Im Angstgewitter

Ein Essay von Matthias Horx

Man erkennt erst das Wirkliche, wenn man das Mögliche überschaut.
Otto Neurath

Dieser Essay ist erschienen im Geschäftsbericht der Capitalbank AG

Darf ich Sie – ganz vorsichtig – an den Arm nehmen?
Lassen Sie uns ein kleines Stück zusammen gehen. Durch diese chaotische, angstmachende, womöglich irreparable Welt.

Es geht um die Zukunft. Und es geht um unsere Angst. Ich weiß, Sie haben Angst. Alle haben Angst. 80 Prozent der Deutschen, 75 Prozent der Österreicher und 60 Prozent der Europäer sagen, dass sie vor der Zukunft Angst haben.

Aber gleichzeitig fühlen sich aber in den meisten Umfragen mindestes zwei Drittel der Menschen zufrieden, glücklich oder sehr glücklich. Weniger als 10 Prozent halten für Ihre Lage für schlecht, oder problematisch.
Wie kann das sein? Wir fürchten uns schrecklich – aber auf enorm hohem Zufriedenheits-Niveau?

Man könnte auch sagen: Angst ist eine Art Lifestyle geworden. Das liegt zunächst an einer medialen Selektions-Logik: Wer mit einem gewissen Grund-Optimismus in die Welt schaut, kommt in unserer öffentlichen Welt nicht so recht vor (außerhalb des Schlagersingens). Das fängt schon damit an, dass er nur schwer mitreden kann. Er wird nur selten eingeladen. In Radio, Netz und Fernsehen wird ja weitgehend über die Angst verhandelt, über die Wut, über all das Schreckliche, das uns noch bevorstehen kann. Rentenkatastrophe, Klimakatastrophe, Dieselverbot, Bienensterben – die Liste der Be-Fürchtungen ist endlos.

„Aber müssen wir nicht Angst haben?” ist die meist benutzte Frage in Talkshows, in denen es um Themen der Zukunft geht. Wer so in die Runde hineinfragt, erzeugt natürlich grundlegend angstorientierte Argumentationen. Man denkt ausschließlich vom Problem her. Und das macht noch mehr Angst. Und führt niemals zu Lösungen. Angst erzeugt eine Art natürlicher LEGITIMITÄT, die heutzutage als eine Art Autoritäts-Ersatz dient.

Nicht mehr die Expertise, die Abwägung, die Erfahrung, ist das Zeichen für Kompetenz. Sondern das Ausmaße der Betroffenheit, die jemand ausstrahlt. Angst berechtigt zur Äußerung: Werden auf der Straße Passanten nach ihren Angstzuständen gefragt – ob es um Politik, Rente, Grippeepidemie, Kinderbetreuung, Moralzerfall, Blitzeis oder andere Bedrohungen geht, werden sie leutselig. Fragt man die Hasserfüllten, warum sie Hassparolen verbreiten, sagen sie: Weil wir Angst haben.

»Angst haben« ist selbst dann Pflicht, wenn es auf einer Party oder einem schönen Dinner um den Gang der Dinge geht. Ich habe auf Diskussionen im Freundeskreis schon ganze Angst-Olympiaden erlebt. Man überbot sich gegenseitig mit den Szenarien, vom Weltkrieg 3 über die totale Vereinzelung der Gesellschaft bis zur Nazi-Apokalypse. Die erfolgreichsten Filme müssen uns immer eine horrende Angst einjagen, die meistens, aber nicht sicher, überwunden wird. Angst scheint eine Grundwährung unserer Kultur geworden zu sein. Sie scheint sogar ATTRAKTIV zu sein. Man spricht nicht umsonst von Angstlust.

