04 – Vom digitalen Maoismus zum Humanismus

Vom Digitalen Maoismus zum Real-Digitalen Humanismus

Vor uns liegt die Zweite Phase der Digitalisierung. Nach hysterischen Übertreibungen und bitteren Enttäuschungen geht es jetzt um die Adaption des Digitalen an die menschliche Kultur.

Juni 2017

Maurizio Pesce, Milan/Italia, Wikimedia Commons

Ein Gespenst geht um in Deutschland, und längst schon in der ganzen Welt. Es geistert durch die mahnenden Leitartikel der Feuilletonisten und belebt als Rest-Utopie die Reden der Bundeskanzlerin. Es dominiert jede Management-Tagung, jeden Business-Talk und macht vor keiner Zeitungsbeilage halt. Der Glaube an die alles verändernde Macht des Digitalen ist so etwas wie der Final-Glaube unserer Zeit geworden. Ein Religionsersatz, der Schaudern und Ekstase hervorruft. Alles soll die Digitalisierung lösen: Wachstumsschwächen, Altersschwächen, Potenzschwächen, Intelligenzschwächen und bis vor Kurzem auch Demokratieschwächen. Aber alles stellt die Digitalisierung auch in Frage: Ganze Branchen werden disruptiert, die Demokratie, die Freiheit, vielleicht sogar die Vernunft. 50 oder 70 Prozent aller Arbeitsplätze „werden verschwinden”! Künstliche Intelligenzen werden unsere Jobs übernehmen! Lustvoll konstatieren wir der Digitalisierung eine Endzeit-Kapazität, die man früher nur der Atomkraft oder der Ankunft der Aliens zuschrieb. Vielleicht brauchen wir in regelmäßigen Abständen solche Groß-Dämonen, um uns lebendig fühlen zu können.

Ehrlich gesagt: Ich kann das D-Wort nicht mehr hören. Es ist ein Nullwort geworden, das einerseits für Banalitäten – Computer verändern unsere Welt seit mindestens einem Vierteljahrhundert – andererseits für hysterische Übertreibungen steht. Im Grunde handelt es sich um das, was Luhmann einmal „Kategorienfehler” nannte. Einen Kategorienfehler begeht man zum Beispiel, wenn man versucht, im Garten Bratkartoffeln anzubauen.

Ich erlebe immer wieder, dass Unternehmen dann besonders heftig nach der radikalen Digitalisierungs-Strategie rufen, wenn sie ihre Seele verloren haben. Wenn das Management keine Ahnung mehr vom SINN seines Wertschöpfungsmodells mehr hat, tritt die Armada teurer Consulter mit den den immer gleichen process-flow-charts auf den Plan. Dahinter stecken oft aber nur fade Rationalisierungs-Strategien, die hip und technisch einherkommen sollen, aber doch nur der Einsparung von Personal dienen. Digitaler Mac-Kinseyismus eben. Aus Angst vor der Disruption zertrümmern sich manche Unternehmen der Old Economy lieber selber. Oder der Manager fährt nach Silicon Valley und kommt als Schein-Hipster zurück. Aber im Valley findet man in Wahrheit immer nur seine eigene angstvolle Konfusion.

Dazu kommt, dass es offensichtlich ZWEI Internets gibt, die wir in Kopf und Leben nicht wirklich zusammenbekommen. Das eine verbessert tatsächlich unseren Weltzugang. Es ist schon toll, mit einer eleganten APP ein Taxi mit einem freundlichen Fahrer in einer finsteren Ecke einer verregneten Stadt herbeizurufen. Oder mit einem Fingertip alle Hotelpreise in Duisburg zu vergleichen. Aber dann gibt es eben auch diesen dark room der menschlichen Begierden und trivialen Narzissmen – das, was sich einmal als „Soziale Medien” in unser Leben gedrängt hat.

