Neurofuturismus

Skizzen zu einer neuen Disziplin der Zukunftsforschung

Dezember 2018

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wir WIR sind.
Anaïs Nin

Gratuliere!
Sie haben das komplexeste Gebilde des Universums in ihrem Kopf.
Aufgefaltet in Millionen von Jahren Evolution hat sich das humane Hirn zur komplexesten Struktur des Universums entwickelt – so ausgedehnt wie ganze Galaxien-Cluster. Das Hirn mit seinen rund 100 Milliarden Neuronen und zwanzig Mal so vielen Synapsen ist das System mit den meisten Freiheitsgraden. Sozusagen eine neuronale Hypermaschine. Es kann 10 hoch 28 Vernetzungszustände annehmen, das sind mehr als Moleküle im ganzen Universum vorkommen.

All diese Komplexität dient vor allem einem Zweck: Ihr Hirn ist ein Vorhersage-Apparat.

Haben Sie heute schon einmal über die Zukunft nachgedacht? Natürlich haben Sie das. Sie tun es dauernd. Jede Sekunde. Rund um die Uhr. Auch, wenn sie es gar nicht merken. Ihr Hirn blickt dauernd nach vorne. Es checkt, vermutet, baut Bilder, Modelle, träumt, visioniert, prüft Annahmen. Es will wissen was kommt. Und wenn es nur das Fernsehprogramm von heute Abend ist, oder was es demnächst zu essen gibt. Überall in ihrem Hirn wabern Prognosen. Das Hirn macht sich Sorgen. Ständig. Aber es konstruiert auch dauernd an Lösungen herum.

Das macht es alles nicht zum Spaß. Sondern weil es von der Evolution geschaffen wurde, einen Überlebensvorteil zu generieren.

Das Homo-Sapiens-Hirn hat durch seine außergewöhnliche Fähigkeit, Phantasien über das Morgen herzustellen, zu träumen, zu konstruieren und zu vermuten – mit anderen Worten kreativ zu sein – was einen offenen Evolutionsweg für unsere Spezies ermöglicht. Nietzsche: „Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier”.

Im Gegensatz zu unseren Verwandten, den Neandertalern, verläuft die Geschichte des Homo Sapiens alles andere als »nachhaltig«. Die Neandertaler waren ein Menschenstamm, mit dem unsere Vorfahren vor 50.000 Jahren immer wieder zu tun hatten, wahrscheinlich hatten Sapiens und Neandertaler sogar Sex miteinander. Die Neandertaler waren eine sehr soziale, emphatische Spezies. Wir wissen, dass sie in kleinen Gruppen eng beieinander lebten und ihre Höhlen und Lager selten verließen. Neandertaler hatten riesengroße Augen, mit denen sie sich wahrscheinlich gerne und oft zärtlich gegenseitig anschauten.
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Im Vergleich zum Homo Sapiens hatten sie deutlich weniger Hirnmasse, aber mehr sensorischen, sinnlichen Input. Und ihr Hirn verfügte über weniger Kapazität zum Aufbau differenzierter sozialer Beziehungen. Sie waren »heimischer«. Neandertaler lebten in deutlich kleineren Gruppen. Während der 70.000 Jahre, in denen sie in Europa lebten, veränderte sich ihre Zahl und ihre Verbreitung kaum. Sie kannten das Feuer und einige primitive Werkzeuge. Wahrscheinlich dekorierten sie auch Ihre Höhlen. Aber all das bliebt über Äonen ziemlich gleich.
Die Neandertaler waren in ihrer Gegenwart, ihren Lebensweisen, ihrer evolutionären Nische gefangen.

Dagegen vermehrte sich der »Homo Sapiens Sapiens« mit seinem unruhigen Geist kräftig. Ständig erweiterte er sein Territorium. Er erfand neue Waffen, Fallensysteme, Bauweisen, Keramik. Er experimentierte mit Gewalt in allen kollektiven und individuellen Formen, mit Expansionen und neuen, verdichteten Siedlungsformen.

Er lebte wie man so schön sagt, nicht nachhaltig in seiner ökologischen Nische. Er erzeugte vielmehr ständig neue Umwelten, an die er sich dann selbst anpasste. Dazu nutzte er seinen Future Mind
– seine spezifische Fähigkeit zur Vorausschau und Voraus-Sicht.

