22 – Loblied der Unsicherheit

Braucht Deutschland allerschnellstens eine neue Regierung?

Dezember 2017

„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man nach neuen Landschaften sucht. Sondern dass man mit neuen Augen sieht.”
Marcel Proust

Auf unserem letzten Zukunfts-Tag hielt die Philosophin Nathalie Knapp eine Rede, in der sie die Kraft der Unsicherheit pries. Dabei deklarierte sie das Publikum zu einer Versammlung von „Göttern“, die über das Wesen der Zukunft Entscheidungsmacht hatten. Sie könnten, wenn sie denn wollten, jede Zukunfts-Unsicherheit nach dem Vortrag einfach per Abstimmung abschaffen. Zack – und für immer wäre alles Unsichere aus der Welt.

Die Briten würden dann nicht für den Brexit stimmen, beziehungsweise gestimmt haben. Der Troll Trump würde nicht zum US-Präsidenten gewählt worden sein, sondern Hillary, die alles so weiter gemacht hätte wie wir es von Amerika gewohnt sind. Die Jamaika-Koalitionäre hätten sich problemlos geeinigt und Deutschland hätte längst eine stabile Regierung.

Unser Partner würde sich immer klar und liebevoll und eindeutig verhalten – niemals käme Zweifel auf, ob und wie die Liebe hält. Die Bankzinsen lägen bei konstant fünf Prozent. Die Bundesbahn würde ihre Züge mit uhrwerkhafter Genauigkeit fahren lassen. Man müsste sich niemals über pubertierende Kinder aufregen, die zu viel Videospiele spielen oder auf Smartphones starren. Und so etwas obskur-monströses wie Bitcoin gäbe es einfach nicht. Geschweige denn „Künstliche Intelligenz“ oder ähnliche Zukunfts-Menetekel.

Wäre das nicht wunderbar? Wenn alles so wäre, wie wir es immer schon erwartet haben, gewohnt sind, uns in unserem Sicherheits- und Kontinuitätsbedürfnis wünschen?

Das ist vielleicht der größte Wunsch unserer Zeit: Dass endlich alles still wird. Das plötzlich alle Unsicherheit einer großen, tiefen Gewissheit weicht. Nichts anderes ist der Kern des alten Weihnachtsmythos.

Wie macht man die Welt wieder frisch?

So lautete hingegen die zentrale Frage des polnischen Philosophen Zygmund Baumann in seinen letzten Lebensjahren. Antwort: Durch ausgehaltene Unsicherheiten.

Unsichere Zeiten, sagte Nathalie Knapp, sind in Wahrheit fruchtbare Zeiten. Sie verändern unseren Blick, wenn wir sie aushalten. Sie ermöglichen uns neue Wahrnehmungen. Plötzlich wird das scharf, was vorher unscharf war. Plötzlich wird sichtbar, was früher unter dem Lärm der Erwartungen verborgen blieb.

Zum Beispiel die Politik. Etwas Überraschendes ist passiert. Obwohl Deutschland keine aktive, sondern nur eine amtierende Regierung hat, fahren die U-Bahnen weiter, fliegen die Flugzeuge, werden Kinder geboren, ringen Firmen um Marktanteile, boomt die Börse. Die Weihnachtsmärkte sind voll mit fröhlichen Leuten, und die Weihnachtsfeiern sind, nun gut, wie immer. Der Euro ist ein kräftiges Zahlungsmittel und eigentlich dreht sich die Erde weiter um die Sonne, obwohl es in den Meinungszeitungen unentwegt raunt, es müsse sogleich eine gigantische Krise über uns fallen, wenn es keine „starke Regierung“ gibt.

Könnte es sein, dass die Gesellschaft in ihrer Selbstorganisation inzwischen viel weiter, viel autonomer und robuster ist, als wir denken? Und die große Politik womöglich gar nicht mehr so existentiell für unser Leben ist, wie uns das in jeder Talkshow, jeder Politik-Diskussion ständig vorgemacht wird?

Wenn man die Unsicherheit aushielt, konnte man sehen: Die Verhandlungen der Jamaika-Koalition sind daran gescheitert, dass zwischen den Parteien immer noch die ideologischen Kriege der Vergangenheit geführt werden. Weltbild-Schlachten, die längst ihren Sinn verloren haben. Und hinter denen nicht selten private, individuelle Nöte verborgen sind. Narzissmen, die sich im Politischen nur tarnen.

Gesellschaftliche Spaltungen werden aus Angst gemacht. Dabei geht es immer um die Frage: Kooperation oder Konflikt. Populismus nutzt den Konflikt, die Bösartigkeit, um die Unsicherheit zu beenden. Es eröffnet sich aber auch ein anderer Weg: Selbstbewusste Gelassenheit. Warum nicht eine Minderheitsregierung probieren, die zu einer neuen Debattenkultur führen könnte, in der man sich gegenseitig mehr zuhören müsste? Warum nicht eine offene Kooperation statt einer Groko? Müssen wir politisch immer im alten Muster weitermachen, bin in alle Ewigkeit?

Reale gesellschaftlicher Entscheidungen, so können wir erkennen, verlagern ihr Standbein zurück ins Lokale, Pragmatische. In einer Gemeinde, einer Stadt, steht der Bürgermeister in einer direkten Beziehung zu den Bürgern. Rechts und Links zählen da wenig. Deshalb gibt es jetzt das „Parlament der Globalen Bürgermeister“, das sich längst entscheiden hat, die Klimapolitik in die eigene Hand zu nehmen. Das Lokale wird als Bezugsgröße der Demokratie wichtiger, und gleichzeitig das Globale. Oder Europäische. Die neue politische Ordnung wird GLOKAL. Heimat und Planet, das sind die wichtigen Achsen unsrer Existenz. Der Nationalstaat ist hingegen in vieler Hinsicht überfordert, zu groß, zu klein zugleich, schwerfällig und anfällig für den populistischen Virus.

Politik neu zu denken, jenseits der ideologischen Bunker, als dynamische MODERATIOn gesellschaftlicher, ökonomischer, technologischer Kräfte – das ist das große Zukunftsprojekt, das den Rückfall in den Nationalismus aufhalten kann. Dabei sind wir nicht am Anfang. Die skandinavischen Länder, die Schweiz, Kanada, die Macron-Bewegung zeigen, wie man vom Jammern und Spalten zu einer neuen Dynamik kommen kann. Macron und seine Bewegung sind weder links noch rechts. Sie sind zukunftsorientiert. Darum geht es. Aber es funktioniert nur, wenn es einen Bewusstseinswandel gibt.

Die Welt wird wieder frisch, wenn wir unsere seelischen Perspektiven ändern. Wenn wir von den Lösungen, nicht den Problemen her denken. Das heißt: der Unsicherheit den Raum schenken, der ihr gebührt. Nur so entwickelt unser Hirn das, wozu es von der Evolution geschaffen wurde: neue Konnektome.

Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest!
Die nächste Kolumne erscheint als Neujahrsbotschaft.

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