Jaron Lanier, einer der Pioniere der digitalen Welt, bezeichnete den Mythos der sozialen Netzwerke einmal als „Digitalen Maoismus”. Maoismus ist eine Allegorie für die Überblendung komplexer Wirklichkeit durch einen fanatischen sozialen Imperativ. „Das Internet empowert die Ohnmächtigen” ist eine ähnliche Parole wie Maos „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen”. Beides führt zu schrecklichen Desillusionen. Am traurigen Niedergang der Piraten-Partei konnte man live studieren, wie dieser Maoismus an sich selbst zerbricht. Das soziale Internet „empowert” in der Tat Weltretter, Nachbarn, Wandergruppen, Freundeskreise, die sich sonst aus den Augen verlieren würden. Aber eben auch Troll-Idioten, Stalker, Dumpfbeutel aller Couleur, russische Demokratie-Saboteure, Terroristen. Es holt eine Menge Leute in unser Wohn- und Schlafzimmer, die wir dort nicht sehen können. Und garantiert nicht sehen wollen.

Der erstaunliche Suchtfaktor der Sozialen Medien lässt sich damit erklären, dass wir als Menschen genuine Verbindungs-Wesen sind. Vom Moment an, an dem wir auf der Welt sind, sehnen wir uns zutiefst nach dem Gesehen-Werden. Dem Anerkannt-Werden. Dem In-Beziehung-Sein. An diesen existentiellen Synapsen docken die Sozialen Medien an, Symbionten der Bindungs-Sehnsucht. Ich werde gelikt, also bin ich! Wenn eine Frau beschließt, „im Netz” die most sexy Frau der Welt zu werden, und sich live in einen Roboter der Kosmetikindustrie verwandelt, dann zeigt sich die unglaubliche Macht dieser emotionalen Selbstreferenz-Systeme. Wenn ein Mörder seinen Mord bei Facebook hochlädt, versucht er, seine Gewalt „in Beziehung” zu setzen, ein massenhaftes Echo für seine Tat zu generieren. 100.000 Leute liken das und meinen es nur vielleicht ironisch. Die „Pseudonymität” des Netzes macht Menschen im wahrsten Sinne verrückt.

Im Dschungel der unerlösten Emotionen verspricht das Digitale, was es niemals halten kann: Den „richtigen” Partner. Unendliche Wahlmöglichkeit. Die tausend besten Freunde. Das Internet verstärkt die Nervosität des Sozialen auf allen Ebenen – privaten, sozialen, politischen, ökonomischen. Die gesellschaftliche Hysterisierung, die wir derzeit erleben, diese Gemengelage aus Shitstorms, Hass-Speech, Verschwörungswahn, bösartigem Populismus und überreizter schlechter Laune, ist das Resultat. Das Netz kann eine Menge, aber es kann nicht wirklich trösten, es kann nicht wahrhaft heilen, es kann uns nicht wirklich menschlich verbinden – es sei denn, wir SIND bereits verbunden in der analogen Welt.

Die Rache des Analogen

In einer Straße unweit meines Hauses lässt sich ein auf den ersten Blick kaum wahrnehmbarer Retro-Trend finden. Dort hat vor Jahren ein kleiner „Bauernladen” eröffnet, in dem die resolute und herzliche Frau Sturm regiert. Meistens allein oder mit der Hilfe ihres Neffen verkauft sie Lebensmittel. Alles, was man zum täglichen Bedarf braucht, allerdings mit einem gewissen Anspruch. Es muss nicht Bio sein, aber einfach „gut”. Frau Sturm kennt jeden Produzenten oder zumindest Lieferanten ihrer Ware persönlich, ob es um eingelegte Kapern oder Olivenöl aus Sizilien geht, um die Kartoffeln aus dem Weinviertel oder, auf Bestellung, Rehkeule vom Jäger aus den Kalkalpen. Sie ist eine Art Food-Agentin mit großer Leidenschaft und Kompetenz.

Eigentlich müsste ein solches Lädchen angesichts der erdrückenden Handels-Marktmacht zum Scheitern verurteilt sein – ein großer Supermarkt liegt gleich um die Ecke. Aber jedes Mal, wenn ich in Frau Sturms Reich betrete, ist es proppevoll. Man lernt die verrücktesten und nettesten Leute aus der Nachbarschaft kennen, redet über das Wetter und die hervorragende Leberpastete vom Bauer Tschurz, aber nie über Politik. Und jedesmal komme ich heraus mit dem befriedigenden Gefühl, für erstaunlich wenig Geld alles gekauft zu haben, was ich wirklich zum Leben brauche. Den Supermarkt hingegen verlasse ich stets mit dem Eindruck, zu viel Geld für Nicht-das-Richtige bezahlt zu haben.