Das Zukunfts-Konnektom

Wie aber funktioniert sie nun neurologisch, diese Zukunftsmaschine im Kopf? Es sind vier Instanzen, in deren Wechselspiel sich die Zukunft in uns generiert:

  • Die Amygdala:
    Diese kleine Drüse am Übergang von Stammhirn und Haupthirn ist die Schaltstelle für Gefahren, der Wächter des Lebenserhalts, die Alarmglocke. Wenn eine Gefahr für die Existenz droht, löst die Amygdala eine Kaskade von Erregungs-Molekülen aus. Dann werden die körperlichen Funktionen hochgefahren, die auf Flucht oder Kampf vorbereiten sollen.
  • Der Hippocampus:
    Der Langzeit-Gedächtnisspeicher, in dem unsere Erinnerungen »gelagert« sind. Man darf sich diese Lagerung aber nicht als eine Fixierung im Sinne eines Festplattenspeichers vorstellen. Wenn wir »erinnern«, sucht der Hippocampus aus den unterschiedlichsten Teilen des Hirns Material zusammen. Erinnerung ist deshalb immer eine Fiktion, eine unmittelbare Produktion – kein simples Abrufen!
  • Der frontale Kortex:
    Diese evolutionär jüngste Hirn-Schicht ist sozusagen die Meta-Struktur, die Koordinationszentrale, in der aus den verschiedenen Teilen unserer neuronalen Existenz eine Kohärenz hergestellt oder konstruiert wird. In diesem geschichtlich neuesten Teil der Hirnarchitektur sind die Neuronen am komplexesten vernetzt. Der »Präfrontale Cortex« funktioniert wie ein Beobachter; der die Aktivitäten von Amygdala und Hippocampus bewertet und spiegelt. Er dient als eine Art Meta-Instanz, als Kognitives Korrektiv: Ist diese Angst berechtigt? Könnte es sich nicht doch um ein fallendes Blatt statt einer Baumschlange handeln?
  • Das “Mittelhirn” (aera tegmentalis ventralis, VTA):
    Hier verorten Hirnforscher die Gefühle, hier sitzt auch das Belohnungs-Zentrum, das uns motiviert, zu handeln, Ziele zu setzen, Veränderung zu wagen. Das Mittelhirn »läuft« weitgehend auf Dopamin, dem Liebes- und Belohnungs-Molekül. Dopamin hält uns lebendig, es ist unsere »Vitalitätsdroge«. Dopamin, beziehungsweise sein Fehlen, steht im direkten Zusammenhang zu Suchtverhalten, Depression, Liebe und anderen Leidenschaften, wahrscheinlich auch zu Verbrennungsmotoren, Rotwein oder Tanz.

Im Zusammenspiel dieser vier Elemente – Angst, Erinnerung, Gefühl, Einordnen – entstehen unsere Zukunfts-Bilder. Es ist der permanente Dialog – oder Quattrolog – der vier Instanzen, der unser tempospatiales Bewusstsein ausmacht – unser Bewusst-Sein in Raum und Zeit. Unser Weltbild ist letzendes nichts anderes als eine Konstruktion, die durch die Projektion dieses Prozesses nach außen entsteht:

Das Erwartungsmodell

Anil Seth, ein Kognitionspsychologe, hat in seinem TED-Vortrag “Your brain hallucinates your conscioius reality” den Charakter des Hirns als Erwartungsmaschine geschildert.

Jedes Mal, wenn wir mit einer Erkenntnis-Aufgabe konfrontiert werden gleicht unser Hirn das, was es wahrnimmt, mit inneren Modellen ab. Das berühmte »Schachbrett-Experiment« beweist, wie sehr wir dabei daneben liegen können. Weil wir bestimmte Muster »überprognostizieren« – wir stülpen unsere Modelle ohne große Umstände auf die Realität. Wir sehen das, was wir erwarten.