Aber wovor fürchten wir uns eigentlich? Jede Zeit hat ihre spezifischen Ängste. In den 60er Jahren fürchtete man sich besonders vor UFOS und Atombomben, vor Gammlern und Kommunisten. Um die Jahrtausend­wende vor Inflation und Arbeitslosigkeit, später vor Muslimen. Vor 100 Jahren fürchtete man sich vor Vaterlandsverrätern und »elektrischer Strahlung«. Alle diese Ängste zirkulieren immer wieder aufs Neue durch die humanen Angstgefäße. Heute sind es jedoch im Wesentlichen drei Angst-Komplexe, drei Befürchtungs-Narrationen, die unsere Zukunftsangst beschreiben:

Erstens: Die Angst vor der Künstlichen Intelligenz

Viele Menschen haben den Eindruck, dass uns das Digitale meilenweit über den Kopf wächst. Dass dort im Gewusel der Rechenoperationen und Zusammenschaltungen und unentwegten Beschleunigungen ein neues »Wesen« entsteht, eine anonyme Macht, in der sich die Technologie über den Menschen erhebt. In der euphorischen Variante hat Yuval Noah Harari das in seinem Weltbestseller HOMO DEUS beschrieben: Der Mensch wird durch Technologie zum Gott. Aber wir fürchten uns auch vor Göttern, vor allem, wenn wir sie selber werden. Und deshalb bleibt das mulmige Gefühl, das schon Goethe in seinem Faust ansprach: „Besen, Besen, seid´s gewesen…”

Wir »züchten« dort womöglich eine Technik heran, die uns eines Tages überwältigen wird, die wir nicht durchschauen, die uns versklavt und letztendes überflüssig macht. Harari spricht von der »großen Entkopplung«: Das Individuum werde zu einem Chip in einem Computernetz, Intelligenz löse sich vom Bewusstsein, die Umgebungsintelligenz ist voller Maschinen, die zwar supersmart sind, aber dafür kein Bewusstsein haben – seelenlose Automaten ohne Gewissen, die unser Leben regeln.
Erhätlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3406704018′ template=’WW-ProductLink’ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE’ link_id=’007f7f14-785c-11e8-8592-85b7e3c09624′]

Wir trauen uns Menschen nicht allzu viel zu im Verhältnis zu den Maschinen.
Ins Gesellschaftliche der Gegenwart weist diese Angst mit der ständig wiederholten Aussage, Roboter und Digitale Systeme würden »demnächst« mindestens die Hälfte aller Jobs »wegfressen«. Wir werden alle, früher oder später, durch die Macht der Maschinen obsolet gemacht.
Das allerdings ist die größte Angst des Menschen, gewissermaßen seine Urangst: Überflüssig zu sein.

Zweitens: Die Angst vor dem Zusammenbruch der Zivilisation

Diese Furcht wird oft mit der Metapher von der DÜNNEN KRUSTE beschrieben: Unter der Oberfläche unserer scheinbar so zivilisierten und harmlosen Welt brodelt es vulkanisch. Wird nicht alles immer unfriedlicher? Ruppiger? Aggressiver? Hat so eine Art Fieber die Menschheit befallen? Die Idee, dass der Konsens, der uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, brüchig geworden ist, ja zur Disposition steht, ist weit verbreitet. Mehren sich nicht die Zeichen weltweit, dass eine Epoche des Unfriedens anbricht? Konflikte, Chaos zwischen den Großmächten, ein Terrorismus, der mit Lastwagen Passanten überfährt, dazu die politischen Polarisierungen, die Erregungs-Epidemien und Hass-Orgien des Internet. Dass unsere Kinder es „nicht mehr so gut haben werden wie wir”, diese fast schon selbstverständliche Angst, hat vor allem mit der Vorstellung zu tun, dass Wohlstand eine Einmaligkeit der Geschichte gewesen sein könnte.

Drittens: Die Angst vor der »Rache der Natur«

Die dritte große Angst-Erzählung ist schon ein wenig älter, aber sie hat einen noch archaischeren Kern. Sie handelt von der Rache der Natur. Dabei geht es nicht nur um Angst, sondern auch um Schuld; eine unschlagbare Mischung. Konzentriert ist diese Angst im Begriff der »Klimakatastrophe«. Dahinter steht aber mehr: Unser überbordender, ja perverser menschlicher Lebensdrang, unser exzessiver Konsum, der sich offensichtlich durch nichts und niemand zügeln lässt, MUSS demnächst in eine weltweite Katastrophe führen. Das Ende der Menschheit durch den Aufstand des Planeten. Wir sind alle Sünder auf dem verletzlichen Planeten Erde. Leuchtet das nicht ein? Sind nicht längst Zeichen an der Wand – Tornados im Winter, abbrechende Eisschelfe, Feuer in Kalifornien, Oder heftiger Schneefall in Tirol im April. Im Zeichen der nahenden Naturkatastrophe wird alles zum Zeichen. Selbst das – ja gerade das – was es immer schon gab.

