12 – Future Virtues

Die 8 Tugenden der Zukunft

September 2017

© Julian Horx

In diesem Text geht es nicht um Werte oder Moral, sondern um TUGENDEN. Dies sind jene positiven Eigenschaften, die wir uns selbst aktiv zuschreiben, um mit der Welt – und unseren inneren Wünschen – ZURECHTZUKOMMEN. Tugenden sind eine stille Zukunftsmacht – wenn wir sie auf die richtige Weise wiederentdecken. Der komplette Text, mit einem Zusatztext von Vince Ebert (über Humor) und weiteren Grafiken von Julian Horx, erscheint im ZUKUNFTS-REPORT 2018 – Erscheinungsdatum 30. November 2017.

Wie werden die Historiker demnächst unsere Zeitspanne klassifizieren? Als eine PHASE DER EMOTIONALEN TURBULENZ? Die ÄRA DER BÖSARTIGKEIT? Oder ZEITALTER DER SOZIALEN HYSTERIEN?

Die Krise unserer Zeit ist vor allem eine SEELISCHE Krise. Wir leben in einem seltsamen Paradox zwischen zwei Wirklichkeiten: einer als katastrophal Empfundenen und einer im Grunde ganz normalen Welt, mit durchaus positiven Trend-Entwicklungen. Nicht die Realität hat sich verändert, nur unsere Wahrnehmungen sind andere geworden.

Wird die Welt immer schlechter, gefährlicher, chaotischer? Das ist ein weit verbreitetes Lebens-Gefühl, das sich sozusagen aus sich selbst speist: es bereitet einer steigenden Hysteriebereitschaft den Boden, einer ständigen Über-Erregung. Überall triumphiert Übertreibung, Verdacht, Unterstellung, Überheblichkeit, Wut, Hysterie, Polemik, Gemeinheit, Beleidigtheit, Grobheit. Wir können von einer ZIVILISATORISCHEN ANGSTSTÖRUNG sprechen, einer PARANOIA DES WOHLSTANDS.

© Julian Horx

Wie aber können wir damit umgehen? Es nutzt wenig, auf die Fakten zu pochen. Fakten sind, wie wir spätestens seit Trump wissen, nicht real. Auch die vielgelobten WERTE helfen uns nicht weiter, bleiben sie doch immer abstrakt und appellativ. Der Kampf um die Zukunft wird nicht im AUSSEN entschieden. Sondern im INNEN.

INSIDE IS ALL YOU NEED!

Der Beziehungs-Künstler Jeppe Hein

Tugenden scheinen in unserer individualistischen Kultur keine Daseins­berechtigung mehr zu haben. Sie wirken altbacken, abgestanden, normativ, fromm. Doch gerade wenn, wie Michelle Obama es unlängst in einer Rede formulierte, „the basic standards of human decency” verloren zu gehen drohen, entwickelt sich eine Gegen-Sehnsucht nach einer Integrität, die vom Herzen kommt.

Anders als die Moral, die heute eher als schlechtgelaunter Moralismus einherkommt, erfordern Tugenden eine gelebte Praxis. Sie sind eine sanfte Aufforderung an das Individuum, sich aktiv und pro-gnostisch („vor-schöpferisch”) in die Welt einzumischen. Sie basieren auf Erfahrungen zwischen Menschen. Sie betreffen die Kommunikationsweise, aber auch das Selbstgefühl: In den Tugenden erkennen wir uns selbst in unserem Weltverhältnis.

Tugenden sind die Gegensteuerungen der Angst. Sie sind sozusagen die Mikro­gravitation des Gesellschaftlichen – jene Kräfte, die den Zentrifugalkräften der Böshaftigkeit und Bitterkeit entgegenwirken. Wie können wir die Tugenden in einer individualisierten Welt zukunftsfähig machen? Indem wir sie nicht nur als EINSCHRÄNKUNGEN, sondern als MÖGLICHKEITS-GEWINNE sehen. Indem wir sie gleichermaßen auf FREIHEITEN wie auf BINDUNGEN beziehen. Im Sinne des Soziologen Hartmut Rosa wären Tugenden „Resonanz-Werkzeuge”, in denen sich das Soziale im Individuellen abbildet – und beides miteinander in Schwingung gerät. Solche Tugenden wenden sich an die Zukunft, indem sie diese innerlich wahr werden lassen.

