11 – Im Zukunftsland
Welche Werte können eine Gesellschaft voranbringen?
September 2017
Derzeit bin ich in Island unterwegs, einem Land, das man getrost als Zukunftsland bezeichnen kann. Nicht nur, weil selbst auf Gletschern und Vulkanen das Internet funktioniert. In Island kann man sehen, wie ein Land – eine Gesellschaft – sich dauernd neu in Richtung Zukunft erfindet.
Es ist gerade ein halbes Jahrhundert her, dass auf dieser kalten Insel mit der dramatischen vulkanischen Landschaft bittere Armut herrschte. Außer einer kleinen Fischindustrie und einer in Lavafeldern ums Überleben kämpfenden Landwirtschaft gab es für die Nachfahren der Wikinger kaum eine wirtschaftliche Grundlage. Heute boomt das Land in mehreren Dimensionen. Neue grüne Industrien wie die geothermale Energieproduktion sind entstanden. Aus der Fischerstadt Reykjavik ist eine pulsierende nordische Großstadt geworden, mit einem gläsern-futuristischen Kulturzentrum, das an die Hamburger Elbphilharmonie erinnert. Es wimmelt von authentischen und modernen Hotels, Clubs und Restaurants, von Geschäften, in denen das lokalste und coolste Design des Nordens angeboten wird. Zweieinhalb Millionen Touristen lockt das Land inzwischen jährlich an – für manchen Einwohner wird das schon fast zu viel.
Isländer sind GLO-KAL-ISTEN im originären Sinne des Wortes. Sie lieben ihre Sprache, sprechen aber alle englisch (viele auch deutsch, dänisch, norwegisch, französisch). Viele haben Jahre im Ausland verbracht. Unser Reiseführer in Reykjavik ist mit einer tamilischen Inderin mit neuseeländischer Staatsangehörigkeit verheiratet. Isländer haben das, was wir Kontinentaleuropäer momentan als innere Spaltung erleben, in EINE Identität integriert: Sie sind extrem familienorientiert, traditionsbewusst, individualistisch, patriotisch und weltoffen zugleich. Wie machen die das?
Als von zehn Jahren die Finanzkrise mit Wucht über das Land hereinbrach, ging Island schlichtweg pleite. Die Geldautomaten spuckten kein Geld mehr aus, die Mieten explodierten und alle Hauskredite vervierfachten sich über Nacht. Daraufhin jagten die Isländer in einer wütenden Protestversammlung vor dem Althing, ihrem traditionellen Parlament, ihre Regierung zum Teufel. Ohne Gewalt, aber auch sehr entschlossen. Dann wählten die Reykjaviker einen Punk zum Bürgermeister. Jón Gnarr hat bis heute eine große Reputation in praktisch allen Bevölkerungskreisen. Er führte die Stadt mit der lakonischen Ironie der Punk-Kultur durch die Krise. Heute gibt es in Reykjavik ein Punk-Museum. Übrigens auch ein Penis-Museum.
Isländer schaffen es ziemlich gut, Konflikt-Situationen pragmatisch zu klären, ohne gleich in Übererregung zu verfallen. Die geifernde Bösartigkeit unserer öffentlichen Debatten ist ihnen fern. Wenn Du es nicht kannst, Thor, soll Einur es eben machen! Ausländer werden nach einem Kontingentsystem ins Land gelassen, das dem kanadischen ähnelt. Den gierigen Staats-Bankern, die das Land in die Krise geführt hatten, wurde der Prozess gemacht. Allerdings wurde auch das nicht zum Rachefeldzug. In Island gibt es nur drei kleine Gefängnisse. Alle haben Wartelisten. Das Essen soll ziemlich gut sein. Man sitzt sowieso nur ein Drittel seiner Strafe ab. Anders als man durch die vielen grausamen Morde in nordischen Krimiserien vermuten würde, passiert auf der ganzen Insel alle Jahre mal ein unglücklicher Totschlag.