Original: Edward H. Adelson, vectorized by Pbroks13, from Wikimedia Commons

Beide Felder a und b sind genau gleich grau. Natürlich glauben Sie das nicht. Der Schatten, den das grüne Objekt wirft, treibt uns in eine kognitive Fehlprognose hinein. Wir erwarten einen Unterschied, weil unsere Erfahrung mit Licht und Schatten vom Hirn automatisch korreliert wird. Das Modell (die Erwartung) in unserem Kopf schlägt die Wirklichkeit.

Wenn man einen mittelgrauen Balken über die beiden Felder legt, sieht man plötzlich, dass beide Felder gleich getönt sind. Aber man hält es trotzdem noch für eine Fälschung. Verblüffend, nicht?

Anil Seth formuliert es so: „Wir halluzinieren uns die Welt – und wenn wir über unseren Halluzinationen übereinstimmen, nennen wir das Realität.”
Anil Seth: We predict ourself into existence.

Der Neuro-Futurismus (eine Ergänzung der Zukunftsforschung durch Neurowissenschaft) setzt sich genau mit dieser Art von inneren Irrtümern, Projektionen und kognitiven Dissonanzen auseinander, die zwischen uns und der Zukunft Missverständnisse schafft. Diese Missverständnisse gilt es aber nicht zu kritisieren oder zu eliminieren, sondern zu verstehen. Sie sind letzendes auch Erkenntnisse – Botschaften unseres Minds über die Art und Weise, wie wir als Menschen Realität und konstruieren. Und damit Veränderung erzeugen.

Die neue Disziplin beleuchtet das Verhältnis von Prognose und Welt, von Modell und Erwartung.

Neuro-Futurismus beschäftigt sich auch mit den sozialen und evolutionären Dimensionen der Prognosen. Im Laufe der sozialen Evolution haben sich fundamentale Zukunfts-Mythen herausgebildet, die ihre Ursprünge in den evolutionären Konstruktionen des Menschen haben – sprich: in der Höhle, aus der wir alle stammen. Zivilisatorische Ängste haben eine Funktion, die aus den archaischen Vergangenheiten des Menschen stammen, aber in den Kontexten moderner Gesellschaft vielleicht dysfunktional werden.

Neuro-Futurismus fragt, wie unsere prognostischen Konstruktionen auf dem Wege der Rekursion wiederum die reale Zukunft beeinflussen. Zukunfts-Prognosen wirken auf dem Wege der self-fulfilling prophecy oder der self-denying prophecy auf die Wirklichkeit zurück. Wir erzeugen auf vielfältigen Weisen jene Zukunft selbst, die als wahrscheinlich, zwingend oder befürchtet erscheint!

Neuro-Futurismus sieht die Zukunft als nicht determiniert an. Erzeugt wird die Zukunft (als »Zukünftiges«) zu einem großen Teil durch die »Pro-Gnosis«, durch die Vorschöpfung der Welt durch unseren Geist. „Zukunft beginnt durch neue Sichtweisen.”.

Die zwei Zukünfte

Eine wichtige Grundidee des Neurofuturismus basiert auf der Annahme, dass es nicht nur eine Zukunft gibt. Sondern zwei.
Die äußere Zukunft befindet sich in jenem endlosen und ewigen Möglichkeitsraum, der uns umgibt. Diese Zukunft kann man nur bis zu einem gewissen Grad beschreiben. Es wird nicht gelingen, Zukunft zu präzisieren. Und sie muss unscharf bleiben, denn sonst gäbe ja kein Leben, keine Evolution, keinen Wandel. Sondern nur endgültig Fixiertes und Determiniertes.

Die innere Zukunft besteht in unserer inneren Potentialität. Sie besteht in dem, was ein Mensch werden kann. Wohin er sich zu entwickeln vermag. Ein Begriff wie »Talent« beschreibt diese Kategorie nur unzureichend, deutet aber die Richtung an. Potential meint das, was in mir zur Zukunft drängt. Was sich verwirklichen und entfalten möchte. Man könnte es auch das »innere Zukünftige« nennen.

Ganzheitliche Zukunftsforschung hat nun die Aufgabe, zwischen diesen beiden Zukünften eine Verbindung herzustellen. Unsere inneren Bilder des Möglichen mit dem Wahrscheinlichen und Werdenden in eine Beziehung zu bringen.
Dadurch erst entsteht wahre Zukunft.