Progressive Dankbarkeit

Dankbarkeit scheint tief in die Vergangenheit gerichtet, sie erinnert an „Schuld” und hat mit Abhängigkeit und schlechtem Gewissen zu tun. Gleichzeitig haben die mentalen Krisen unsrer Zeit viel mit dem Mangel an Dankbarkeit zu tun. Der Historiker Egon Flaig formulierte das in der Neuen Züricher Zeitung so:
„Unsere öffentliche Kultur leidet unter einer Verfemung der Dankbarkeit in fast allen kulturellen Hinsichten. Anspruchsberechtigte sind prinzipiell undankbar; und die gesamte mediale Welt, in gleichschrittiger Eintracht mit fast allen NGOs, ist darauf programmiert, Ansprüche ins Absurde weiterzutreiben oder immer neue zu erfinden. Freilich ist die Haltung «Ich schulde nichts, daher muss ich nichts rückerstatten» für jede Kultur selbstmörderisch, für eine politische Gemeinschaft sowieso.”
www.nzz.ch

Undankbarkeit dekonstruiert die Bindungen und Verbindungen zwischen Menschen, Generationen, Mehrheiten und Minderheiten, zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen. Wer undankbar ist, verweigert den Respekt für das, was ihn umgibt. Undankbarkeit macht aber auch individuell unglücklich, weil das ganze Leben immer nur als Zumutung und Verrat, als ewiges Defizit begriffen wird. Wer dankbar ist, bringt sich hingegen in eine Synchronisation mit der Welt. Er stellt sich in den Kontext der Vergangenheit, aber ebenso der Zukunft.

  • Wir könnten DANKBAR sein für das, was uns an Gutem widerfahren ist.
  • Wir könnten DANKBAR sein, dass es Wohlstand und Frieden gibt und dass unsere Vorfahren die Grundrechte erstritten und „erlitten” haben.
  • Wir könnten DANKBAR sein, in einer Welt zu leben, in der es Schlimmes gibt, aber nicht alles Schlimme, das prophezeit wird, auch eintritt. Die Welt eröffnet uns ständig Möglichkeiten des Engagements – und sei es nur im Kleinen.

Eine solche „progressive” Dankbarkeit würde die Idee des Fortschritts wiederbeleben, indem sie die VERBUNDENHEIT ins Zentrum stellt. In der„Dankbarkeit der Fülle” müssen nicht ständig Angst haben, das Errungene zu verlieren. Wir können uns dem Konstruktiven, Besseren zuwenden, weil wir das Gelungene empfinden.

Konstruktive Zuversicht

Possibilismus als Grundhaltung

In einem fernen Königreich wird ein Mann zum Tode verurteilt. Im Prozess schlägt er dem König einen Deal vor. Gib mit eine Gnadenfrist von einem Jahr und begnadige mich, wenn ich in dieser Zeit deinem Pferd das Sprechen beibringe. Im Verlies fragt ein Mithäftling, wieso der Mann diesen unsicheren Deal abgeschlossen hat, anstatt direkt um Begnadigung zu bitten. Der Mann antwortet:

  • In einem Jahr kann viel passieren.
  • Der König kann sterben.
  • Ich kann sterben.
  • Die Gesetze ändern sich.
  • Ein anderer König kommt an die Macht.
  • Es gibt einen Mangel an Henkern.
  • Das Pferd lernt sprechen.

Eine solche Haltung könnte man „Possibilistisch” nennen, sie vertraut auf das Mögliche. Der Possibilist entzieht sich den Ideologien des Optimismus oder Pessimismus. Denn beide Welthaltungen haben eklatante Nachteile: Der Optimist versucht, durch einseitige Weltwahrnehmung seine Komfortzone auszuweiten, der Pessimist versucht, ENTTÄUSCHUNGSFREI zu leben, indem er das Schlechte vorwegnimmt. Beide Haltungen haben Nebenwirkungen: Reiner Optimismus führt in den naiven Hochmut, reiner Pessimismus trägt auf dem Wege der „Self fulfilling prophecy” selbst zum Verderben bei.

Beim Possibilismus geht es nicht um pure HOFFNUNG – die ja immer eine gewisse Passivität und Devotheit voraussetzt. Sondern um ZUVERSICHT. Zuversicht ist eine Handlungsbereitschaft, die mit Überraschungen rechnet.

  • Es KANN sinnvoll sein, Konflikten auszuweichen!
  • Es KANN besser sein, das Ganze noch einmal zu überdenken!
  • Es KANN besser sein, nichts zu tun!

Possibilismus – ein Wort, das von dem humanistischen Daten-Sammler Hans Rosling erfunden wurde – passt unsere Erwartungen an die Möglichkeitsräume an, die uns zur Verfügung stehen. Virtuose Zuversicht öffnet uns für das Gute, aber auch für das Schlechte, das wir bewältigen können. Der Rest gehört jener Demut, die selbst das Schlechte Schlechte in Stärke verwandeln kann.

ktive Gelassenheit

Die Gelassenheit ist in den letzten Jahren zu einer Sehnsuchts-Tugend geworden, von zahlreichen prominenten Philosophen gelobt und in jedem Feuilleton gepriesen. Kein Wunder: Die Herrschaft der Ängste bringt uns um unsere seelische Freiheit des Einlassens, des Engagements, der BEWUSSTEN Verbindlichkeit.