Man könnte jetzt beschwichtigen. Relativieren. Einwände suchen. All diesen negativen Modellen liegen in der Tat Täuschungen, Missverständnisse, kognitive Verzerrungen, teilweise auch Interessen zugrunde. Sie repräsentieren gleichzeitig archaische Ängste, die unsere Ur-Ur-Vorfahren wohlmöglich wohl schon in ihrer Höhle gehabt haben. Aber es geht hier nicht so sehr um Widerlegungen. Angst ist niemals unberechtigt. Es lohnt sich allerdings, wenn wir der Angst SELBST einige Fragen stellen:

  • Sind die Ängste wirklich das meinen, was sie zu meinen scheinen?
  • Sind die »Verhältnisse« Ursache der Angst – oder sind es wir selbst?
  • Fürchten wir uns tatsächlich vor dem RICHTIGEN?

Nehmen wir die Künstliche Intelligenz. Wer jemals ein KI-Labor von innen gesehen hat – ich hatte dieses Privileg – der weiß, dass es sich um eine Entwicklung ganz im Anfangs-Studium handelt. Computer »denken« nicht, sie sammeln emsig und sehr schnell Daten, die sie nach bestimmten Algorithmen sortieren – unter menschlicher Anwendung. Auch das »deep learning« ist weniger mysteriös als gedacht – es geht darum, mehrere prozessuale Ebenen zusammenzuschalten. Selbst wenn heute Roboter Trompete spielen und wie Kampfroboter durch die Luft hüpfen – einem Blechkameraden das elegante Laufen beizubringen ist immer noch eine unglaublich schwierige Angelegenheit.

Eine viel schwierige Wahrheit über die Zukunft könnte lauten: Wir sind den Computern völlig egal. So egal, dass wir noch nicht mal von ihnen unterdrückt werden wollen.

Unsere Angst vor dem Amoklauf der Künstlichen Intelligenz basiert nämlich auf einem Anthropomorphing-Prozess: Wir projizieren menschliche Eigenschaften in die Welt der Chips und Bytes. Eigentlich fürchten wir uns vor uns selbst. Im Zentrum des Künstliche-Intelligenz-Hypes steht eine fundamentale Verwechselung. Ein Kategorien-Irrtum. Das ist das, was Niklas Luhmann einmal als den Versuch eines Bauern beschrieb, Bratkartoffeln zu züchten. Wir verwechseln Intelligenz und Bewusstsein. Intelligenz ist die Fähigkeit eines Systems, operative Aufgaben zu lösen. Beispiel Schach- oder Go-Spiel. Demnächst auch Autofahren. Das kränkt uns womöglich ein wenig: dass Computer jetzt das tun, auf das wir so stolz waren: Das Steuer halten. Autofahren ist eben ein Algorithmus. Im Umkehrschluss weisen wir Systemen, die Auto fahren, »unsere« Intelligenz zu. Und fertig ist der KI-Irrtum.

Der amerikanische Philosoph und Informatiker David Gelernter, der sich sein Leben lang mit dem Mythos der Künstlichen Intelligenz auseinandergesetzt hat, formulierte in einem Interview: „Die zerstörerischste Analogie der vergangenen Jahre ist es, das Gehirn als eine Art organischen Computer und den Geist als seine Software aufzufassen.” Das menschliche Hirn unterhält eine FLUIDE Form der Weltbetrachtung, die Computer oder Roboter nur haben könnten, wenn sie das hätten, was Menschen ausmacht: Fleisch, Sterblichkeit. Schmerz – Gefühle eben. Gefühle erzeugen Motivationen, Ziele, Hoffnungen – und die Lüge.

