Was ist Zukunftsforschung?

Das Endlos-Interview:

Was ist eigentlich Zukunftsforschung?
Und wie verändert sie sich?

Über rekursive, holistische, dynamische, existentielle, narrative, humanistische und andere Zukunftsforschungen – und wie man seinen „Future Mind“ trainiert.
In dieser Dauerkolumne veröffentliche ich Antworten auf Fragen zur Zukunftsforschung.
Ich freue mich, wenn Sie eine Frage hinzufügen. Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, dass es auf alle Fragen auch eine Antwort geben wird…

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© Zukunftsinstitut Horx

Bisher gestellte Fragen:

  1. Der „Future-Mind” – Was ist das?
  2. Sie haben neulich in einem Interview von einer „Zukunftsforschung jenseits von Trends“ gesprochen. Was soll das heißen?
  3. Und was ist mit den berühmten MEGATRENDS?
  4. Was ist das „Future Project“?
  5. Gibt es dazu Vorbilder?
  6. Was bedeutet „Regnose“?
  7. Welche sind ihre wichtigsten „Learnings“ in Bezug auf die Zukunftsforschung?
  8. Was ist „Humanistischer Futurismus“?
  9. Sie haben einmal gesagt: Der Zukunftsforscher darf nicht der Sklave von Business-Interessen werden. Was soll das heißen?
  10. Brauchen wir mehr Optimismus?
  11. Wie geht es der Zukunft heute?
  12. Sie haben einmal vom „spirituellen Aspekt“ der Zukunftsforschung gesprochen.
  13. Ist Zukunftsforschung eine Wissenschaft?
  14. Was TUT ein Zukunftsforscher eigentlich?
  15. Sie sprechen oft von „Innerer Zukunft“? Was meinen Sie damit? Die Zukunft liegt doch immer AUSSEN!
  16. Bitte beantworten Sie in einem Satz, was ZUKUNFT ist!
  17. Wie kann man überhaupt die Zukunft voraussagen?
  18. Was kann man am besten prognostizieren – und was gar nicht?
  19. Sie haben einmal vom „prophetischen Paradox“ gesprochen. Was ist das denn nun wieder?
  20. Gibt es so etwas wie eine Zukunftsformel?
  21. Was ist der Unterschied zwischen Trend- und Zukunftsforschung?
  22. Was ist der Unterschied zwischen einem Propheten und einem Prognostiker?
  23. Kann ein Zukunftsforscher auch irren?
  24. Was war ihr größter Irrtum?

  1. Der „Future-Mind” – Was ist das?
    Als Menschen können wir gar nicht anders, als uns die Zukunft vorzustellen, immerzu, immer wieder, auch nachts im Traum. Unser Zukunfts-Sinn ist das, was uns am meisten von den Tieren unterscheidet und uns im genuinen Sinne menschlich macht. Allerdings kann diese Fähigkeit auch verkümmern. Wenn wir unseren Future Mind nicht trainieren, dann werden wir „flach“, wie leben dann nur noch in einer ewigen Gegenwart ohne Sinn und Tiefe. Zukunftsforschung, wie ich sie sehe, ist auch ein Training dieses Zukunfts-Muskels. Eine Verfeinerung unserer Sensoren für das, was möglich, wahrscheinlich und sinnvoll ist (possible, probable, preferable).
  2. Sie haben neulich in einem Interview von einer „Zukunftsforschung jenseits von Trends“ gesprochen. Was soll das heißen?
    Aus meiner langen Erfahrung als Trend- und Zukunftsforscher muss ich sagen: Trends verführen zum linearen Denken. Zur Illusion, „die Zukunft“ läge immer nur geradeaus, man müsste nur bestehende Tendenzen nach vorne verlängern. Die multiplen Krisen unserer Tage zeigen aber, dass das so nicht stimmt. Die Zukunft entsteht in Schleifen, in „corsi et ricorsi“, wie es der italienische Gelehrte Giambattista Vico schon im 17. Jahrhundert formulierte: Aus fortlaufenden UND rücklaufenden Schleifen.

