59 – Die Herrschaft der Angst bestreiten

Was aus meiner Corona Re-Ggnose geworden ist

Vor ziemlich genau einem halben Jahr, am 21. März 2020 veröffentlichte ich den Text „Die Zukunft nach Corona” Die Intention dieses Textes lag nicht in einer Prognose. In der Situation einer komplexen, mehrschichtigen Tiefen-Krise lassen sich keine exakten Voraussagen treffen. So sehr man auch vom Zukunftsforscher erwartet, „die wahre Zukunft” zu kennen oder „Alles wird Gut!” zu predigen – es ging um etwas anderes.

„Die Zukunft nach Corona” war ein Text gegen die Herrschaft der Angst.

Ich wollte zeigen, dass Krisen immer auch eine ANDERE SEITE haben. Sie erzeugen, obwohl sie etwas verunmöglichen, immer auch einen neuen Raum der Möglichkeiten. Allerdings öffnet sich dieser Raum nur, wenn wir die Botschaft der Krise verstehen. Natürlich haben Krisen keine »Intentionen«. Aber sie geben uns Hinweise, Informationen – über unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, aber vor allem über uns selbst.

Sie sind ein Spiegel, in dem wir uns – und unsere Zukunft – erkennen können.

Der israelische Philosoph Gershom Scholem sprach einmal von der »Plastischen Zeit«. Jener Zeit, in der sich vieles plötzlich ändern kann. „When everything can change, because history is in a volatile flux.” In unserem individuellen Leben sind das jene Episoden, in denen plötzlich alles in Fluss gerät. „If you move, something happens. But nothing happens, until you move.”

In einer solchen Zeit leben wir heute, jetzt.

Zombifizierung oder die Rolle der Angst

Angst ist ein lebenswichtiges Gefühl. Es wurde uns von der Evolution mit auf den Weg gegeben, damit wir in einer Welt der Lebensgefahren überleben können. Angst mobilisiert unsere Kräfte, damit wir fliehen oder kämpfen können. Sie gibt uns einen Stromstoß der Energie. Angst ist, in ihrer ursprünglichen Form, ein Elixier des Lernens.

Allerdings kann uns die Angst auch blöde machen.

Angst hat immer eine Doppelfunktion. Ähnlich wie die Liebe macht sie das Leben, die Wahrnehmung, intensiv und existentiell. Deshalb SUCHEN manche Menschen, besonders Männer, geradezu die Angst. Angst kann sogar zu einer neuronalen Sucht werden, einer Dopamin-Abhängigkeit, die uns das Gefährliche attraktiv erscheinen lässt. Das ist die Angstlust. Sascha Lobo hat dieses Phänomen einmal das »Prinzip Angstporno« genannt. Man muss die Dosis der Beängstigungen ständig erhöhen, und erzielt Lust damit, andere mit Ängsten anzustecken. Dazu dienen zum Beispiel Verschwörungs-Konstrukte, mit denen wir uns UND anderen Angst einjagen und sie gleichzeitig lösen können. Dann fühlen wir uns gleichzeitig mächtig, wichtig und lebendig.

Die größere Gefahr der Angst ist jedoch die Verängstigung. Angst kann sich, wenn sie nicht durch Handlung (und Liebe) erlöst wird in Seele UND Körper festsetzen. Sie regiert dann unser Leben als eine ständige Erwartung. Dabei verschiebt sich unsere innere Biochemie in Richtung Cortisol, einer Substanz, die unsere Energievorräte aufzehrt und uns auf Dauer krank, bitter und nicht selten bösartig macht.

Wenn Menschen, oder Gesellschaften, von andauernder Verängstigung befallen werden, verwandeln sie sich in Zombies. Zombies sind ja bekanntlich Wesen, die keine Angst mehr haben, weil sie schon tot sind. Richtungslos wanken sie durch die Gegend, und vertilgen alles, was ihnen in den Weg kommt.

„Die Angst des Primaten schützt dessen Leben, ohne ihn zu beeinträchtigen, wenn die Gefahr vorbei ist. Die Angst des Menschen schützt und gefährdet dessen Leben zugleich. Sie ist nicht mehr an äußere Gefahren gebunden, sondern auch an innere.”
Wolfgang Schmidbauer, Die Geheimnisse der Kränkung

In der Verängstigung beginnen wir, zu starren. Unser Blick auf die Welt verengt sich. Daraus entstehen Tunnelsichten, die sich in halluzinative Weltbilder verselbstständigen können. Wir sehen dann Gespenster, die wir für wirklich halten. Das ist die Verschwörungs-Illusion.