Einen Garten anlegen, indem man Natur spürt, eine Familie mit allen Nöten und Sorgen aufziehen, lieben – das werden Computer nie können. Das in Jahrmillionen entstandene Fühl-Hirn des Menschen mit seinen zahlreichen inneren Differenzierungen abzubilden, wird IRGENDWANN vielleicht gelingen. In tausend Jahren, wenn wir über eine bionische Technologie verfügen, in der wir organische Hirne nachbauen können, oder Prozessortechniken mit extremen Variabilitäten. Aber dann müssten wir die Körper gleich dazu bauen. Und am Ende WÄREN sie dann Menschen. Spätestens dann ergäbe das Wort der »Künstlichen Intelligenz« aber keinen Sinn mehr. Denn wäre es künstliche Natur. Und genau dann würden wir aufhören, es zu tun. Denn wozu, verdammt, sollten wir uns selbst kopieren?

Vielleicht fürchten wir uns in Gestalt der Künstlichen Intelligenz auch noch vor etwas ganz anderem. Vor der Brüchigkeit, der Unordentlichkeit, unseres menschlichen Seins. Künstliche Intelligenz funktioniert wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst zu erkennen versuchen. Das wird deutlich, wenn wir die zahlreichen Filme betrachten, die es zum Thema gibt: Ob Stephen Spielbergs »KI« oder Kubricks »2001« oder die neueren Streifen wie »HER« und »EX MACHINA«: Immer gaukeln uns die intelligenten Maschinen eine Menschlichkeit vor, die wir in uns gar nicht spüren können. In vielen dieser Geschichten erweisen sie sich am Ende als humaner als wir. Und die eigentlichen Maschinen, die Roboter ihrer Gier, oder Sehnsucht, oder Dummheit, sind wir! Wir stellen wir den Computern eine im Grunde narzisstische Frage: Wie MASCHINENHAFT sind wir Menschen selbst?

Und der große zivilisatorische Zerfall? Hier hilft uns, wenn wir uns denn helfen lassen, tatsächlich ein nüchterner Blick auf die Datenlage. Hans Rosling, der Großmeister der globalen Daten, ein erleuchteter Mediziner und Statistiker aus Stockholm, dem es Zeit seines Lebens wichtig war, die Welt über die WAHREN Trends aufzuklären, hat uns in seinem Posthum-Buch »Factfulness« ein wunderbares Erbe hinterlassen. Das fundierte Wissen darüber, wie sich die globalen Zustände langsam, graduell, durchaus mühsam, aber am Ende doch verbessern. Von der Kindersterblichkeit über die Frauenbildung bis zur Welt-Ernährungslage, selbst in Sachen Mord, Krieg und Totschlag, leben wir heute in einer tendenziell immer besseren Welt.
»Factfulness« ist erhältlich bei: [amazon_link asins=’3550081820′ template=’WW-ProductLink’ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE’ link_id=’ecef5741-785d-11e8-9a5b-9d5b58c813fd’]

Wer dieser geradezu unverschämten, ja schockierenden These weiter folgen will, der kann auch Stephen Pinkers ENLIGHTENMENT NOW lesen. Ein gewaltiges Kompendium über die Zähigkeit, die Resilienz des Zivilisations-Prozesses, eine elegante und eindringliche Verteidigung des Fortschritts.
»Enlightenment Now« ist erhältlich bei: [amazon_link asins=’310002205X’ template=’WW-ProductLink’ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE’ link_id=’1bbe8628-785e-11e8-8b23-8914134566e6′]

Zivilisation, so die These dieser ganzheitlichen Ansätze, ist kein linearer Prozess. Die menschliche Kultur ist vielmehr ein selbstlernendes System, dass immer auch durch Krisen zu Evolutionsschüben herausgefordert wird. Ohne Krisen kann der Fortschritt nicht entwickeln. Krisen sind Elemente der Evolution, auch der menschlich. zivilisatorischen Evolution. Aber die Kräfte der Selbst-Stabilisierung, die in jedem komplexen System wirken, vom menschlichen Körper bis zur Demokratie, sind unglaublich zäh und subtil. So, wie wir uns im Laufe unseres eigenen subjektiven Lebens immer wieder häuten und wandeln, und dabei Krisen wie Pubertät, Midlife-Crisis und Reifungskrise durchleben, geht es auch mit der Demokratie, dem sozialen Zusammenhalt, der Globalisierung.