Als vor einigen Jahren der berühmte Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach und eine riesige Aschewolke den europäischen Flugverkehr lahmlegte, weigerte sich der größte Farmer am Fuße des Vulkans trotz aller Warnungen seinen Hof aufzugeben. Unbeirrt fütterte er das Vieh und brachte das von Lavaasche bedeckte Heu ein. Ein Dickschädel eben. Heute wird dort an einer der wenigen Stellen Islands Getreide angebaut, weil Lavaasche unerhört fruchtbar ist, und die modernisierten Höfe sehen aus wie Designerbauten.
Ganz entscheidend für den Erfolg der Isländer ist der Umgang mit den Bedrohungen durch die Natur. Ist es Zufall, dass in den letzten Wochen in den Medien unentwegt von Hurrikanen und Erdbeben und Überschwemmungen und Bergrutschen berichtet wurde – mehr als jemals zuvor, obwohl es so etwas immer schon gab (und auch nach dem Ende der Erderwärmung geben wird)? Naturkatastrophen ängstigen uns, aber sie haben auch eine humanistische Botschaft. Die Natur vereint uns. Ihre Bedrohungen mobilisieren die menschlichen Kräfte der Zusammenarbeit, der sozialen Kooperation. Sie erzeugen Widerstandskräfte, Resilienz.
In Fridheimar, 70 Kilometer von Reykjavik entfernt, haben Helena Hermundardottir und Knutur Rafn Armann mit ihren fünf Kindern ein ungewöhnliches Restaurantkonzept entwickelt. Es gibt nur drei Gerichte, Tomatensuppe, Ravioli mit Tomatensauce, Tomatensalat. Als Nachspeise Tomateneis und Tomatenkuchen.
Tomaten in Island, das ist so eine Sache. Nicht in Fridheimar. In den Gewächshäusern, in denen das Restaurant logiert, reifen rund ums Jahr, auch in der langen Polarnacht, eine Tonne Tomaten pro Tag. Das sind 18 Prozent des gesamten Tomatenbedarfs der Isländer. Die Glashäuser und ihre Hochenergie-Lichtlampen werden mit 1.2 Megawatt vulkanischer Wärme und geothermalen Stroms betrieben. 90 Prozent der Gurken und 75 Prozent der Tomatenkonsums der Isländer stammen inzwischen aus CO2-freien Produktionen aus dem Inland. Jetzt machen sich die isländischen Landwirte an Erdbeeren, Zucchini und, demnächst, Zitrusfrüchte.
Drei Eigenschaften, man könnte auch sagen Tugenden, scheinen mir den Kern des isländischen Erfolgsmodells auszumachen. Erstens Dankbarkeit. Isländer schätzen, was ihnen der Staat bietet; sie empfinden ihn als IHREN Staat. Zweitens eine grundlegende Zuversicht: Wer auf 35 aktiven Vulkanen lebt, hat eine positive Grundeinstellung zur Zukunft. Drittens: Selbstbewusstsein. Isländer scheinen auf eine unerschütterliche Weise in sich selbst zu ruhen. Sie müssen nicht dauernd um ihre “Identität” kämpfen. Deshalb machen sie auch nicht dauernd andere für ihre Sorgen verantwortlich.
Gestern gab es über den schneebedeckten Vulkanen die stärksten Nordlichter seit Jahren zu sehen. Ein psychedelisches Schauspiel am Himmel, in dem sich innerhalb von Sekunden gigantische Farbschleier aufbauten und wieder zerfielen. Wir standen auf dem Parkplatz eines Hotels für Touristen und Wanderer, als sich das Spektakel über unseren Köpfen entfaltete, still, ergriffen, wie in einer Kirche. Vielleicht haben Isländer neben der Zuversicht vor allem eine zentrale menschliche Fähigkeit bewahrt: das STAUNEN.
Einige glauben an Elfen. Bisweilen wird sogar eine Straße deshalb verlegt, um Elfen nicht zu verstören. Spricht man Isländer auf einen solchen Aberglauben an, lächeln sie. Staunen ist die genuine Urkraft der Zukunft.
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