Durch Verängstigung entstehen emotionale Silos und ideologische Weltkonstrukte. Wir verlieren uns dann in einem Raum falscher Gewissheiten, die sich in Lügen und Selbst-Lügen manifestieren.

Die Verängstigung kann dazu führen, dass wir unsere inneren Verunsicherungen durch Hass und Wut ersetzen. Daraus speist sich der bösartige Populismus, der uns einreden will, alles zerfiele und könnte nur durch Gewalt und Dominanz-Strategien »gerettet« werden.

Enttäuschung als Heilung

Die Corona-Krise hat viele Erwartungen enttäuscht. Das Leben sollte immer so weitergehen, in einer ständigen Steigerungslogik. Wir wollten große Reisen unternehmen, mehr Geld verdienen, immer mehr Spaß und Vergnügen erleben, aber hallo! Das Bruttosozialprodukt sollte, nein muss(te) weiter steigen! Anders kann es nicht gehen! Ohne Wachstum geht es nicht, das höre ich immer wieder.

Aber das verblüffende an der Corona-Krise war ja gerade die Erfahrung: Es ging doch.

„Krisen erschüttern bisherige Gewissheiten und stellen Gewohnheiten infrage. Sie lassen Sicherheiten zerschellen. Möglicherweise ist eine derartige Erschütterung auch ein Weckruf, eingefahrene Bequemlichkeiten aufzugeben und den Wert des Lebens mit neuer Dankbarkeit anzunehmen.
Aus TROST- Wege aus der Verlorenheit. Von Herrmann Glettler und Michael Lehofer

Die Corona-Krise griff an einem weiteren Kern-Punkt in unser Erwartungs-System ein. An unserem Zivilisationsverständnis. Auch hier wurden wir enttäuscht. Wir hatten uns der Illusion anheimgegeben, dass wir längst jenseits der Einflüsse der Natur leben. Die Corona-Krise hat uns drastisch klargemacht, dass die Mensch-Natur-Evolution weitergeht. Dass wir, einschließlich unserer Technologien, Teil eines ewigen Kreislaufs sind, aus dem wir nicht herauskommen.

Menschen, die in der Lage waren, sich in der Krise ENT-TÄUSCHEN zu lassen, konnten ihre Verängstigung überwinden. Sie konnten Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit erfahren, indem sie neue Aspekte an sich selbst (und den Menschen, mit denen sie in Verbindung waren) entdeckten. Wir alle, egal ob arm oder reich, haben diese Fähigkeit, die Welt NEU zu sehen. Und dadurch selbst NEU zu werden. Das ist das Wunder- und Wandelbare am Menschen.

Das Geheimnis der Re-Gnose

An dieser Stelle kommt die RE-GNOSE ins Spiel.
Wie kam es zu diesem Begriff?
Ich habe als Zukunftsforscher die Erfahrung gemacht, dass Prognosen auf eine seltsame Weise wertlos sind. Auch, ja gerade, wenn sie »richtig« sind.

Zukunft ist vor allem ein Narrativ, eine STORY. Damit unterliegt sie bestimmten Dramaturgien. Wenn die Lage unübersichtlich wird, tendiert unsere Zukunfts-Vorstellung, unsere futurologische Narration in zwei Richtungen:

  • Den Weltuntergang, die Apokalypse, die sich unweigerlich dadurch ankündigt, dass „alles immer schlechter wird”.
  • Die technische Erlösungs-Phantasie, die uns verspricht, dass – zum Beispiel – durch »Digitalisierung« alle menschlichen und Komfortabilitäts-Probleme für immer gelöst werden können.

Die Re-Gnose öffnet unseren MIND für die Zukunft, indem wir uns in ein anderes, reflexives Verhältnis zu ihr begeben. Indem wir uns geistig in die Zukunft versetzen, wird der Möglichkeitsraum sichtbar, in dem wir unterwegs sind. Wir nehmen uns sozusagen selbst in die Zukunft und dabei verwandeln wir unsere Wahr-Nehmung. Das ist der generelle Unterschied zu einer Pro-Gnose, in der die Veränderung immer nur von außen »auf uns zukommt«. Wie der pfeifende Zug im Tunnel, dem wir niemals ausweichen können, denn da ist gleich der Abgrund oder die Tunnelwand.
In der Re-Gnose erfinden wir uns selbst neu – in Beziehung zur Zukunft.

Die Venedig Re-Gnose

Setzen wir uns also in ein Straßencafé auf den Markusplatz in Venedig, so wie ich es im März 2020 vorgeschlagen habe.