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    Trends können auch leicht „Faktoide“ sein – Konstruktionen oder Halluzinationen, die einem bestimmten Zweck dienen, etwa dem Marketing. Daraus entstehen dann diese schönklingenden Wortspiele wie „Barbiecore, Mermaidcore, Quiet Chic oder Rich Mom Energy“.

    Der Ausdruck „Faktoid” wurde 1973 von Norman Mailer geprägt, um eine Information zu bezeichnen, die nur aufgrund häufiger Behauptungen als Tatsache akzeptiert wird, obwohl sie nicht wahr ist. Die Historikerin Dion Smythe definierte Faktoide als Tatsachenbehauptungen aufgrund von Primärquellen, die kontextlos bleiben, aber mit Bedeutung aufgefüllt werden. Der Wahrheitsgehalt von Faktoiden entsteht nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus penetranten Aussagen über die Wirklichkeit.

  3. Und was ist mit den berühmten MEGATRENDS?
    Megatrends sind langfristige, breitere, mächtige Wandlungsprozesse, die Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte andauern können und die menschliche Kultur und Zivilisation verändern. Megatrends wie Globalisierung, Individualisierung, Mobilität, Konnektivität oder „Wissensgesellschaft“ haben viele Jahre unser Zukunfts-Vokabular bestimmt. Aber auch hier zeigt sich die lineare Trend-Problematik. Heute erweisen sich viele der Megatrends plötzlich als nicht mehr stimmig. Sie spalten sich, zersplittern, gehen plötzlich in eine andere Richtung. Die Globalisierung funktioniert nicht mehr, Konnektivität geht uns immer mehr auf die Nerven, und wir fragen uns, ob der Trend „Individualisierung“ nicht auf vielen Ebenen zu weit gegangen ist. „Wissensgesellschaft“ ist plötzlich ein hohles Wort geworden, weil Wissen immer mehr digital entwertet und durch „rasende Information“ ersetzt wird, nicht zuletzt durch die Künstliche Intelligenz. Wir durchleben derzeit eine gewaltige Turbulenz, eine „Omnikrise“, die die alten Zukunfts-Bilder und Zukunfts-Erwartungen zerstören. Wir müssen deshalb unsere Modelle anpassen. Wir müssen lernen, besser mit Asynchronität, Unsicherheit, Kontingenz, umzugehen.

    „Das macht nun mal den Homo sapiens aus, Mustererkennung. Eine Gabe, aber auch eine Falle.”
    Die „Trendseherin“ Cayce Pollard in William Gibsons Roman „Mustererkennung“

  4. Was ist das „Future Project“?
    Man kann das „Project“ als eine Expedition in unbekanntes Gelände des Zukunftsdenkens verstehen. Uns interessieren hier vor allem Transformationsprozesse: Wie können sie beginnen, wie können sie gelingen? Wir versuchen, die drängenden, die existentiellen Zukunftsfragen neu zu stellen: Wie erzählt man die Zukunft auf frische Weise? Welche Rolle spielen Narrative? Wie verändern Technologien Menschen? Wie kann man Zuversicht haben, ohne naiv zu sein? Wie knackt man diese Wandel-Verweigerung, diese Veränderungs-Angst auf, die heute die Zukunft so unwahrscheinlich macht? Es geht um „Future Agency“ – die „futuristische Handlungsfähigkeit“.
  5. Gibt es dazu Vorbilder?
    Am ehesten die Think-Tanks der 60er und 70er Jahre, in denen noch radikal interdisziplinär und konzeptionell geforscht und gedacht wurde, ganz egal welche Ergebnisse der Kunde oder Sponsor erwartete. Diese „Denkstätten“ haben die klügsten Köpfe der damaligen Zeit versammelt, und sie haben Gesellschaft und Politik erheblich beeinflusst. Aktuell fällt mir auch das Beispiel der Long Now Foundation ein. Das ist eine Organisation der wichtigsten amerikanischen Zukunftsforscher – mit Kevin Kelly, Peter Schwartz und meinem Lieblings-Futuristen Steward Brand. Die Foundation beschäftigt sich derzeit mit dem Bau einer gigantischen mechanischen Uhr, die „Clock of the Long Now“, die mindestens 10.000 Jahre ticken soll. Es geht bei diesem Netzwerk um das Langzeit-Denken, mit dem Horizont einer langfristigen menschlichen Evolution.
  6. Was bedeutet „Regnose“?
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    Unser Zukunftsbild hängt stark von den PERSPEKTIVEN ab, mit denen wir in die Welt schauen. Und diese Perspektiven sind heute stark von Angst geprägt, von „Problemismus“, von Grübeln. Statt von JETZT aus in die Zukunft zu blicken und dabei immer nur an Problemen, Ängsten und Unmöglichkeiten hängenzubleiben, reisen wir in der RE-GNOSE in eine plausible zukünftige Realität. Und schauen von dort aus zurück in unser Heute, auf unser „Erwartungs-Ich“. Das öffnet unseren „Future Mind“ uns lässt uns den Troll, der immer nur Probleme sieht, überspringen.

