65 – Die Zukunfts-Ressource

Wie dieses Jahr uns die Frage des Vertrauens völlig neu stellte

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All the world is made of faith, and trust, and pixie dust.”
J.M. Barrie, Peter Pan

“To have faith is to trust yourself to the water.
When you swim you don’t grab hold of the water, because if you do you will sink and drown. Instead you relax, and float.”
Alan Wilson Watts

Welche Ressource ist die wichtigste für unsere Zukunft? Nicht das Öl. Auch nicht (mehr) das Geld. Nicht einmal die Aufmerksamkeit, diese Kunstwährung des hypermedialen Zeitalters.
Es ist das VERTRAUEN.

Von Beginn unseres Lebens existieren wir nur, wenn wir anvertraut sind. Wenn Menschen früh herausfallen aus menschlicher Bindung, geraten sie in große Angst und werden traurig, verwirrt, zornig. Und manchmal auch bösartig.
Vertrauen ist die Grundlage menschlicher Kooperation. Damit ist sie auch der entscheidende Wirtschafts- und Wohlstands-Faktor. Nur wo Menschen vertrauensvoll kooperieren können, entstehen jene Win-Win-Verhältnisse, aus denen dauerhafter Wohlstand entsteht.

Wo hingegen das Misstrauen herrscht, wächst Korruption, Neid, Missgunst, der Kampf aller gegen alle. Man braucht unentwegt Kontrolle. Das bremst alles: Die Entwicklung der Gesellschaft. Die Kreativität der Wirtschaft. Das Lebensglück.
Vertrauen ist das Einzige, was uns vor der menschlichen Zerbrechlichkeit schützen kann.

Jahrzehnte lang war eine Gegenkraft von Vertrauen eine kulturelle Leitwährung: Misstrauen. In jeder Talkshow, in jeder Diskussion, in jedem Internet-Diskurs, in jedem Bühnenstück, in jedem Zeitschriftenkommentar, in jedem Spiegel-Artikel, gab es nur einen einzigen Tenor:
Kritik.
Dagegensein.
Problem.
Idioten!

Das Kritische war das Sesam-öffne-Dich für alle Aufmerksamkeit. Wer nicht kritisch war, möglichst laut, frech, zynisch, provokativ, – ein Querdenker eben! – galt als Opportunist. In dieser Verherrlichung des Rebellischen entstand über die Zeit ein tiefer Konsens-Verlust. Eine Vertrauenskrise, die an die Wurzeln der Gesellschaft ging. Eine Art Entzündung der gesellschaftlichen Diskurse, unentwegt angetrieben durch die Gier aller Medien nach der zweitwichtigsten Ressource unserer Zeit: Aufmerksamkeit.
So wurden alle Diskurse hysterisch, alle Debatten übertrieben, alle Konflikte unentwegt moralisiert und polarisiert.
Und so verschwand die Zukunft aus unserer Wirklichkeit.

Mit Corona brach jedoch plötzlich die Realität in unser Leben ein. In einer Situation, wo wir als Menschen, Gesellschaft, Verletzliche, aufeinander angewiesen sind, wirkt das ewige Dagegen-Prinzip plötzlich auf seltsame Weise dekadent.

Kabarettisten, die uns früher zum Lachen brachten, weil sie mal richtig die Sau rausließen, wirken einfach – uninteressant.
Vorwürfe, an die wir uns schon automatisch gewöhnt hatten – “die da oben sind doch…” – erzeugen eine Art Würgereiz.
»Querdenker« sind plötzlich das genaue Gegenteil von dem, was dieser Begriff noch vor einem Jahr meinte.
Alles dreht sich. Aber wo bleibt das Vertrauen?

Vertrauen ist ein wirksamer, aber auch gefährlicher Rohstoff. Denn Vertrauen ist auch eine Droge, auf die wir ganz besonders scharf sind: Oxytoxin, das so genannte Kuschelhormon, wird in unserem Körper ausgeschüttet, wenn wir tiefe Nähe mit anderen Menschen (oder auch Tieren) erleben. Sie entspannt und macht uns glücklich. Die Hygge-Substanz hat aber Nebenwirkungen: das so genannte EMPATHIE-PARADOX.