Was sehen wir jetzt, im September 2020, ein halbes Jahr nach Lockdown, in der neuen Wirklichkeit?
Einige Touristen überqueren den Platz, aber die großen, lärmenden Touristengruppen sind verschwunden. Die wenigen Menschen scheinen auf eine seltsame Weise fröhlich zu sein. Einige tragen einen Mundschutz. Andere pfeifen darauf.

Einheimische sind zu sehen. Sie stehen in kleinen Gruppen zusammen, und haben offensichtlich zum ersten Mal das Gefühl, dass es wieder IHRE Stadt ist.
Wir sehen eine Stadt, die leer, aber trotzdem auf eine magische Weise zu sich selbst gekommen ist.

Protest Mural in Venedig

Der Kellner, mit dem ich mich in ein Gespräch verwickele, erzählt von seiner Familie, die im Lockdown stark zusammenhielt. Zwei Verwandte haben sie durch den Virus verloren, einen 90jährigen Großvater, der schon sehr krank war, und eine eigentlich sehr fitte Tante, mit 53 Jahren.
„Aber Italien geht es im Ganzen besser als vorher, “tutto bene”“, sagt er. Und sieht dabei unendlich traurig aus.

Ein leichter Wind weht vom Lido her, wo keines dieser riesigen Kreuzfahrtschiffe mehr ankert. Man sieht nur einige Masten von Segelschiffen.
In der Krise haben sich die Bürger von Venedig neu organisiert. Bürgerbewegungen wie „Venice Resist“ und „No Grandi Navi“ haben mächtigen Zuwachs erlebt im Kampf gegen den »Overtourismus«. Man plant in Zukunft Blockade-Aktionen gegen ankommende, große Kreuzfahrtschiffe, um sie an der Fahrt durch den Giudecca-Kanal zu hindern. Mehrere Bürgerversammlungen ringen um einen neuen Weg für den venezianischen Tourismus.

Etwas ist dauerhaft in Bewegung geraten im Gefüge der Stadt.
Die Royal Caribbean International, die größte Kreuzschifffahrtsgesellschaft, hat vor einigen Wochen Venedig aus der Planung für 2021 gestrichen. Andere werden folgen. In der Türkei werden derweil die ersten Groß-Kreuzfahrtschiffe verschrottet. Teilweise sind sie gerade 20 Jahre alt.
https://orf.at/stories/3179608/

Die großen Touristenströme aus Japan und China und den USA werden ziemlich lange ausbleiben. Vielleicht dauerhaft.

„Die Mikroebene des Sozialen wandelt sich während der Pandemie, man geht anders miteinander um, nimmt einander schärfer wahr. Mehr Solidarität, mehr Kritik. Die Prioritäten verschieben sich, ebenso auf der Makroebene, in den Unternehmen sowie in der Politik, die ein ganzes Knäuel geo- und klimapolitischer Krisen entwirren muss. Die Situation ist offen.
Gero von Randow, die ZEIT

Was wurde also aus meinen »Prognosen« – die eigentlich keine waren, aber irgendwie trotzdem welche sind?

  • Europa ist nicht auseinandergefallen.
  • Wir haben trotz einer gewaltigen Schrumpfung der Ökonomie keinen Wirtschaftszusammenbruch erlebt. Die Wirtschaft hat sich, ähnlich wie die Politik, als erstaunlich PLASTISCH herausgestellt. Was wiederum die Sicht auf das »Primat der Ökonomie« verändert.
  • In vielen Branchen, besonders jenen, die schon vor der Krise in destruktive Preis- und Effizienzkämpfe verwickelt waren, sehen wir Zeichen für dauerhafte Wandlungsprozesse, die früher unmöglich erschienen. Fleischproduktion. Kreuzschiffahrt. Automobilbranche. Fußball (ja, auch da). Flugbranche. Alles das wird in eine Änderungschleife gezwungen.
  • Unsere Arbeitsformen haben sich verändert – sie re-organisieren sich dauerhaft in Richtung neuer Work-Life-Hybridität.
  • Unser Reiseverhalten ist in einem Umwälzungsprozess begriffen, nicht nur in einem Zwischenstopp. Das rasende Vielfliegen wird in der alten Form nicht wiederkehren. Stattdessen womöglich der Nachtzug und der TEE.
    www.spiegel.de
  • Das, was wir besonders fürchteten – etwa eine neue Unterdrückung der Frauen, oder eine neue Epidemie der Einsamkeit, ist so nicht eingetreten. www.scientificamerican.com
  • Verblüffende Effekte lassen sich aus neueren Studien der Bertelsmann-Stiftung und der R+V-Versicherung herauslesen. Die Ängste der Deutschen sind in der Krise zurückgegangen. Und die Populismus-Bereitschaft SINKT.
    www.epochtimes.de

