75 – Das Orbit-Gefühl

Die Rückkehr der Weltraumfahrt und ihre Bedeutung im Post-Corona-Zeitalter


Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Immanuel Kant


Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Die UFOS sind wieder da! Dabei waren spektakuläre Besuche der Außerirdischen nach der ET-Welle in den 80ern lange Zeit nahezu verschwunden.
Keine UFO-Meldungen. Null. Nirgends.
Hatten uns die Außerirdischen vergessen? Nein, nur die Wahrnehmungsform, die SALIENZ für bestimmte außerirdische Themen, hatte sich verändert.

Salienz, die
Vom Lateinischen salire = hüpfen, springen. Die Salienz bestimmt, worauf wir unserer AUFMERKSAMKEIT richten. Salienz beginnt bei bestimmten Signalen, etwa wenn ein rotes Alarm-Licht blinkt. Vier Faktoren „steuern“ die Salienz: Intensität, Neuigkeit, Bedürfnisrelevanz und ökologische Validität (ein Reiz, der grundlegende Informationen über die Umwelt liefert, von der wir biologisch abhängig sind).

Salienz weist auf den Kern unserer kollektiven Aufmerksamkeit; früher hätte man gesagt: den Zeitgeist. Trendforschung ist in ihrem Kern nichts anderes als »Salienzforschung«. Man muss sich mit der Frage auseinandersetzen, warum und in welchem Kontext ein bestimmtes Thema, ein MEM, an Bedeutung gewinnt.

Wieso also wollen jetzt alle wieder „Auf ins All?”
Die Amerikaner wollen auf den Mond zurück. Ziemlich ernsthaft. China baut eine Weltraumstation. Sogar Israel plant irgendetwas Richtung Space – militärisch?
Auf dem Mars rumpeln mehrere Roboter herum.
Und jetzt fliegen gleich zwei Multimillionäre Richtung Orbit, allerdings nur halbe Strecke.
Was braut sich hier zusammen? Ein neues militärisches Wettrennen?
Persönliche Eitelkeit? Space-Narzissmus? Kommerzieller Wahn? Geldverschwendung?
Brechen wir endlich auf?
Wurde aber auch Zeit!

Die Große Ent-Täuschung

In meiner Jugend war Weltraumfahrt ein magisches Ereignis mit nahezu religiösem (Erlösungs-)Charakter. 1969, als die erste Mondlandung über die Schwarzweiß-Bildschirme flimmerten, waren wir in einer Art Fieber-Trance. Ich war damals 14 Jahre alt. Die Perspektive war überdeutlich: Aus all dem menschlichen Elend, den Kriegen (Vietnam), der Enge des Elternhauses, den Pubertätswirren, gab es nur einen Weg: Nach oben, über die letzte Grenze hinweg. In unendliche Weiten und fremde Galaxien.

Nach sechs Apollo-Missionen zum Mond, bei denen man mitfiebern, mithoffen (Apollo 13, der Katastrophenflug) und immer wieder mitzählen konnte (der Countdown als Code für die Zukunft) war Schluss. Leere. Der Mond blieb eine staubige Wüste, nicht mehr. Kein Sprungbrett zu anderen Welten.

Astronauten waren damals wortkarge Typen. Kampfpiloten, denen man in endlosen Training-Schindereien ein Stück der Seele wegtrainiert hatte. Selbst der Astronaut David Bowman in Kubricks „2001: A Space Odyssey” verkörperte diesen heroischen Narzissmus, in dem einsame, wortkarge Helden im All verlorengehen. Das passte zur Nachkriegszeit mit ihren vielen verlorenen Männern. Stanislaw Lem, der dunkel-geniale Sci-Fi-Autor des Ostens, sollte in seinen Romanen das Scheitern all dieser grenzdepressiven Charaktere in der Fremdheit des Alls beschreiben.

Es gibt in der Netflix-Serie „The Crown” eine wunderbare Szene, in der Prinz Philip, der Queen-Gatte, die drei Apollo-11-Astronauten nach ihrer Rückkehr vom Mond empfängt. Er ist furchtbar aufgeregt, wie ein kleiner Junge. „Was habt Ihr da oben erfahren? Was habt ihr gedacht, gefühlt, so ganz allein auf einem fremden Himmelskörper, im Angesicht des Universums!!???”, fragt der Prinz die Astronauten Armstrong, Aldrin und Collins, die drei Superhelden der Menschheit.

Die drei kauen Kaugummi und sehen ziemlich fertig aus. Jetlag vom Atlantikflug. Außerdem eine Grippe.
„We didn‘t have so much time to think.” sagt Armstrong dann mit seinem grauenhaften Knödel-Akzent. „Zu viel Routine, you know, Listen und Pläne und Protokoll schreiben und so …”

Die orbitale Perspektive

In den 70ern erkannten wir jungen Rebellen – ohne Rebellion war damals ein Leben zwar möglich, aber sinnlos, um Loriot zu zitieren – dass das Weltraum-Programm eine Art Schwindel gewesen war. Der »Aufbruch der Menschheit« war nichts anderes als ein Teil des US-Rüstungsprogramms. Ausdruck des Kalten Krieges. Auswuchs des militärisch-industriellen Komplexes.