Ich treffe immer wieder Menschen, die die Angst vor Terror, Zusammenbruch, Krieg, Pleite und Weltwirtschaftskrise mit einer bestimmten Art von elitärer Hochmütigkeit verbinden. Sie lassen sich auf keinen Fall in ihrem Urteil beirren, dass »der Mensch« zum Untergang verurteilt ist. Weil »er« zu roh, zu primitiv ist, zu dumm, zu blöde, zu gierig, zu geil, zu vernetzt ist.

Mir fällt auf, dass diese Menschen so wirken, als bekämen sie selbst die lustvollen und irrationalen Kräfte in ihrem Inneren nicht so ganz in den Griff. Als ob das, was sie anprangern, sozusagen in ihnen selbst tobt, und sie sich mit ihrem Hochmut, der generellen Abwertung aller anderen, davon entledigen wollen. Die Angst vor dem Zivilisations-Zusammenbruch dient womöglich dem Zusammenhalten unserer inneren Zivilisation. Jenes Konvoluts von Wünschen, Ängsten und Begierden, aus dem unser fragiles Selbst geformt ist. Wir alle sind ängstliche Menschen, die sich kaum beherrschen können, und deshalb gerne anderen die Beherrschungs­fähigkeit absprechen.

Es gibt ein Wort für diese Haltung: Kontinuitätsanspruch. Wir wollen das, was wir erreicht haben, möglichst ungestört genießen können. Am liebsten alleine. Wir schauen nur auf uns, und meinen, die Welt zu sehen. Dass Andere womöglich auch das Drängen nach Wohlstand, Freiheit, Anderssein haben, kommt uns nicht in den Sinn. Alles soll so bleiben, wie wir es kennen, wie wir es gewohnt sind. Arm und Reich, Mann und Frau, Links und Recht. Eine solche Weltsicht verwechselt die eigene Komfortzone mit der Wirklichkeit. Und macht alle Zeichen, die auf Wandel, Veränderung hinweisen, generell zu katastrophischen Zeichen. Wir fällen Urteile, bevor wir hinsehen. Vielleicht aber ändert sich die Welt nicht nur ins Schlechte hinein. Vielleicht hat die Unruhe einen Grund. Die Ursache für diese Unfähigkeit, Wandel als das zu sehen, was er ist, liegt in unserem inneren Altwerden.

In der kulturpessimistischen Zukunftsangst versteckt sich ein inneres Vergreisen. Wir selbst, unsere Gesellschaft, werden alt, wenn wir das Neue nicht mehr spüren können, das Lied nicht mehr hören, das, wie man so schön sagt »in den Dingen wohnt«. Wenn wir nicht mehr wahrnehmen, wie unglaublich vieles sich verbessert hat. Und weiter verbessert, im Kleinen und manchmal auch Großen. Wenn wir uns nicht mehr WUNDERN können, wie viel tatsächlich funktioniert, allen Unkenrufen zum Trotz. Manchmal hilft es schon, bewusst dran zu denken, wie unglaublich viele Menschen liebevoll und respektvoll zueinander sind, in allen Kulturen, zu allen Zeiten, unter allen Umständen. Oder sich daran zu erinnern, wie chaotisch und aggressiv und unsozial wir selbst in unserer eigenen Jugend waren. Nur, weil wir all dies nicht IN UNS SELBST spüren können, ist die Zukunft noch lange nicht verloren.

Wenn wir diesen Effekt verstehen, können wir auch andere Zukunfts-Narrative besser begreifen. Nehmen wir die Angst vor dem Verlust der Arbeit. Ist das nicht ein uralter Hut? Schon seit dem Mittelalter, mit dem Beginn der Lohnarbeit, haben Menschen ihre Arbeit verloren. In der ersten industriellen Revolution verloren Millionen Menschen ihre Arbeit, man denke an die Weber, deren Job den mechanischen Spinnstühlen zum Opfer fiel. Von den Berufen wie Fließbandarbeiter oder Bergmann, in denen vor Jahren noch Millionen Lohn und Brot standen, ist kaum mehr etwas übrig. Aber ist das nur Verlust? Ist das nur schlecht? Trotzdem – oder gerade WEGEN – des technologischen Fortschritts gibt es heute mehr Jobs, mehr Berufe, mehr Tätigkeitsformen denn je. Unsere Berufswelt blüht von einer industriellen Monokultur zu einer unglaublich vielfältigen Art und Weise auf, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und sich dabei zunehmend auch im Beruf schöpferisch zur verwirklichen. Die Erwerbsbeteiligung in allen hochautomatisierten Ländern – Japan, Deutschland, Südkorea – ist die höchste. Ist das Zufall?