    Stellen wir uns zum Beispiel vor, wir würden uns ins Jahr 2050 begeben, in eine post-fossile Zivilisation, die ohne Gas, Kohle und Öl auskommt, die ihr Energiesystem und ihre Materialkreisläufe auf „carbon free“ umgestellt hat. Wir fragen aus dieser Perspektive nicht: Warum KANN das nicht gehen? Sondern: Wie sähe diese Welt aus, wenn sie sich realisiert hätte? Wie sind wir eigentlich dorthin gekommen? Regnose ist eine „Übung des Staunens“, durch die wir mentale Möglichkeitsräume erschließen und unsere eigenen Wahrnehmungsformen kennenlernen.

    In einer Studie mit dem Titel „Die Klima-Regnose“ haben wir diese „Rückschauende Vorausschau“ einmal durchgespielt: Wir haben alle vorhandenen Technologien der Dekarbonisierung in eine Zeitleiste von 2022 bis 2050 gebracht. Und siehe da: Die Energie- und Materialwende ist machbar! Alle Technologien für eine postfossile Welt sind eigentlich längst da, und sie werden sich bis 2050 verbessern und zusammenwachsen. Man kann auf dieser Timeline Hin- und Herreisen – von der Gegenwart in die Zukunft des Jahres 2050 und wieder zurück (inzwischen ist sie schon wieder veraltet, weil neue Verfahren und Techniken dazugekommen sind; wir arbeiten daran).

    Bild „Klima-Regnose” maximieren

    Hier noch ein interessanter Link zum „Perspektiven-Sehen“:
    www.inc.com/nick-hobson

  7. Welche sind ihre wichtigsten „Learnings“ in Bezug auf die Zukunftsforschung?
    Ich interessiere mich momentan stark für den Unterschied zwischen dem NEUEN und dem BESSEREN. Die Frage lautet: Ist das Neue wirklich immer das, was die Zukunft bringt oder ausmacht?

    Man neigt dazu, die Zukunft immer nur als das „radikal Andere“ zu konstruieren. Wir nennen das auch die „Kleine Jungs-Perspektive“: Alles was neu ist, technisch ist, geil ist, räumt das Alte beiseite und ersetzt es. Dieser Ansatz hat immer in die Sackgasse eines hysterischen, sensationistischen Futurismus geführt, nach der Devise: „Morgen werden wir alle mit Neuro-Implantaten rumlaufen und hundertmal intelligenter sein“. Wir nennen das auch „Future Bullshit.“ Zukunfts-Quatsch.

    Viele Veränderungen geschehen aber viel langsamer, als wir glauben. Wandel ist immer graduell, nur sehr selten kommt es zu „Zukunfts-Schüben“, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt – und ob es danach besser aussieht, ist noch sehr die Frage. Die Welt funktioniert nicht nur nonlinear, sondern auch asynchron: Es gibt verschiedene Zeitzonen und Geschwindigkeiten, in denen evolutionäre, soziale, technische, kulturelle Prozesse sich völlig anders vollziehen. Um zu verstehen, wohin die Reise geht, müssen wir eher in der Kategorie des ZUKÜNFTIGEN denken. Wahre Zukunft ist das, was sich evolutionär behaupten kann. Was sich selbst ausgleicht und stabilisiert.