Forscher fanden heraus, dass Menschen, denen Oxytoxin zugeführt wurde (das geht mit einem Nasenspray), sich in einer vertrauten Gruppe von Menschen ganz besonders glücklich und geborgen fühlen. Allerdings reagieren sie auf Fremde, Unbekannte, ANDERE dann besonders feindselig.

Als genuine Stammeswesen fällt es uns schwer, Vertrauen zu mehr als 200 Menschen zu entwickeln. Für große, komplexe Gesellschaften brauchen wir deshalb Institutionen, Gesetze, Repräsentationen, kulturelle Übereinkünfte – und eine verbindende Vision dessen, was wir werden wollen.
Wenn diese Brückenfunktion der Idee verloren geht, neigen Menschen zu Rückfällen in tribales Verhalten.
Typisches Anzeichen ist das »Con-Man-Syndrom«. »Con« steht für confidence – meint hier aber eine sklavische Loyalität zu einem als dominant wahrgenommenen Mann, der sich ALLES erlauben kann, weil er unser inneres Elend überspielt. Arlie Russel Hochschild, eine amerikanische Soziologin, sprach davon, dass Trump seinen Wählern „die Scham genommen hat”. Hier wird Vertrauen plötzlich zu einem schrecklichen Gift, einer negativen Hypnose.

Die moderne Gesellschaft verschärft Vertrauenskonflikte auch durch falsche Anwendung von Technologie. Das Internet ist in seinen kommunikativen Bereichen eine gewaltige Vertrauens-Zerstörungs-Maschine. Digitale Kommunikation gaukelt uns eine falsche Vertraulichkeit vor. Wir glauben, durch ein digitales »like« tatsächlich gemocht und gewollt zu werden. Die Folgen dieser Täuschung sind fürchterlich.

Die Fünf-Sterne-Bewertungen, die hinter jedem Friseursalon und Restaurant im Internet stehen, sind längst gekauft und korrumpiert. »Soziale Medien« erzeugen das, was man »parasoziale« Beziehungen nennt. Der »online disinhibition effect« – die hass-enthemmende Wirkung der Anonymität – trägt zu jener Grund-Aggression bei, die immer mehr Debatten zerstört.

Allerdings hat in der Corona-Krise ein verblüffender Gegeneffekt eingesetzt. Viele Menschen haben sich digitale Kommunikation »von unten« angeeignet. Im Sinne menschlicher Verbindung, die nun existentiell wurde.
„Wir Menschen sind die Wesen, die Abstand nehmen können, um uns so mit anderen über sich selbst zu verständigen.” ein Zitat von Hans Jonas.

Es gibt drei Ebenen von Vertrauen: Gesellschaftlich, persönlich und in der Form des Selbst-Vertrauens.
Gesellschaftliches Vertrauen bezieht sich auf die Sozialordnung, in der wir leben. Auf das Verhältnis von Ich und IHR. Dazu gehört: politisches Vertrauen. Institutionelles Vertrauen. Auch Markt-Vertrauen. Werde ich betrogen, wenn ich etwas kaufe?

Persönliches Vertrauen bezieht sich auf unser konkretes Beziehungs-Netzwerk: Familie, Freunde, Arbeitskollegen. Vertrauen in der Praxis von Ich und DU, in der Bindung zwischen Generationen, Partnern, Teams.

Selbst-Vertrauen schließlich bezieht sich auf unser inneres Selbst-Verhältnis: »Ich zu MIR«.
Darüber gibt es noch eine vierte Dimension: die Transzendenz. Die moderne Gesellschaft ist der unvollendete Versuch, ohne religiöses »Backup« zu leben. Aber ohne Verbundenheit mit dem »Weiteren«, werden unsere großen, sinnsuchenden Hirne auf Dauer nicht zurechtkommen. Wir brauchen eine neue, aufklärerische Spiritualität.

Die vier verflochtenen Ebenen des Vertrauens ergeben unser Weltvertrauen. Unser Da-Sein in der Welt. Auf allen Ebenen kann aber immer etwas schiefgehen: Missbrauch und Vernachlässigung in der Familie. Aussonderung in der Gesellschaft. Abstürze politischen Vertrauens – warum verachten so viele Menschen Politiker?