Gelassenheit stellt die radikale Frage der inneren Beteiligung: „Müssen” wir uns immer fürchten? Wenn wir unentwegt Angst vor Terrorismus haben, spielen wir ihm nur in die Hände. Sind wir zwangsläufig „betroffen” vom Krieg in Syrien, müssen wir uns „sorgen” um den allgemeinen Zerfall der Familie, sind wir „verpflichtet”, Global Warming als existentielle Bedrohung der Menschheit zu fürchten?

Aus der Sicht des Erregungs-Moralismus lässt sich Gelassenheit leicht als Ignoranz denunzieren. Aber sie ist, richtig verstanden, das genaue Gegenteil. Sie gibt uns die Freiheit, uns aus freiem Willen für ein Engagement zu entscheiden – nur dann kann man wirksam handeln. Sie weigert sich, TEIL einer Erregungs-Maschine zu werden, die das Problem eher verschlimmert. Vor allem steigt sie aus dem Zirkel der Selbstgerechtigkeit aus, der mit der hektischen Ungelassenheit unserer Tage verbunden ist. Wer sich aufregt, glaubt immer, recht zu haben.

Natürlich reicht es nicht aus, sich innerlich von der Welt zu distanzieren. AKTIVE Gelassenheit kümmert sich um die Welt, indem sie ENT-SCHEIDUNGEN trifft. Zukunft entsteht letztlich durch Entscheidungen, in denen wir das eine dem anderen vorziehen, und damit auch auf etwas verzichten. Aktive Gelassenheit mischt sich auch ein, indem sie es wagt, Übertreibungen gegenüber skeptisch zu sein. Sie behauptet, dass es Sinn macht, die Dinge von mehr als zwei Seiten zu betrachten (Der FAKTIVIMUS, wie er sich als neue politische Aktionsform bildet, findet hier seine unmittelbare Grundhaltung).

Gelassenheit ist, wie schon Oskar Wilde feststellte, ATTRAKTIV. Sie gibt uns jene Autonomie, die uns begehrenswert macht, weil wir niemanden unter Druck setzen. Gelassene Menschen strahlen eine Eigenschaft aus, die als die „gute Form der Macht” gelten kann: Souveränität. Wer souverän ist, muss nicht dauernd mit seinen Gefühlen herumfuchteln, er ist nicht getrieben von seinen Affekten. Er muss sich nicht ständig selbst beweisen, weil er bereits selbst bewiesen IST. Hier ergibt sich die Schnittstelle zur Selbst-Resonanz: Der Gelassene ist „Souverän” – sich seiner selbst, seiner Grenzen, aber auch seiner Fähigkeiten bewusst.

© Julian Horx

Futuristischer Humor

Ohne Humor ist die Zukunft nicht zu gewinnen. Humor macht sich die Absurdität des Lebens zum Verbündeten – statt mit Zorn darauf zu reagieren, dass die Welt nicht konsistent und „stimmig” ist. Humor – jedenfalls wenn er GUT ist – trainiert unser Hirn in Komplexität und Paradoxialität. Humor ist eine Variante des STAUNENS – wenn wir lachen, erkennen wir, dass etwas scheinbar Widersprüchliches DOCH zusammenhängt. Der Kabarettist Vince Ebert formuliert:
„Die Trennlinie zwischen einer welt- und zukunftsoffenen Gesellschaft und einer eng begrenzten totalitären verlief immer entlang der Humorgrenze. Churchill hat ja angeblich mal gesagt: „Ich sammle Witze, die Menschen über mich machen.” Und Stalin soll geantwortet haben: „Ich sammle Menschen, die Witze über mich machen.”

Humor bricht Regeln, ist anarchistisch und zeigt uns dadurch unorthodoxe Perspektiven und Sichtweisen – und manchmal sogar Lösungen – auf. Satire rückt schiefe Verhältnisse gerade, deckt Tabus und unausgesprochene Probleme auf. Und das alles mit einem souveränen, gelassenen Lächeln. Gerade in verwirrenden Zeiten wie diesen sollten wir mehr auf die Hofnarren hören.

HINWEIS: Der komplette Text, mit einem Zusatztext von Vince Ebert (über Humor) und weiteren Grafiken von Julian Horx, erscheint im ZUKUNFTS-REPORT 2018 – Erscheinungsdatum 30. November 2017.

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Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com