    Ein Zukunftsmodell von Stewart Brand, das „Pace-Layer-Modell“ („Geschwindigkeits-Schichten-Modell“) drückt das aus. Hier wird der Wandel in unterschiedlichen Geschwindigkeiten dargestellt. Krisen entstehen, wenn dieses Schichten „auseinanderfallen“, wenn zum Beispiel die (schnelle) Ökonomie die Natur zerstört also die (disruptive) Technologie die menschliche Kultur zertrümmert. Die Zukunft entsteht durch SYNCHRONISATION unterschiedlicher Geschwindigkeiten, oder auch durch INTEGRATION des Schnelleren in das Langsamere, Nachhaltigere.

    © Stewart Brand

    Stewart Brand beschreibt das so:

    Es ist sinnvoll und realistisch
    sich eine Zivilisation als etwas vorzustellen,
    das gleichzeitig in verschiedenen Geschwindigkeiten funktioniert.
    Mode und Handel verändern sich schnell
    Wie es sein soll.
    Natur und Kultur ändern sich langsam.
    Wie es sein soll. Infrastruktur und Politik begleiten beides
    in einem mittleren Tempo.
    Aber weil wir uns vor allem auf die
    schnell verändernden Elemente konzentrieren
    vergessen wir die wahre Kraft
    in den Sphären der langsamen, tiefen Veränderung.

  8. Was ist „Humanistischer Futurismus“?
    Die herkömmliche Zukunftsforschung beschreibt Zukunft meistens nur aus der Perspektive der Technologie oder Ökonomie: Zukunft, das sind tolle Roboter und fliegende Pixel, aufsteigende Bilanzkurven, jede Menge Künstliche Intelligenz plus Quantencomputer und all die anderen digitalen Verheißungen, die aber meistens entweder nie kommen oder ziemlich böse Nebenwirkungen haben. Soziale, kulturelle, mentale Faktoren werden ausgeblendet. Wir setzen dagegen auf eine Prognostik der Ganzheitlichkeit, bei der wir versuchen, die Interaktion, die tatsächlichen Wechselwirkungen von sozialen, mentalen, technologischen und ökonomischen Faktoren zu modellieren. Dazu ist es unabdingbar, den Menschen, seine Fähigkeiten, Grenzen, tiefen Wünsche, Möglichkeiten und Limitierungen zu verstehen.
  9. Sie haben einmal gesagt: Der Zukunftsforscher darf nicht der Sklave von Business-Interessen werden. Was soll das heißen?
    Es gibt einen riesigen Markt für „erwünschte Zukünfte“ – Prognosen, die einem bestimmten Business-Modell entsprechen, die sich für den Unternehmensprospekt eignen, aber eigentlich nur bestellte Wordings sind. Der schottische Zukunftsforscher Theo Priestley hat das so ausgedrückt:

    „In a relentless pursuit to be accepted as a tool of the corporate and political world, futurists became just another bunch of McKinsey knock-offs, using their methods to ensure that their current employer can hit their KPIs and Quarterly results, or strategise…”
    „Where have all the futurists gone?”
    daysoffuturespassed.com

    Das ist ein bisschen bösartig formuliert. Aber die holistische Zukunftsforschung kann eben nicht nur das Ökonomische berücksichtigen, es muss vor allem ZUSAMMENHÄNGE beschreiben und aufdecken. Und das kann manchmal wehtun.

  10. Brauchen wir mehr Optimismus?
    Optimismus kann auch ganz schön blöd sein, nach der Devise „Alles wird gut, wenn Du daran glaubst!“ Das finde ich naiv und gefährlich. Mein Sohn Tristan spricht vom „wütenden Optimismus“, also einer Haltung, die auch Emotionen, Engagement für eine sinnvolle Zukunft zeigt. Der weise Daten-Guru Hans Rosling hat immer vom POSSIBILISMUS gesprochen, als Alternative zu Optimismus UND Pessimismus. Denken in Möglichkeiten, ohne das Schwierige, Schlechte zu verdrängen, auf der Basis von neutralem Wissen.
  11. Wie geht es der Zukunft heute?
  12. Zukunft spaltet sich heute – wie so vieles. Sie ist heute entweder zur überreizten Techno-Utopie geworden – Künstliche Intelligenz wird uns von allen Übeln erlösen, Technik wird uns zu Göttern machen und so weiter. Oder zur Dystopie, in der alles sowieso den Bach heruntergeht, Ende Gelände, Weltuntergang. Die wahre Zukunft, die „kommende Wirklichkeit“, entwickelt sich in einer rekursiven Schleife dazwischen.