Im Laufe der industriellen Revolution haben Menschen Schritt für Schritt gelernt, mit Maschinen zusammen zu arbeiten. Sie wurden dadurch entlastet, und neue Lebensformen, Biographien mit mehr Freiheits-Optionen entstanden. Tausend neue Berufsformen sind allein in den letzten Jahrzehnten entstanden. Und genauso wird es auch im digitalen Wandel sein: Supermärkte ohne Kassen schaffen vielleicht die Kassen-Verkäuferinnen ab. Aber erzeugen jede Menge neuer Jobs, vom »Service-Provider« bis zum »Shop-Assistant«. Heute schon gibt es viele Unternehmen, in denen die Mitarbeiter längst Seite an Seite mit Robotern arbeiten. Dabei steigt die Lebens- und Arbeitszufriedenheit, die Diversität der Arbeitsformen. Co-Boting nennt sich dieser Trend.

Bleibt die Angst vor dem ökologischen Kollaps? Auch hier machen wir uns selbst klein, trauen uns nichts zu. Warum sollte es nicht möglich sein, den CO2-Ausstoß zu reduzieren? Die Vorstellung, mit unseren bösen Taten »den Planeten zum Kippen« bringen können, wirkt wie eine umgedrehte Größenwahn-Phantasie.. Wir könnten auch erkennen und verstehen, wie Technologie mehr und mehr SELBST zur Natur wird: Die alten Energie- und Rohstoff-Knappheiten, die das Industriezeitalter prägten, verblassen. Mehr und mehr lernen wir mit Hilfe von Technologie geschlossene Rohstoff-Kreisläufe herzustellen, »Cradle to Cradle«. Und in einigen Jahrzehnten werden Licht, Luft und Gezeitenkräfte mehr nachhaltige Energie zur Verfügung stellen, als die Menschheit je verbrauchen kann. Jeden Tag strahlt alleine die Sonne millionenfach mehr Energie auf die Erde, als die Menschheit verbrauchen kann, selbst wenn alle Autos elektrisch fahren. Die Erde ist, anders als im angst-ökologischen Weltbild, eben kein geschlossenes, sondern ein offenes System.

Wie also könnte man nun die Zukunftsangst überwinden? Es ist die Frage, ob »überwinden« der richtige Begriff ist. Wenn es stimmt, was uns die Evolutionspsychologen sagen, dann ist die Angst eine genuine Errungenschaft unserer Art. Angst hat evolutionsbiologisch die Aufgabe, uns wach zu halten. Angst ist der »Schwindel der Vernunft«, wie Kierkegaard formulierte. »Die Kammerjungfer der Kreativität« (T. S. Eliott). Angela Carter nannte sie »den Beginn des Bewusstseins«. Die amerikanische Angstforscherin Sally Winston definiert sie als: „Die Anwesenheit von Unvorhersagbarkeit, Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit“. Also eigentlich auch das, was das Leben von einem Computerprogramm unterscheidet. Hier die Definition aus dem medizinischen Thesaurus:

Angst ist eine multisystemische Reaktion auf eine empfundene Bedrohung oder Gefahr. Sie bündelt eine Kombination biochemischer Veränderungen im Körper, in Bezug auf die persönliche Geschichte des Patienten sowie seine soziale Situation. Menschliche Angst beinhaltet die Fähigkeit, das Gedächtnis und die Imagination zu benutzen und vorwärts und rückwärts in der Zeit zu reisen; ein großer Anteil der menschlichen Angst ist durch die Antizipation kommender Ereignisse erzeugt. Ohne das Gefühl einer persönlichen Kontinuität könnten Menschen den »Rohstoff« der Angst nicht erzeugen.
Quelle: Free Online Medical Dictionary, Thesaurus and Encyclopedia.

Angst macht uns also im Endeffekt kreativ. Aber nur, wenn wir sie richtig gebrauchen. Es geht darum, die Angst auszuhalten, ohne ihr anheim zu fallen. Gewissermaßen auf ihr zu »surfen«. Aber wie geht das?