    Quelle: Populismusbarometer, Bertelsmann-Stiftung
  • In einer Studie des DIW Berlin heißt es: „Einsam, aber resilient – Die Menschen haben den Lockdown besser verkraftet als vermutet.” Die Corona Krise habe sich „nicht so negativ auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der in Deutschland lebenden Menschen ausgewirkt hat wie bisher angenommen”.
  • Erstaunlich viele Menschen waren in der Corona-Krise glücklich. Noch erstaunlicher: Die Lebenszufriedenheit stieg in den ärmeren und sank in den reicheren Schichten!
    www.diw.de

So sind Tiefen-Krisen. Sie bringen alles durcheinander. Und genau das ist das Kostbare an ihnen.

Aber lag ich nicht mindestens in EINEM Punkt komplett daneben?

„Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg (in der Krise) an“, schrieb ich im Originaltext im März. „Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden“.

War das nicht eine totale Fehlprognose? Ist der spaltende Hass nicht schnell zurückgekommen, nur schlimmer?
Auch das kann man auch anders sehen. Man darf sich nur nicht durch den Lärm, das Tosen der Oberflächen täuschen lassen.

Es könnte sein, dass durch die öffentlichen Wütereien der coronahysterischen Männer, der Naidoos, Jepsens und Hildmanns, ein gegenläufiger Prozess der Vernunftbildung entsteht. Der Irrsind wird sichtbar. Die Kohärenz der Gesellschaft, der Schulterschluss zwischen Gesellschaft und Politik (und Wissenschaft), der in der Krise entstand, wird dadurch eher gestärkt. Man nennt das auch das „Paradox der Konsensbildung“.

Es könnte sein, dass durch die Deutlichkeit, mit der sich Impfgegner, schräge Mystik-Hippies und paranoide Sterndeuter sich zusammen mit den Reichkriegsflaggen- und Präfaschisten zeigen, erst richtig deutlich wird, wie haltlos und verworren dieser Protest ist. Das entlarvt den narzisstischen Kern des Verschwörungs-Wahns.
Den neuen Nazis nutzt es umgekehrt wenig, sich mit Esoterikern, Hippies und Jüngern des leuchtenden Reptilien-Grals (oder so ähnlich) zu verbünden. So verlieren beide Fraktionen an Wirkung UND Reputation.

Womöglich verliert die „Anti-Corona-Bewegung“ genau im Moment ihres Aufmerksamkeits-Triumphes ihr Momentum. Sie erleidet das Schicksal negativer Protestbewegungen, die an ihren inneren Widersprüchen, ihren Unerlöstheiten scheiterten. Ganz anders als die Herzens-Rebellion in Weißrussland, die bei jeder Demonstration schöner, stärker und stimmiger wird (merke: Frauen werden die nächste Runde der Revolte gegen das Dunkle tragen).

PPS: Die Krise geht jetzt in eine nächste Runde. Durch die Veränderungen der Behandlungsmethoden und Fortschritte in der Medizin verwandelt sich Corona allmählich tatsächlich in ein grippeähnliches Phänomen. Damit ist der Ausnahmezustand, in dem wir seit einem halben Jahr leben, irgendwann nicht mehr legitimierbar. Corona wird dann anders »codiert« werden, und das wird noch einmal heftige Deutungs-Turbulenzen auslösen.

Das betrifft auch und vor Allem Amerika, wo ich keine Prognose für die Wahl wage. Außer der, dass die amerikanische Gesellschaft sich in diesem schrecklichen Strudel, in dem sie gefangen ist, irgendwann neu erfinden wird. Jedem tiefen Tal folgt eine Re-Gnose. Das ist die Weisheit der Zukunft.

„Ich habe gelernt, dass wir mit Zeit rechnen und doch nichts kontrollieren können. Ich habe gelernt, dass ich „Glück zu haben“ nicht beeinflussen kann. „Mut zu haben“ dagegen schon. Dass es oft Mut braucht, um glücklich zu sein. Dass alles im Leben von Entscheidungen abhängt und die volle Verantwortung für die Emanzipation der eigenen Werte bei uns selbst liegt. Ich habe gelernt, dass Rituale der Wertschätzung wichtiger sind als ein Haus, ein Auto oder ein Rasenmäher. Dass in der Entspannung das Fühlen kommt. Dass wir lernen müssen, zu ruhen, in uns, mit den Dingen, um zu fühlen, was wir brauchen. Und dass Loslassen das eigentliche Einlassen ist.
Klara Charlotte Zeitz, Es braucht Mut, um Glücklich zu sein