    © Zukunftsinstitut Horx
  13. Sie haben einmal vom „spirituellen Aspekt“ der Zukunftsforschung gesprochen.
    Mit Spiritualität meine ich nichts Magisches oder Mystisches, sondern einen Tiefenaspekt der VERBINDUNG. Die Zukunft, als Vorstellung und innere Realität, verbindet uns ja mit den Dimensionen, die über uns, unser persönliches Leben, hinausreichen. Das hat früher die Religion getan, die ja immer für die Zukunft zuständig war. Ich glaube, dass erst diese Überzeitlichkeit uns zutiefst menschlich macht – es ist das „Wesen“ des Menschen, das was uns von anderen Tierarten unterscheidet. Wir können über uns selbst hinaussehen. Und nur wenn wir das tun, entfalten wir unser ganzes Potential.

    Zukunft ist auch ein innerer Prozess, eine menschliche Dimension, eine innere Kraft, die uns verwandeln kann. „Futuristische Spiritualität“ bedeutet, mit der Zukunft auf eine liebevolle und konstruktive Weise verbunden zu sein. Wir sind Teil eines größeren Ganzen, einer andauernden Evolution, eines übergreifenden „Sinns“, den wir selbst konstruieren. Wir sind verantwortlich für die Zukunft. Viele Menschen sehen das nicht, sie pflegen ihre erlernte Hilflosigkeit. Das macht mich traurig.

    Ich habe neulich in einem sehr Text von Lukas Bärfuss eine schöne Parabel dazu gelesen:
    Eines Tages kamen junge Menschen zu einer blinden Frau, die angeblich die Zukunft voraussagen konnte. Sie machten sich über sie lustig. Einer sagte: „In meiner Hand ist ein Vogel – ist dieser Vogel tot oder lebendig?”
    Die Frau antwortete:
    „Ich weiß nicht, ob er tot oder lebendig ist. It’s in your hand!“

    Lukas Bärfuss, Den Möglichkeitsraum erweitern, SZ 15. November 2023

  14. Ist Zukunftsforschung eine Wissenschaft?
    Ich würde lieber von einer DISZIPLIN sprechen. Einer bestimmten Art zu denken, Systeme zu verstehen, Muster zu erkennen, mit komplexem Wissen iterativ (schrittweise, rückbezüglich) umzugehen. „Wissenschaft“ hat ja immer einen sehr engen hermeneutischen (methodischen) Rahmen, einen „Kanon“ in einem eher engen Bereich. Physiker können sich mit Ökonomen, und die wiederum mit Geisteswissenschaftlern, nur schwer verständigen. In der holistischen Zukunftsforschung geht es aber genau darum, die Räume und Zusammenhänge, die ZWISCHEN den einzelnen Wissenschaften liegen, herauszuarbeiten.

    Dabei gibt einige Grund-Disziplinen, die den „heißen Kern“ der wissenschaftlichen Zukunftsforschung ausmachen:

    • Systemtheorie
    • Spieltheorie
    • Probabilistik (Wahrscheinlichkeitslehre)
    • Sozioökonomie
    • Memetik/Semantik
    • Evolutionstheorie/Evolutionäre Psychologie

    Wer Zukunftsforscher ist, sollte von diesen Disziplinen mehr als nur etwas verstehen. Es gibt dabei zwangsläufig auch Berührungen zur Philosophie, und zur Kognitionspsychologie, einer Variante der Psychologie, die uns über unser Erkennen und Missverstehen der Welt aufklärt.