Übrigens benutzt Frau Sturm auch ein modernes elektronisches Kassensystem.
Was verkauft Frau Sturm in ihrem kleinen Laden? Produkte? Qualität? Schon. Aber das Geheimnis ihres Erfolgs liegt nicht in den Waren. Frau Sturm handelt mit BEZIEHUNGEN. Und darum geht es. Im analogen wie im digitalen Raum. Nur dass im Analogen die Grundlage von Beziehung – Vertrauen – ungleich leichter herzustellen ist. Weil wir dem, mit dem wir eine Markt-Beziehung eingehen, wahrhaft in die Augen schauen.

Und hier liegt der Grund, warum die meisten Prognosen für den rasenden digitalen Prozess schlichtweg falsch lagen.
Wie kommt es, dass nach 20 Jahren Internet-Revolution die Anzahl der analogen Buchpublikationen sich immer noch nicht – oder nur kaum – verringert hat? Sollten nicht längst alle Print-Zeitungen ausgestorben und alle Bücher recycelt sein, weil wir alles nur noch auf Bildschirmen lesen? Warum feiern die Hersteller edler Notizbücher und eleganter Füllfederhalter Absatzrekorde? Warum kleben gefühlte 90 Prozent meiner Bekannten immer noch Post-It-Stickers auf ihre Bildschirme? Oder drucken E-Mails aus, die sie für wichtig halten? Warum halten die Leute hartnäckig am Bargeld fest? Solche Phänomene werden in Digitalkonferenzen immer mit arroganter Handbewegung vom Tisch gewischt und als Anachronismus denunziert – weil es eben noch eine biologische Generation von Digitalen Analphabeten gibt, verzögert sich die WAHRE Digitale Revolution noch um ein paar Jahre. Demnächst wird sich das Problem biologisch erledigen…

Aber vielleicht ist das hartnäckige Festhalten am Analogen nicht das Problem. Sondern in Wahrheit Teil der Lösung.
David Sax, ein kanadischer Publizist, hat in seinem neuen Buch „Revenge of the Analog” (Die Rache des Analogen) beschrieben, wie das Digitale das Physische nicht überwindet, sondern auf dem Wege einer Rekursion neu erfindet:

Die Rache des Print: Je unruhiger und flackerhafter unsere Informationswelt wird, je mehr bei jeder Lese-Opteration auf dem iPad irgendwo eine Werbung aufpoppt oder eine Mahnung, eine neue Software zu installieren, desto mehr sehnen sich Menschen wieder nach der ruhigen Präsenz des Papiers. Papier ist unglaublich angesagt. Papier ist mehr Kult denn je. Der Medienkonzern MONOCLE lud vor Kurzem zu einer Konferenz unter dem Titel: PRINT IS MORE THAN ALIVE!

Die Rache der Arbeit: Entgegen aller früherer Prognosen arbeiten wir heute nicht allesamt als Cyber-Nomaden von Zuhause oder im Flugzeug. Arbeit ist in einem seltsamen Gegenteil immer physischer und sozialer geworden. Gerade die großen Digital-Konzerne rufen heute ihre Belegschaften wieder zurück in Büros. Die härtesten Coder-Nerds sitzen in den schönsten Design-Umgebungen und essen Bio-Food in der Pause, kurz vor dem Yoga-Kurs. Als ähnlich unzuverlässig, wenn auch unentwegt wiederholt, erweist sich das Gerücht von der totalen Arbeitsplatz-Vernichtung durch Computer. „Warum gibt es eigentlich immer mehr Jobs?” fragt der Ökonom David Autor in einem klugen TED-Vortrag.

Die Rache des Retail: Die Anteile des Online-Handels steigen in vielen Sektoren inzwischen deutlich geringer als in den Prognosen vorausgesagt. Die Downloads von E-Books stagnieren weitgehend. Gleichzeitig entwickelt der Handel eine ganz neue Kreativität: Shop-Konzepte waren noch nie so sinnlich und kreativ wie heute, Shopping-Landschaften wachsen zu ganzheitlichen Erlebnis-Welten heran. Längst ist das Internet in die Vertriebskanäle integriert, aber eben nur als EIN Kanal, der keinen disruptiven, sondern einen additiven Charakter hat.

