Das waren eben keine Unterdrückten mehr, sondern selbstbewusste »people of color«. Zukunftsmenschen.

Hinter einem solchen Weg steckt allerdings immer ein Abschied. Man verlässt den Kontext der Unterdrückung, der alten »Identität«, und damit verrät man natürlich auch immer diejenigen, die dort noch verharren. Man steigt auf in ein neues WIR.
Eine der schönsten Emanzipations-Geschichte ist die von Michelle Obama, die in Ihrem Buch „bdquo;Becoming” den Prozess ihres emanzipativen Aufstiegs schilderte: Wie sie sich aus einem diskriminierten, »prekären« Milieu befreite, und in die Mittelschicht aufstieg, in die Bildungsschicht.

3. Die Sehnsucht nach Anerkennung

In der Political Correctness Debatte von heute geht es aber um etwas anderes. Es geht um Unterdrückt sein ALS Identität. Es geht um Abgrenzungen. Um Vergeltungen. Es geht auch um eine unerfüllbare Hoffnung: Man möchte die Erniedrigung und Beleidigung, die man erlebt hat, nicht nur beenden, sondern kompensiert haben.
Dieser Wunsch ist verständlich. Er lässt sich nur leider nicht realisieren. Er führt in eine Tragik, die nicht zu lösen ist.

Hier die Botschaft einer Zeit-Online-Leserin:

„Wir, die jeden Tag unter Diskriminierung leiden, abends im Bett liegen und an unserer eigenen Würde und Gerechtigkeit zweifeln aufgrund des scheinbar nicht tadelnswerten Fehlverhaltens anderer, sind mehr. Und der Tag wird kommen, an dem diese ganzen Menschen knallhart aufbegehren. Wenn sich eine Gesellschaft nicht darauf einigen kann, dass antihumanistisches Fehlverhalten bestraft werden muss (no justice, no peace), dann wird es Bürgerkrieg geben, das war so und wird immer so sein. Und alle die jetzt im Namen des »Intellekt« dagegen stehen, werden verlieren, Hochmut kommt vor dem Fall.”

Dieser Text berührt, weil er die tiefe menschliche Sehnsucht nach Anerkennung und Geschätzt-Sein ausdrückt. Wir alle können nicht leben, wenn wir nicht Wahr-Nehmungen und Sympathien erleben. Man kann den Zorn nachvollziehen, wenn man ein Herz hat. Der Text enthält allerdings auch eine Drohung: den Bürgerkrieg. Ähnlich arbeiten RAP-Texte, die Diskriminierung in Machtfantasien umschreiben.
Aber diese Drohung ist leer, sie wird sich nicht realisieren. Identitäres Bewusstsein, ganz gleich welcher Art, führt eher zu einer Atomisierung, einem Kampf aller gegen alle. Am Ende warten lächelnd die Populisten, die das entstandene Chaos abkassieren.

Ich kann verstehen, dass Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlen, Anerkennung einfordern. Auch wütend und aggressiv. Ich kann verstehen, dass sie Symbole, die ihre Abwertung ausdrücken, zum Verschwinden bringen möchten. Ich bin dafür, dass wir dies nach Möglichkeit auch tun. Da, wo es offensichtlich ist, wo Beleidigungen aktuell stattfinden, sollten wir überkommene Denkmäler diskret entsorgen. Das ist eine Frage der Rücksichtnahme, des Respekts.
Aber was dann?

Ich habe aber in meinem Leben festgestellt, dass dann, wenn man am meisten nach Anerkennung verlangt, sie am wenigsten bekommt. Anerkennung stellt sich eher dann ein, wenn man sich öffnet zu dem, was an Beziehungen möglich ist. Erfolgreiche Emanzipationsbewegungen hatten immer dort den Erfolg, wo zwischen Mehrheiten und Minderheiten fruchtbare Begegnungen möglich wurden. Und Diversität zu einer Ergänzung des Verschiedenen wurde.
All das hat viel mit Verzeihen und Loslassen alter Selbstbilder zu tun. Aber wenig mit Abrechnung und Forderung.

Unter Zivilisation könnte man auch verstehen, dass nicht alles, was uns in den Kopf kommt, nicht jede Assoziation, auch kommuniziert werden muss.
Armin Nassehi, das Große Nein

„Wenn ihr immer nur mit Steinen werft”, sagte Barack Obama auf einer Studentenveranstaltung im Oktober 2019, dann kommt ihr nicht weit. … Die Idee der Reinheit, der Vorstellung, dass man niemals kompromittiert wird, dass man immer WOKE (erweckt, im Sinne sozialer Achtsamkeit) bleibt – das sollte man schnell überwinden. Die Welt ist unordentlich. Es gibt Ambivalenzen. Auch Menschen, die wirklich gutes tun, haben Fehler.”

4. Futuristische Gelassenheit

Was aber sollen wir tun gegen Rassismus, Diskriminierung, Unterdrückung und all die schrecklichen Dinge, die Menschen sich gegenseitig antun?
Ich schlage als ersten Schritt eine Art Meinungsfasten vor.
Meinungen werden überschätzt. Sie tendieren ins Eitle, Narzisstische, was man in jeder Kommentarspalte studieren kann. Meistens handelt es sich um Abwertungen. Um – im Wortsinn – Gemeinheiten. Das führt zu jenem »Symmetrischen Nein«, von dem der Soziologe Armin Nassehi in seinem Buch &bquo;Das Große Nein” spricht.

In jeder Talkshow kann man beobachten, wie das reine Deklamieren in Polarisierungs-Spiralen führt. Echte Meinungen hingegen sind zarte Wesen. Sie können konstruktiv sein, wenn sie Teil eines in die Zukunft gerichteten Frageprozesses sind. Welche Aspekte haben wir vernachlässigt? Wie kann man die Dinge anders sehen? Gute Meinungen sind keine schlauen Antworten, sondern kluge Fragen, mit denen man den anderen berührt.

Ich schlage vor, dass wir diesen Erregungs-Phänomenen der modernen Kultur gegenüber eine Haltung der wohlwollenden Ignoranz üben. Statt uns jedes Mal einzumischen, jeden Empörismus anzuheizen – wie es viele Intellektuelle tun, wenn sie etwa zornig die Meinungsfreiheit gegen den Moralismus verteidigen – enthalten wir uns der Stimme, ohne das Thema zu negieren.

Gehen wir stattdessen ins Konkrete. Wir alle sind ja irgendwo Verlorene, Vernachlässige, Einsame, Ausgegrenzte. Jeder von uns von uns ist eine eigene Minderheit, eine unverwechselbares, aber nicht immer »angenommenes« Individuum. Und auf eine bestimmte Weise »daneben«, »ungenügend«, je nachdem, welche Maßstäbe man ansetzt.

Wir könnten uns in unserer gegenseitigen Fremdheit umarmen, und uns und gegenseitig jenen Teil an Würde und Gerechtigkeit zukommen lassen, den wir verdienen. Wir könnten einfach ANFANGEN damit, Menschen, denen wir begegnen, ihre Fremdheit zu nehmen, indem wir sie anerkennen und befürworten.
Und viele tun das ja auch.
Mehr, als man denkt.
Damit sehen wir weiter.