Zunächst müssen wir uns vom ewigen Streit zwischen »Pessimismus« und »Optimismus« verabschieden. Er ist ungünstig, weil er uns immer wieder auf falsche Fährten führt.

Optimismus tendiert zur Blauäugigkeit. Als Welthaltung neigt Optimismus dazu, das Schlechte und Schreckliche zu ignorieren und das Negative verdrängen. Das führt zu groben Fehlern, wie man an der Bankenkrise von 2009 ablesen kann, die von bedingungslosen, und dabei egoistischen Optimisten verursacht wurde. Optimismus hält das Schlechte schlechterdings für irrelevant, und lässt sich dabei durch nichts aus dem Konzept bringen. Das ist bewundernswert, aber auch ignorant und wenig konstruktiv. Zwar kann Optimismus ansteckend sein und auf kurze Sicht motivieren. Aber danach wird die Sache immer schwerer.

Im Gegensatz dazu ignoriert der Pessimismus wiederum die Möglichkeit des Positiven. Seine eigentliche Strategie – und Attraktivität – beruht darauf, dass er eine Art Super-Position einzunehmen versucht. Er hält immer den worst case im Blick. Er sieht alles Schlechte schon voraus. So ist man – denkt man – auf alles vorbereitet. Man kann die Kontrolle nicht verlieren. Am besten drücken das die in Amerika beheimateten, aber auch hierzulande langsam wachsende Prepper-Bewegung aus. Menschen, die sich mit Gewehren bewaffnen, Vorräte im Keller horten, Autos mit Vollgummireifen kaufen und sich auf die kommende Apokalypse vorbereiten. Sie sind auf eine spezifische Weise fröhlich, weil sie glauben, alles im Griff zu haben. Sie sind sozusagen immun gegen die Katastrophe, weil sie sie permanent vorwegnehmen.

In uns allen wohnt sozusagen ein Prepper, der glaubt, sich durch Vorbereitung von Unerwartetem befreien zu können. Aber geht die Rechnung auf? Wer sich schon Wochen vorher in allen erdenklichen Möglichkeiten auf alle möglichen schrecklichen Erfahrungen auf dem Zahnarztstuhl vorbereitet hat – lindert der seine Schmerzen? Im Gegenteil. Die Prepper haben ihren Spaß HEUTE, in der nicht-apokalyptischen Welt, in der sie eine Art männlicher Pfadfinder-Existenz führen dürfen (in der Männer noch echte Männer sind). Nach der Apokalypse würde ihnen ziemlich schnell der Sprit ausgehen.

Gegen diese beiden polaren Welt-Haltungen möchte ich den POSSIBILSIMUS ins Feld fühlen. Dabei handelt es sich nicht um eine dezidierte MEINUNG, oder ein Ideologisches URTEIL über die Welt, wie Pessimismus und Optimismus. Sondern um eine innere Haltung der Zukunfts-Flexibilität.

Die Wortschöpfung POSSIBILISMUS, vom englischen »possible« = möglich, stammt von Hans Rosling, dem oben erwähnten Magier der Globalen Daten. Rosling »erfand« das Wort, weil er genervt war, dass alle Journalisten ihn immer nur fragten, wie er denn um Himmels Willen „so optimistisch sein könne”.


© Gapminder Foundation

Seine Antwort: „I’m not am Optimist, I’m not a Pessimist, I am a very serious POSSIBILIST!”

Auf einem seiner legendären Vorträge im Jahr 2010 schluckte Hans auf der TED-Bühne ein Schwert und rief: „This will prove, that the seemingless impossible ist absolut possible – like erasing poverty!”. Ich will beweisen, dass das Unmögliche möglich ist – wie die Armut abzuschaffen.

Possibilismus hält positive Entwicklungen einfach für möglich. Aber anders als der Optimist postuliert er sie nicht. Er weiß, dass es Anstrengungen bedarf, und dass man manchmal durch Krisen hindurchmuss. Er weiß, dass es das schlechte und das Böse gibt, und wir damit rechnen müssen.

