02 – Die Irgendwos und die Dagebliebenen

Eine neue Sozial-Theorie macht Furore: Erklärt der Klassen-Kampf zwischen „Anywheres” und „Somewheres” die Konflikte der Zukunft?

Mai 2017

Michael Gäbler [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

In einem Buch und einigen vielgelesenen Zeitungsartikeln hat der englische Publizist David Goodhart eine neue Ursache für den bösartigen Populismus unserer Tage ausgemacht. Le Pen, Brexit, Trump, die Hasskultur im Netz – in der globalen Welt, so Goodhart, sind zwei neue „Meta-Klassen” entstanden, zwei völlig verschiedene Lebens- und Fühlweisen. Diese Separat-Kulturen, so Goodhart, treten nun in einer Art neuen Weltkulturkrieg gegeneinander an.

  • Die ANYWHERES (deutsch am besten: „Irgendwos”) sind jene multi-mobilen Bewohner der globalen Städte, die jederzeit umziehen könnten. Die gutbezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globetrotter, die Künstler, Kreativen, Konstrukteure des eigenen Lebens. Die Gebildeten und Bildenden, die Sinn-Sucher, Moralisten und Latte-Macchiato-Trinker. ANYWHERES sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung. Sie sprechen den Code universalistischer Werte und repräsentieren die kulturelle Hegemonie.
  • Die SOMEWHERES sind hingegen diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen an einem Ort GEBLIEBEN sind. In Hochhausghettos, in denen der Beton bröckelt. In von den meisten attraktiven Frauen verlassenen sächsischen Kleinstädten. In aufgelassenen Provinzen. In Wohnblocks an Einfallstraßen. In Kleinstädten, in denen das Schwimmbad längst geschlossen und die Fußgängerzone seit den 80er Jahren verkommen ist. In Vororten von Städten, die nicht zu den Schwarmstädten gehören. In verkommenen ehemaligen Stahl- und Kohle-Revieren.

ANYWHERES und SOMEWHERES unterscheiden sich vor allem durch einen völlig unterschiedlichen MINDSET in Bezug auf Veränderung. Für ANYWHERES ist der Wandel das, was sie antreibt, herausfordert, lebendig macht – auch wenn man manchmal scheitert. Für SOMEWHERES ist Veränderung dagegen eine ständige Verlustrechnung. Eine Demütigung. Sie erleben sich nicht als Handelnde, sondern als Opfer des Wandels. Zwar nutzen sie auch elektronische Medien, aber sie profitieren nicht davon im Sinne von Zugängen zu jener Prosperität, die in den Großstädten durch Digitalität entsteht.

Die SOMEWHEREs, so Gotthard, sind aber keine Nazis oder Fremdenhasser, sondern meist gutartige, familiär und heimatlich gebundene Menschen. Weil sie sich in ihrem Stolz verletzt fühlen, sind sie allerdings empfänglich für Gefühlsstürme. Wenn ein rhetorischer Zyniker kommt und ihnen ein großes, zorniges WIR anbietet, könnten sie diesem Ruf folgen. Auf Dauer, so Gotthart, würden sie den Kampf gewinnen. Er schätzt die Anzahl der ANYWHERES, der urbanen Eliten, auf maximal 25 Prozent der Bevölkerung, die der SOMEWHERES auf mindestens 40 Prozent.

David Gotthard gehörte vor zwanzig Jahren zu DEMOS, dem legendären Think-Tank um Tony Blairs Reformprojekt „New Labour”. Er ist Erbe und gleichzeitig Dissident des politischen Experiments des „Dritten Weges” der späten Neunziger Jahre, in dem es um die Überwindung der alten Rechts-Links-Logik zugunsten einer neuen Modernisierungspolitik ging. Inklusion war das grosse Stichwort. Es ging um einen pro-aktiven, intelligenten Sozialstaat, eine Politik der Mitte, die innovationsfreundlich, aber auch sozial verantwortlich agieren sollte. Heute sind diese komplexen Ansätze weitgehend vergessen; zerrieben in der ewigen Polarisierung der Talkshows, im Geschrei des Netzes und der ewigen Sehnsucht nach Schwarzweiß-Denken.

Wie viele, die früher progressiv dachten und fühlten, hat sich Gotthart von den urbanen linken Milieus losgesagt, denen er Salon-Bolschwismus und Ignoranz vorwirft. Gottharts Verdienst ist aber, die neuen sozialen Konflikte nicht auf reine Verteilungsfragen, sondern auch auf eine Psychologie der Gefühle zurückzuführen. Die knappste aller Zukunfts-Ressourcen ist SELBSTWIRKSAMKEIT. Wir haben es nicht nur mit Sarah-Wagenknecht-Problemen der Umverteilung zu tun, sondern mit psychologischen Prozessen, die einen ganzheitlichen Ansatz erfordern, ein Denken in Ganzheit, in „Gesellschaft”.

Allerdings muss man fragen, ob die Milieus, die Goodhart beschreibt, wirklich so homogen sind. Kennen wir nicht alle Menschen, die in der Provinz, auf dem Dorf leben und die trotzdem wunderbar „auf dem Weg” sind? Haben wir nicht alle irgendwie BEIDES in uns – den Lokalisten und den Globetrotter? Gehört die Zukunft nicht den GloKAListen, die beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich vereinigen? Und gibt es nicht massenweise Beispiele, wie sich Dörfer, Regionen, Stadtteile aus der Stagnation befreien, wo soziale Innovation entsteht, weil neue Allianzen zwischen aktiver Zivilgesellschaft und klugen Politikern entstehen? Gibt es nicht die besten Co-Gardening-Initiativen in der Industriebrache Detroit und jede Menge kreatives Potential im Ruhrgebiet – wenn man nur richtig hinschaut?

Entweder-Oder ist immer faszinierend. Aber es ist eben auch ignorant. Klassenkampf-Propaganda, auch wenn sie im psycho-sozialen Gewand einherkommt, ist immer gefährlich, der „Kampf der Kulturen” bleibt am Ende ein Minus-Summen-Spiel. Zukunft entsteht erst dann, wenn die unterschiedlichen Sichtweisen und Lebensformen zueinander in ein neues, produktives Verhältnis treten. Ein solches politisches Zukunfts-Projekt wird, wie es aussieht, eher von der neuen radikalen Mitte kommen als aus dem ermüdeten linken Lager. Wie Emmanuel Macron sagt: „Regieren heißt, den Kreis zu erweitern!” Den Kreis der Kooperation, in der die Somewheres und die Anywheres endlich wieder miteinander in Beziehung kommen. Und dieses ganze Zuspitzen, Trennen, Klassen-Polarisieren und Zorn-Popularisieren endlich überwunden werden kann, zugunsten einer Wirklichkeit, die immer komplexer ist als man glaubt.

www.theguardian.com

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