Ich vermute, dass die grassierende Zukunftslosigkeit vor allem etwas mit dem inneren Vertrauensverlust vieler Menschen zu tun hat. Wer sich selbst missachtet, sich nichts zu-traut, neigt dazu, andere ver-achten zu müssen. Er verwirft sich ständig selbst, und vergiftet die Welt mit seiner Negativität. (es ist natürlich leicht, dieses Phänomen »der Gesellschaft« vorzuwerfen. Aber gehört es dort immer hin?).

Weihnachten ist in seinem spirituellen Kern ein Fest des Vertrauens. Wir vertrauen darauf, dass es wieder heller wird. Dass wir zusammenfinden können, dass es besser werden kann. Weihnachten wurde unter einem Berg von Konsummüll, Zucker und öden Routinen verschüttet. Vielleicht war es gut, dass wir uns in diesem Jahr etwas einfallen lassen mussten.

Genau das ist der wahre Sinn der Corona-Krise: Sich etwas einfallen lassen zu müssen! Die wirklich wichtigen Fragen stellen:

  • Wie gelingt es, die industrielle Zivilisation mit der Natur zu versöhnen – eine postfossile Wohlstands-Zivilisation zu entwickeln?
  • Wie gelingen uns neue gesellschaftliche Vertrauensformen Innovationsformen der Demokratie?
  • Wie entsteht nach 70 Jahren Dominanz des westlich-amerikanischen Modells eine neue und ausgewogenere Globalisierung?
  • Wie verabschieden wir uns elegant von der Ära der despotischen Männer?

Täusche ich mich, oder sind zu diesen Fragen längst Antworten unterwegs? 2020 war das Jahr von Trumps Abwahl – trotz allem. Einer erstaunlich krisenstarken EU. Des Durchbruchs von Elektroautos. Eines europäischen »New Green Deals«, durchgekämpft von zwei starken Frauen. Es gab neue Revolten gegen die Macho-Despoten, angeführt von ebenso starken Frauen. Großunternehmen, Städte, ganze Länder, haben sich in diesem Jahr endgültig auf eine postfossile Zukunft festgelegt.
Etwas ist in Gang gekommen.

In diesem Corona-Jahr entwickelte sich eine zarte Nachdenklichkeit. Mitten in in der Erschöpfung wurde plötzlich ein anderes Muster sichtbar. In den Talkshows, in denen sonst immer konsequent aufeinander eingehackt wurde, ist plötzlich ein anderer Tonfall entstanden. Man hört plötzlich einander zu, ohne immer alles gleich besser wissen zu müssen. In den Leitkommentaren, die sonst zu Neujahr immer die üblichen Verurteilungen vollziehen, fand man statt der üblichen Verurteilungen in den letzten Wochen immer mehr Töne, die fragend sind.
Etwas dreht sich im Diskurs der Gesellschaft.
Alles läuft auf eine einzige Zukunfts-Frage zu:
Wie können wir vertrauen?

Diejenigen ohne Weltvertrauen werden das alles als lächerlich abtun. Aber erstaunlich viele Menschen treffen in diesen Tagen echte Entscheidungen.
Sie schenken Vertrauen. Sie hören auf, immer nur auf das Schlechte zu starren.
Sie werden ZUKÜNFTIG. Sie holen die Zukunft in die Gegenwart, indem sie sich für den Wandel verantworten, der jetzt überdeutlich vor uns liegt.

Frohes neues Jahr!
Ihr Matthias Horx

 

“Ginny!” said Mr. Weasley, flabbergasted. “Haven’t I taught you anything? What have I always told you? Never trust anything that can think for itself if you can’t see where it keeps its brain?”
J.K. Rowling, Harry Potter and the Chamber of Secrets

“Trust is like a mirror, you can fix it if it’s broken, but you can still see the crack in that mother fucker’s reflection.”
Lady Gaga

“Trust is the glue of life. It’s the most essential ingredient in effective communication. It’s the foundational principle that holds all relationships.”
Stephen Covey