21 – Meine Medien-Kur

Wie man den Kopf vom hysterischen Medienmüll wieder frei bekommt – und die Zukunft zurückkehrt.

Dezember 2017

Immer Anfang Dezember gehe ich auf Süßigkeiten-Diät. Diese Lawine an Lebkuchen, Stollen, Plätzchen, die in den Adventstagen unentwegt ins Haus gespült wird, ist des Teufels. Aber nicht, weil ich Süßigkeiten nicht mag, sondern weil das ZUVIEL den Geschmack verdirbt. Es ist wunderbar, WIRKLICH frischen Lebkuchen zu essen! An Weihnachten! Aber nicht, wenn man schon so übersättigt (und überzuckert) ist, dass sich ein breiiges, klebriges Gefühl im Körper und in jeder Pore ausbreitet, so dass jeder Genuss auf der Strecke bleibt.

Ich tue das nicht, um Askese zu üben, sondern aus hedonistischen Gründen (und auch ein bisschen um nicht fett zu werden).

Ähnlich geht es mit mit den Medien. Ich habe mein Leben lang tausende von Büchern gelesen, jeden Tag ein, zwei Tageszeitungen gelesen, so gut wie alle Ausgaben von STERNSPIEGELZEIT, zumindest die wichtigsten Artikel. Ich habe Millionen von Features, Talkshows, Debatten reingezogen. Serien geschaut, alle skandinavischen. Alle SciFi-Filme geschaut. Und dann kamen die vielen, vielen Websites, unendlich viele Studien, all das, was das Netz an Überfülle mit sich bringt – und dann auch noch die Kommentare. Und die Kommentare zu den Kommentaren. Ein Zukunftsforscher muss das alles wissen, kennen, beurteilen, verstehen…

Oder nicht?

Seit etwa einem Jahr, genauer, seit der Wahl von Trump, versuche ich es in regelmäßigen Abständen mit MEDIENFASTEN. Das ist eine echt interessante Erfahrung. Wenn die endlosen Clicks und Links plötzlich aufhören, die Ketten von Erregungen und Gegenerregungen, von Debatten und Streitereien, von Vermutungen, Meinungen und Meinungen über Meinungen, die sich wie eine einzige chronische Entzündung durch unseren memetischen Kosmos ziehen. Wenn die jeweiligen Untergänge plötzlich nicht mehr stattfinden. Weder das apokalyptische Insektensterben, noch die Weihnachtsmarkt-Terroralarme, noch die jeweiligen Deutschland-geht-unter Talkshows bei Maischberger und Co. Wenn all die besorgten Gesichter, die das JEWEILS SCHLECHTE beklagen, betrauern, bestreiten, plötzlich nicht mehr in meinem Gesichtsfeld sind.

Dann, ja dann, kann man plötzlich wieder viel klarer sehen, Sascha Lobo hat mal das schöne Bonmot von der Vermeinung der Welt geprägt. Der öffentliche Diskurs ist ein Minenfeld geworden. Jeder muss etwas meinen, irgendetwas maulen, sich unentwegt aufregen. Meinungen sind wie Entzündungs-Epidemien, die sich gegenseitig hochschaukeln. Aber geht es im Kern eigentlich noch um irgendetwas?

Nein, ich glaube nicht, dass Medien lügen. Es hat sich nur etwas SUBSTANTIELLES in unserer medialen Umwelt verändert. Das Internet hat beschleunigt, was sich schon lange ankündigte: Der mediale Overkill, der sich aus einer simplen Tatsache ergibt. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Hirnen, aber Millionen von Kanälen. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Aufnahmefähigen, aber Quadrillionen von Schreien nach Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist die wahrhaft knappe Ressource unserer Zeit. Und wie erregt man Aufmerksamkeit? Durch Übertreibung, Polemik, Beleidigung, Angstmachen, falsche Rückschlüsse. Durch Cliffhanger und das so genannte Clickbaiting, bei dem einen ein kleiner Bissen vorgeworfen wird, als Appetitanreger, irgendwas mit kleinen Kindern, Sex oder Tieren oder Unfällen…

  • Hör mir zu, sagen die Schlagzeilen, ich bin wichtig! Angela Merkel ist am Ende. Oder vielleicht nicht!
  • Schalt mich ein und bleib dran, sagt die Talkshow (oder der Tatort am Sonntag). Alles wird schlimm, und immer schlimmer!
  • Klick mich an, sagen die Milliarden von Info-Bruchstücken, die mir etwas über niedliche Katzen, die von Autos überfahren werden, oder die Liebesprobleme Jugendlicher und weiblichen Orgasmus versprechen. Websites wie FOCUS und STERN sind darin besonders übel.
  • Klick mich an, sagt das hartnäckige Banner, das mir unentwegt auf dem Bildschirm kleben bleibt, damit ich irgendeinen idiotischen SUV anschaue oder einen Telefontarif für nix, aber auf drei Jahre fest, kaufe.
  • Hass mich, sagt der Troll in seinem Hating-Kommentar. Denn er sehnt sich so unendlich nach Anerkennung, nach GESEHENWERDEN, dass er sich unentwegt rüpelhaft benehmen muss. Immerhin damit kann er Wirkung erzeugen. Und wie!