Die Rache des Lernens: Die berühmten MOOCs (Massive Open Online Course), die Online-Kurse, die demnächst schon alle Schulen überflüssig machen sollen, haben sich weitgehend als Flops herausgestellt. Zwar florieren manche Fern-Universitäten und gut gemachte Lernkurse im Internet – besonders bei Sprachen und technischen Spezialthemen. Aber gerade durch die digitale Furie haben wir gelernt, dass Lernen IMMER das Ergebnis von menschlicher, empathischer Interaktion ist. Computer schaden nicht beim Lernen, schlechte Lehrer mit mangelnder Präsenz schon. Computer lösen das Geheimnis des Wissens und Lernens nicht. Wie sagte Piaget? „Lernen ist nicht Wissen ABBILDEN, sondern das innere Sein an kognitive Hindernisse ANPASSEN.”

In seinem Schlusskapitel „Die Rache des Analogen IM Digitalen” schlägt Sax eine neue, ganzheitliche Sichtweise vor: Digitalisierung bedeutet eben nicht Auflösung des Realen in Nullen und Einsen. Sondern eine verschränkte Co-Evolution zwischen der physischen und der informellen Welt. Wie man seine Muttersprache nur dann wirklich zu verstehen beginnt, wenn man eine Fremdsprache lernt, könnte sich das wahre Wesen der Digitalisierung womöglich durch ihr GEGENTEIL erschließen: Die physische, dingliche Welt.

Erleuchtete Digitalisierung

Gelungene Zukunft hängt immer von gelungenen Beziehungen ab, die Veränderung möglich macht. Familie gelingt, wenn aus Geborgenheiten Freiheiten wachsen. Globalisierung ist erfolgreich, wenn unterschiedliche Kulturen in kreativen Austausch eintreten und daraus Win-Win-Prozesse entstehen. Ein Unternehmen gedeiht, wenn es sich in Resonanz zu echten gesellschaftlichen Bedürfnissen befindet. Wenn Mitarbeiter und Führung, Kapital und Arbeit, Innovation und Marketing in Beziehung sind. Erst in der Differenzierung der Beziehungsqualität können wir ein Kriterium dafür gewinnen, ob Strategien des Digitalen gelingen oder nicht. Dafür sollten wir zunächst in KALTE und WARME Beziehungsformen differenzieren:

Kalte Digitalisierung

SUBSTITUIERT Beziehungen in digitale Anwendungen. Es geht darum, den Kunden – oder auch den Mitarbeiter – auf digitale Distanz zu bringen. Der Boom digitaler Assistenten in Form von Siri, Alexa und-wie-sie-alle-heißen ist im Grunde ein Versuch, reale (Markt-)Beziehungen überflüssig zu machen. Zwischen Kunde und Ware tritt nur noch die personale Illusion einer sanften weiblichen Stimme. Aber das hat einen hohen Preis. Der Zynismus dieser Strategie wird allzu schnell sichtbar. Wie im jüngsten Skandal der Burger-King-Reklame, die den Google-Sprachassistenten in den Haushalten dazu nutzte, eine neue Form von infiltrativer Werbung zu versuchen. Hier geht es nicht um Kommunikation, sondern um MANIPULATION. Es geht um Digitalen Putschismus. Siehe: https://futurezone.at”.

Warme Digitalisierung
schafft hingegen NEUE Verbindungen, indem sie Kunden, Umwelt und Produkt „in Beziehung” setzt. Wenn Bio-Jeans über das Internet im Abo-System angeboten werden, entwickelt sich ein neuer Markt der Beziehungs-Nutzung (MUD-Jeans). Wo die Netzwerkvorteile von Bio-Nahrungsmitteln, guter Energie oder geteilter Mobilität auf Apps nutzbar gemacht werden – etwa im Carsharing- oder Green-Energy-Konzepten – werden die real-digitalen Symbiosen der Zukunft sichtbar. Gute Digialisierung kombiniert das Reale-Haptische mit dem Informell-Kommunikativen zu Verbindungen, in denen neue Verfügbarkeit entsteht.