Die Alternativ- und Ökologiebewegung begann. Von heroischer Technik zurück zur Natur. In die Probleme der Erde. In den Space-Sci-Fi-Filmen verbreitete sich die Düsternis. Ausrottungs-Aliens. Kampfroboter. Klonarmeen, die ganze Palette. Abwehrkämpfe gegen die Bösen aus dem All. Einer der das am besten beherrschte, war der Regisseur Roland Emmerich, ein Deutscher, der in Hollywood die patriotischsten Alien-Weltuntergangsfilme drehen sollte.

Aber Weltraum wurde auch lustig. Aus dem Kosmischen erwuchs das Komische. Per Anhalter durch die Galaxis. Raumschiff-Orion-Slapsticks, Weltraumprinzessinnen oder Futurama, echter Zukunfts-Blödsinn.
In den wenigen verbleibenden Weltraum-Missionen wurde eher gefrickelt und gebastelt, mit Erbsensamen experimentiert und Flüssigkeiten in ZeroG getestet, die angeblich die nächsten Teflon-Pfannen oder sensationelle Medikamente aus dem Orbit mitbringen sollten.

Aber so richtig erschloss sich das nie. Warum man dazu in die Kälte des Weltraums hinausreisen sollte. Wo war das Abenteuer, der Große Aufstieg? Zu teuer, zu gefährlich. Und gegenüber den Breitbild-Raumschlachten in den Kinos einfach nur langweilig…

Und doch ist etwas Kostbares geblieben. Eine Sehnsucht. Eine Sichtweise. In den 80er Jahren bekam das Phänomen den Namen »Overview-Effekt«. Den Perspektivwechsel, der entsteht, wenn man etwas, dessen Teil man ist VON AUSSEN sieht. Und plötzlich die Zusammenhänge versteht
Das Große Ganze.
Das All-Eins.

Auch Corona hat etwas mit dem neuen Space-Age zu tun. Solche Krisenzeiten sehnen sich nach Öffnung in andere Dimensionen. Nach Übersicht und Überschreitung.
Und es liegt eine Vor-Ahnung darin. Anders als die vorherigen Epochen-Übergänge – vom Mittelalter in die Neuzeit, vom Agrarkultur in die Industriemoderne – kann der Wandel, der nun unmittelbar vor uns steht, nicht mehr lokal begrenzt bleiben, beschränkt auf einen bestimmten Kulturkreis. Pathos und Ethos können sich nicht mehr an eine bestimmte »Nation« binden, wenn es um die ökologische Zukunft des ganzen Planeten geht. Das wissen sogar die Chinesen, die derzeit konsequentesten Nationalisten.
Die ökologische Wende, die Verhinderung der Erderhitzung, zwingt uns auf eine neue Ebene. Der kommende Wandel wird – das ist sein Wesen – von Anfang an planetar sein.
War es nicht immer der große Vorteil der Aliens, dass sie die Menschheit einten? In dem Moment, in dem in den Hollywood-Filmen die ersten riesigen Raumschiffe geortet werden, werden alle menschlichen Kampfhandlungen prompt eingestellt. Alle Sender schalteten auf EIN Programm: die Rettung der Menschheit!

549 Menschen haben bislang den Planeten von oben gesehen, als blaue Kugel in der gewaltigen Schwärze. Dieses Erleben hat bei vielleicht 100 von ihnen ein spirituelles Erkennen bewirkt.

Auf vielfache Weise hat Weltraumfahrt etwas mit dem Begriff der EHRFURCHT zu tun. Ehrfurcht, englisch AWE, ist heute ein eher an den Rand gedrängter Begriff, der mit religiöser Unterwürfigkeit assoziiert wird. Aber es geht um etwas ganz anderes. Wir werden mit etwas konfrontiert, was großartig ist, und was wir nicht kontrollieren und manipulieren können. Ehrfurcht ermöglicht uns eine Beziehung zu etwas Größerem unter der Perspektive des LASSENS.

Ehrfurcht bedeutet eigentlich eher das Gegenteil von Furcht.
„Religio” heißt im Wortstamm Bedenken, Bedeutung, Verpflichtung, Zusammenhang.

Der Astronaut Ronald J. Garan, der um die Jahrtausendwende mehrmals auf die ISS flog, hat aus dieser perspektivischen Erfahrung ein Buch gemacht: „The Orbital Perspective”.
„Für mich war das eine Offenbarung in Zeitlupe. Eine tiefe Erfahrung von Empathie, ein Erleben von Gemeinsamkeit und ein Wille, auf sofortige Belohnung zu verzichten und einen mehr multi-generativen Ausblick auf den Fortschritt vorzunehmen.”