Natürlich kann man gar nicht „ohne” Medien leben. Das würde der Kopf gar nicht aushalten. Deshalb nutze ich für meinen (meist einmonatigen) Exodus aus der Erregungsspirale eine strenge Auswahl von seltenen, selektiv gewählten Medien, sozusagen Almased für den Erregungsentzug. Die teilen folgende Eigenschaften:

  • Sie sind nie alarmistisch, sensationell oder „clickbaiting”-verseucht.
  • Sie sind nicht grundpessimistisch. Sie zeigen auch das Schöne, ohne Negatives zu leugnen.
  • Sie verbreiten etwas Nachdenkliches und Liebevolles gegenüber der Welt.
  • Sie wollen mir nicht ständig irgendetwas verkaufen.
  • Sie sind meistens analog auf Papier, aber nicht nur.

Hier meine Diät-Medien:

  • Monocle – Website, Magazin und „Monocle Minute”
    Die Stil- und Cool-Plattform Monocle, in deren Mittelpunkt der globale Flaneur Tyler Brûlé steht, ist zu einem großen und starken Medien-Imperium geworden. Vordergründig geht es immer um die kreativen Hotspots der Welt, um Mode, Design, tolle Läden, Cafés, Bars von Vancouver bis Shanghai (auch mal Tübingen). Aber MONOCLE hat sich inzwischen zu einer Nachrichtenagentur für die Kreative Klasse gemausert. Man hat den Ehrgeiz, eine globale Voll-Zeitung zu werden und das gelingt immer besser. MONOCLE bringt Berichte über Nordkorea ebenso wie die schönsten neuen Designhotel-Besprechungen. Monocle-Lektüre macht immer Lust auf Menschen, Berührung, Wirklichkeit – und Verbesserung. Die Plattform zeigt die Welt aus der globalen Metaperspektive, wobei auch Armut, Krieg und Elend nicht ausgeschlossen, aber IMMER in Würde und Hoffnung gezeigt wird. Alles ist Kultur, oder kann Kultur werden, alles ist Feuilleton im konstruktiven Sinne. Vielleicht ist dieser Zukunftsoptimismus das einfach „the gay way of feeling”, aber für mich (Hetero) hat es heilsame Wirkung.
    https://monocle.com
  • Perspective Daily
    Deutschlands einzige Website für Konstruktiven Journalismus. Die Plattform bringt einmal am Tag einen locker geschriebenen Text darüber, dass nicht alles schlechter wird, auch wenn es oft so scheint. Oft haben die Texte einen kognitionspsychologischen Hintergrund und zeigen uns unsere „cognitive biases” auf, unsere Fehl-Filter beim Weltbetrachten.
    https://perspective-daily.de
  • Brand Eins
    Es ist immer noch ein Phänomen, wie die Wirtschaftszeitung mit der höchsten verkauften Auflage und den wenigsten Anzeigen so wunderbare kluge Texte präsentiert. In diesem Magazin, das irgendwie nur Offline geht, wird selbst Herr Müller von der Prokura-Abteilung zu einem Superhelden der Neuen Ökonomie. Das Schöne ist, dass hier noch nicht mal der Versuch gemacht wird, mit schrillem Sensationismus und populististischer Übertreibung (wie etwa in der Wirtschaftswoche) zu arbeiten. Alles ist echt, authentisch, und wenn man sich hineinliest, das Gegenteil von sterbenslangweilig (wie es sich zunächst anfühlt).
    www.brandeins.de
  • NZZ –Neue Zürcher Zeitung
    Von allen Tageszeitungen ist die NZZ immer noch diejenige, die (fast) allen Negativ-Trends des Medialen widersteht. Auch die Art und Weise der Debatte ist auf eine genuin-stoische schweizerische Weise un-hysterisch, ja stoisch und irgendwie sehr cool. Die NZZ glaubt kaum eine der apokalyptischen Übertreibungen, die die Debatten- und Politikteile der deutschen Medien füllen. Als neulich wieder einmal eine Studie „bewies”, dass der Anteil der Muslime in Deutschland steigen wird, berichteten die deutschen Leitmedien AfD-gerecht auf ihren Titelseiten. Der entsprechende Text in der NZZ hatte die Überschrift. „Wir geraten nicht unter die Herrschaft des Halbmonds – die wachsende Anzahl der Muslime in der Schweiz ist kein Grund zum Alarmismus.” Das muss man erstmal können.
    www.nzz.ch

Bildbände zu Weihnachten:

Diese beiden Bildbände zeigen, wie schön die Welt in ihrer bunten Wider­sprüch­lichkeit und Lebendigkeit tatsächlich ist. Schönheit wird unterschätzt; sie ist ein Wegweiser in die evolutionäre Zukunft.

Und wer wirklich unter Weltuntergangs- und Der-Mensch-ist-immer-schlechter-Depression leidet, dem seien die beiden Paddington-Bär-Filme empfohlen. Geheim­medizin gegen den inneren Apokalyptiker, wirkt garantiert nicht nur für Kinder!

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Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com