Kalte Digitalisierung
entsteht aus dem Grundmotiv der Rationalisierung: Wenn eine Firma eine rein beziehungslose Digitalisierungs-Strategie fährt, versucht sie zu verbergen, dass sie kein zukunftsfähiges Wertschöpfungskonzept mehr hat. Dann werden Mitarbeiter durch die Blume des Digitalen aufgefordert, zu kündigen, weil sie „über-flüssig” sind. Kunden werden an Websites und Sprachroboter überwiesen. Das Elend der Bank wird in die virtuelle Bank verschoben, der Kundenberater ist nicht mehr erreichbar, am Ende sind alle frustriert. Und arbeitslos.

Warme Digitalisierung
macht das Digitale zur Zukunftskraft, indem sie die Beziehung zwischen Mensch, Organisation und Produktion (oder Dienstleitung) flüssig gestaltet und daraus Beziehungsvorteile generiert. Sie lagert Kontroll-Operationen aus, um Freiheiten und Zuwendungen zu ermöglichen. (In automatisch fahrenden Autos kann man, um ein einfaches Beispiel zu bemühen, besser küssen). Sie EMPOWERT die Akteure – Kunden UND Mitarbeiter, Zulieferer UND Vertrieb. Sie „bezieht” sich auf die Umwelt, indem sie die stofflichen und energetischen Kreisläufe effektiver – nicht nur effizienter – macht. So entsteht im Real-Digitalen Raum ähnliche evolutionäre Schönheit, wie wir sie von der Entwicklung komplexer Lebewesen kennen. Wir nennen es das DIGITALE OMEGA (siehe ZukunftsReport 2017, Seite 23).

© Zukunftsinstitut Horx GmbH

Siegt also am Ende die Moral über Technik?

So einfach es nicht. Kalte Technik kondensiert an der warmen Fläche menschlicher Bedürfnisse, und dabei entsteht jede Menge Reibungs-Hitze. Wie die Entwicklung neuer Arten in der Natur findet die real-digitale Evolution als blinder Selektions-Prozess statt. Was nicht „in Beziehung” treten kann, wird ausgerottet. Der Disruptions-Gigant UBER wird am Markt scheitern, wenn es sein eiskaltes Abschöpfungs-System, das sich auch im sexistischen Zynismus seiner Firmenkultur zeigt, nicht überwindet. Rocket Internet wird sich am Ende an seinem eigenen Größenwahn verstolpern, weil es auf evolutionär instabile Marktmacht-Strategien setzt. Das öffentliche Stottern von Marc Zuckerberg angesichts der Hass-Ströme in Facebook zeigt den längst fälligen tipping point: Soziale Medien sind heute an jenem Punkt angelangt, wo sie neue humane Regelsysteme entwickeln müssen. Oder sie werden zu Müllgruben des Menschlichen, Restekippen verzweifelnder Emotionen, aus der sich die Menschen früher oder später in die Re-Analogisierung retten werden…

Wir stehen vor einer Welle human-digitaler Passungs-Prozesse. Wie in Verfeinerungs-Phasen der Evolution neue Spezies in Ökotope einwandern und sich dort in stabilen Nischen etablieren, sortieren sich die digitalen Strategien nach ihrer Adaptions-Fähigkeit in humanen Umwelten. Das muss nicht immer „moralisch” sein; die Mafia zieht sicher guten Nutzen aus der Familien-Software von Facebook. Aber die Spreu wird vom Weizen, der digitale Sinn vom digitalen Un-Sinn getrennt. In der Fabrik wird das Internet der Dinge seinen Sinn erfüllen – weil es sinnvoll ist, dass Maschinen untereinander kommunizieren, wenn Produktion reibungslos werden soll. Im privaten Haushalt hingegen ist „IOT” (Internet Of Things) hoffnungslos überschätzt; den Kühlschrank mit der Brotschneidemaschine zu vernetzen, wie es uns heute eifrige Digital-Auguren verordnen, ist eben nicht smart, sondern, wie der Internet-Kritiker Evgeny Morozov es nannte „Eine sinnlose Lösung auf der verzweifelten Suche nach einem Problem” – sein Fachwort dafür lautet „Solutionismus”.