Possibilismus heißt, dass wir unsere inneren Muster wieder der echten Welt annähern. Wir ERWARTEN nicht mehr so viel – und sind dann enttäuscht, wenn die Welt nicht so ist, wie wir sie uns wünschen. Es ist nämlich DIESE Diskrepanz, die Diskrepanz der KONZEPTE, die uns wahrhaft die Angst macht. Als Possibillisten können wir gelassener mit notwendigen Ent-Täuschungen umgehen. Wenn die Welt nicht so will, wie wir es gerne hätten, sind wir weniger frustriert. Und neugieriger auf das, was trotzdem kommt.

Die Welt ist, wie sie ist. Sie birgt Schreckliches. Und Schönes. Vor allem kann sie besser werden. Das hat sie bewiesen.
Wir können etwas tun. Nicht alles, aber eine ganze Menge.
Wir können STAUNEN!

Possibilismus übt eine Form der erwachsenen Naivität. Er verachtet nicht das Kleine und Banale, um das Große zu verherrlichen. Possibilisten brauchen keine Utopien. Züge fahren viel öfter pünktlich als man denkt. Menschen lieben sich erstaunlich häufig – und gründen Familien, in denen erstaunliches Glück und Vertrauen herrschen kann. Politiker sind viel weniger korrupt und dumm, wie wir denken. Menschen werden nicht nur alt und grantig, sondern wandeln sich auch erstaunlich zum Besseren. Ist das nicht ein Wunder, wie jeden Tag plötzlich Dinge sichtbar werden, wenn wir sie für MÖGLICH halten?

Possibilismus lässt sich überraschen, statt die Welt auf ein Prinzip festzunageln. Wie vielfältig, lebendig, hoffnungsvoll können große Städte sein – gerade, wenn sie rau erscheinen und Ungleichheit erzeugen, erzeugen sie auch Schönheit, Differenz, Kreativität! Wie fantastisch gut funktionieren viele Firmen! Wie viel Schreckliches passiert NICHT! Wie viel mehr Terroranschläge könnte es geben wie viele Scheidungen finden NICHT statt, wie viele Unfälle sind verhindert worden! Dass 40.000 Passagierflugzeuge pro Tag starten und landen, ist keine Meldung wert, aber dennoch ein Wunder, entstanden aus menschlicher Kooperation und Schöpferkraft.

In seinem großen Werk »The Age of Anxiety« – das Zeitalter der Angst – aus dem Jahr 1948 beschäftigte sich der britische Poet Wystan Hugh Auden mit der Bedeutung der Angst im menschlichen Leben. Der poetische Dialog spielt in einer Bar der Kriegszeit in New York, und vier Charaktere – Quant, Rosetta, Malin und Emble – konfrontieren sich darin mit der Weltgeschichte. Alles beginnt düster, eine Welt des Grauens scheint die Wirklichkeit zu bestimmen. Doch dann beginnen die Protagonisten zu begreifen, dass die Angst nicht verschwindet, indem man die Welt ständig zu verändern versucht. Sondern indem man die inneren Bindungskräfte stärkt, die Sympathie untereinander – in gegenseitiger Liebe zu sich selbst, zum Fremden, zur Welt. Sie entwickeln das Konzept des »Lokalen Verstehens«.
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’069113815X’ template=’WW-ProductLink’ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE’ link_id=’870252e2-7860-11e8-aa67-91f8666f5a0a’]

Audens berühmteste Verse aus “Age of Anxiety” lauten:

We would rather be ruined than changed
We would rather die in our dread
Than climb the cross of the moment
And let our illusions die.

Wir würden uns lieber ruinieren, als uns zu ändern
Wir würden lieber in unserer Furcht sterben
Als den Gipfel des Moments ersteigen
und unsere Illusionen sterben lassen.

Kluger Possibilismus weiß vor allem das: Es sind WIR, die die Zukunft machen. Es gibt keinen Megatrend, keinen Weltgeist, keine Formel und kein Prinzip, das uns die Zukunft vollständig erklären kann. Die Zukunft entsteht aber zuverlässig, wenn wir uns von unseren inneren Illusionen verabschieden. Und die Welt gemeinsam mit neuen Augen sehen. Sozusagen von vorne aus, aus der Zukunft, aus dem Werden, das wir selber sind.

Ich freue mich über Nachdrucke oder Links zu meinen Texten - bitte kontaktieren Sie Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com.