“For me it was an epiphany in slow motion” said Ron Garan, a former Nasa astronaut who is not involved in the trial. “It’s a profound sense of empathy, a profound sense of community, and a willingness to forgo immediate gratification and take a more multi-generational outlook on progress.”
“From space, the planet is a constantly changing masterpiece and the sheer beauty is absolutely breathtaking. It looks like a shining jewel and you realise that it’s home to everyone who ever lived and everyone who ever will be,” he said. “But another thing that hit me was a sobering contradiction between the beauty of our planet and the unfortunate realities of life on our planet. It filled me with a sense of injustice. It infuriated me.”

The Guardian

Dieses Gefühl des »Meta-Sehens« kehrt in zahlreichen neuen Kulturproduktionen zurück. Etwa in „Wer wir waren”, der Verfilmung von Roger Willemsens letztem Buch, das im Stil einer Regnose geschrieben ist (der Sicht aus der Zukunft in die Gegenwart). Darin spricht Alexander Gerst, der Pop-Astronaut auf, sehr eindringliche Weise von der Ergriffenheit des Orbits, die auch rationale Menschen empfinden können.

Hätte alles auch anders kommen können? In der APPLE-TV Serie „For All Mankind” wird ein anderer Pfad der Weltraumfahrt in den 70er Jahren beschrieben – alternate history. Nein, kein Hitler auf dem Mond. In diesem Plot sind die »Sowjetrussen« als erste auf dem Mond gelandet, und so wird das Space-Race ein echtes Rennen bis in die Neunziger. Die NASA ist gezwungen, Frauen mit an Bord zu nehmen, die gute Kommandantinnen werden. Das Phallische des Weltraumprogramms wird dekonstruiert. Am Ende geht der Kalte Krieg zu Ende, indem mutige Frauen ihn beenden. Wäre das nicht schön gewesen?

Weltraumfahrt ist elitär, wahnsinnig teuer, umweltverschmutzend – und sinnlos? Die Frage, was wir auf dem Mars wollen, wenn »wir« einmal da sind, lässt sich einfach nicht beantworten. Außer der Erkenntnis, dass wir womöglich dort nichts zu suchen haben. Wo alles lebensfeindlich ist, werden wir schnell an uns selbst scheitern.

Das zeigen auch die endlosen Serien rund um die erste Mars-Expedition – von der semidokumentarischen Serie „Mars” über „Away”, „Red Planet”, „Der Marsianer” bis zur abgedrehten französischen Serie „Missions”. Es geht eigentlich gar nicht um andere Planeten. Sondern immer um Selbstbeobachtungen und Psychokrisen, Gruppendynamik und Sinnfragen. Um die Frage, wer der Mensch eigentlich ist. Vor allem zueinander.
In Interstellar versuchen Astronauten, einen Ersatzplaneten zu finden, weil die Erde austrocknet. Und finden am Ende die Liebe als Quantenkraft.
In „Expanse”, der Groß-Weltraum-Serie auf »Amazon prime«, nimmt die Menschheit sich selbst, so roh und vital wie sie ist, mit ins Sonnensystem. Humaner Futurismus mit allem, was das Herz begehrt: Liebeskummer, Machtspiele, Gewalt, Heldentum, Schwäche…

Vielleicht kommen wir gar nicht weg. Wir nehmen uns immer nur mit ins Große Irgendwo.

In der sogenannten Wirklichkeit hüpfen derweil Amazon-Ex-Chef Bezos und sein Pop-Business-Rivale Branson an den Rand der dünnen Schicht, die die Erde vor der Kälte des Alls schützt. Ob sie dort eine innere Wandlung erfahren werden?
„Wir können uns ohne Frage sehr glücklich schätzen, dass wir alle auf diesem Planeten leben.” sagte Branson nach seinem Hüpfer. Das klang noch etwas steif.
Gönnen wir es ihnen.
Klatschen wir Applaus.
Geben wir Zukunfts-Kredit.
Nichts ist umsonst. Sinnlos muss es aber deshalb auch nicht sein.

 

„Jenseits des verwirrenden Getöses der Gegenwart kann man, wie von mittelalterlichen Minnesängern, die einen fernen Hügel besteigen, eine neue Pastorale vernehmen. Die Melodie verheißt eine zweite Natur, wenn Technologie und Leben gemeinsam die Keime der vielfältigen Arten der Erde zu anderen Planeten und in ferne Sonnensysteme tragen werden. Aus einer grünen Perspektive ist es durchaus sinnvoll, sich für High-Tech und die veränderte globale Umwelt zu interessieren. Die Menschheit steht vor einer Wende. Die Erde wird Samen aussäen.”
Lynn Margulis, Evolutionsforscherin