Die Googellusion

Glauben wir den Auguren der ewigen digitalen Beschleunigung, dann ist die Zukunft im wahrsten Sinne vorprogrammiert: Künstliche Intelligenz (KI) übernimmt in vielen Bereichen das Kommando, Roboter marschieren in alle menschlichen Belange ein. Dazu kommt irgendwann die Übersiedlung zum Mars und die Abschaffung des Todes.

Aber hinter dem KI-Glauben steht ein fundamentales Missverständnis. Dass Computer besser Schach und inzwischen auch Go spielen können als Menschen heißt nicht, dass sie „klüger” sind als wir, sondern nur algorithmischer in Bezug auf Spieloperationen. KI kann menschliche Intelligenz nur dort ergänzen, wo die Komplexität nicht die Intuition und Kreativität des körperlichen Menschen erfordert. Watson mag noch so „präzise” medizinische Diagnosen treffen, am Ende sind eben viele Krankheiten eben nicht präzise, sondern diffus. Watsons Genius wird in der vertrackten Komplexität des Gesundheitssystems steckenbleiben. VR-Systeme mögen zwar unendliche Abenteuer ermöglichen, verwirren aber unseren Realitätssinn so gründlich, dass sie in einer (durchaus lukrativen) Marktnische steckenbleiben. Siri und Co, die digitalen Sprachassistenten, werden sich eben NICHT in jedem Wohnzimmer durchsetzen. Denn sie bewegen sich ziemlich schnell in Richtung des „Uncanny-Valley”-Gefühls – jener tiefen Befremdung, die Menschen befällt, wenn sie mit künstlicher Menschenähnlichkeit konfrontiert werden. Roboter bleiben außerhalb der Fabrik Spielzeug, die Tatsache, dass sie heute auf jeder Business-Konferenz erstmal mit piepsiger Stimme die Moderatorin begrüssen müssen, gibt eher Auskunft über die Langeweile von Businesskonferenzen als über die wahre Zukunft.

Die gigantischen Zukunftspläne der Internet-Riesen sind die Kleider der neuen digitalen Kaiser. Sie zeugen eher von der Panik, die die neuen Monopolisten angesichts ihrer Marktmacht befällt, die ihnen selbst unheimlich ist. Schließlich sind Facebook, Apple, Google & Co einmal als Rebellen angetreten, und schon landen sie in Darth Vaders Reich. Mit klebrigen Klicks Anzeigen verkaufen, ist auf Dauer eben kein sexy Geschäftsmodell. Die Fluchtoperationen in KI und Robotik, Mars-Exodus und Abschaffung des Todes sind Tarnungen der Tatsache, dass der nächste Marktzyklus, das nächste Geschäftsmodell, völlig unklar ist. Mit derselben Euphorie hat eine amerikanische Fluggesellschaft Reservierungen für Tickets zum Mond entgegengenommen (die inzwischen pleite gegangene PanAm).

Euphorie, Pleite, Niedergang, Auslese: In den nächsten Jahren wird es zu heftigen Turbulenzen auch IM Reich der digitalen Imperien kommen. Das, was Google, Amazon, Facebook, Apple und Twitter mit anderen machen – Disruption – wird die Internet-Konzerne selbst betreffen. Plattform-Kapitalismus mag zäher sein als analoger Kapitalismus, aber auch er wird irgendwann seine eigene Selbst-Disruption hervorrufen. Bei diesem evolutionären carving out entsteht nichts anderes als die „Neue Humane Erzählung”, von der Yuvel Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus” spricht. Die human-digitale Evolution hat erst begonnen. Wir Zukunftsforscher haben das Privileg, aber auch die Pflicht, dieses andauernde Beziehungs-Drama zwischen Mensch und Maschine in die Zukunft zu begleiten. Und – wo immer es geht – zu gestalten.

Siehe zum Thema auch die neue Studie des Zukunftsinstituts:
DIGITALE ERLEUCHTUNG. Mehr Info + Bestellung

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