  15. Was TUT ein Zukunftsforscher eigentlich?
    Ich würde es so beschreiben:
    Ein Drittel Recherche (Datensichtung, irre viel lesen und schauen).
    Ein Drittel Analyse und Darstellung (nachdenken, einsortieren, Schreiben von Texten).
    Ein Drittel Repräsentation und Kommunikation (Vorträge, Kongresse. Seminare mit Kunden).
    Ein weiteres Drittel: Zu den Sternen aufblicken und nach Inspirationen und Intuitionen suchen.
    (Das Leben eines Zukunftsforschers ist ziemlich dicht gedrängt)
    Ein empirischer Aspekt ist unerlässlich. Man muss sich schon mit der konkreten Welt beschäftigen. Nicht nur mit Theorien und Konstrukten. Ich bin ursprünglich Journalist, das hilft. Und ich bin ziemlich viel durch die Welt gereist, das hilft auch, sich nicht in irgendwelchen Konstrukten zu verlieren.
  16. Sie sprechen oft von „Innerer Zukunft“? Was meinen Sie damit? Die Zukunft liegt doch immer AUSSEN!
    Um das zu erklären nutze ich das Bild der Tunnel-Lokomotive. Für die meisten Menschen kommt „die Zukunft auf uns zu“. Wie eine Lokomotive in einem Tunnel, wir können nur versuchen, beiseite zu springen, aber da ist dann nur die kalte Tunnelwand oder der Abgrund. Das ist ziemlich gruselig.

    Dieses Bild der Zukunft, die rasend auf uns zukommt und uns „überfährt“, entspricht einem Angst-Überschuss. Das heißt, dass wir den inneren Bezug zur Zukunft verloren haben. Ich glaube, das ist ein typisches Symptom unseres heutigen Krisengefühls: Wir fühlen uns nicht mehr als Verursacher und Gestalter der Zukunft. Sie kommt „über uns“ – ein übles Bild, wie eine Vergewaltigung.

    Angewandte Zukunftsforschung, so wie ich sie verstehe, besteht aus dem Versuch, uns als Handelnde, Denkende, Sehnsüchtige, Hoffende, wieder mit der Zukunft ALS MÖGLICHKEIT zu verbinden. Zukunft als Wirkung in unserem Inneren, die unser Leben nach vorne orientiert begreifen. Die Evolution hat uns als „Homo prospectus“, den vorausschauenden Menschen konstruiert, und wir sollten uns dieses Potentials bedienen, es ausfüllen.
    Zwischen Visionen und Utopien zu unterscheiden ist ebenso wichtig wie zwischen innerer Zukunft und äußerer zu differenzieren. Beides zu verbinden MACHT Zukunft.
    Dazu mein Lieblings-Zukunfts-Poem von Stephen Grosz:

    The future is not some place we are going to, but an idea in our mind now.
    It is something we’re creating, that in turn creates us.
    The future is a fantasy that shapes our present.
    Stephen Grosz, Psychiatrist

  17. Bitte beantworten Sie in einem Satz, was ZUKUNFT ist!
    Dürfen es auch zwei sein? Zukunft ist KEIN fixierter Zustand, auf den wir „zulaufen“ müssen. Zukunft ist die wichtigste DIMENSION des Menschen.
  18. Wie kann man überhaupt die Zukunft voraussagen?
    Man kann natürlich „DIE Zukunft“ als GANZES nie voraussagen, dafür müsste man ja die ganze kommende Welt in allen Details beschreiben, jedes Molekül, jeden Grashalm… Es gab einmal einen französischen Denker, den Mathematiker Pierre Simon Laplace (1749-1827), der glaubte, man könne tatsächlich das ganze Universum sozusagen „präzise vorausrechnen“.
    Hier ein Zitat von ihm:

    „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.”

    Natürlich hatte Laplace Unrecht, man kann das eben nicht, und das ist auch gut so, denn wer möchte schon in einem Universum leben, in dem jedes kleine Detail vorbestimmt ist – wir wären Teil einer ewigen Maschine, welch ein Alptraum! Laplace war ein Theoretiker des Determinismus, und einer mechanischen Weltsicht, die auch heute noch weit verbreitet ist. Aber zur Zukunft gehört auch der Zufall, das Unerwartete, die Kontingenz! Man könnte auch sagen: Die Freiheit. Die Freiheit, etwas zu entscheiden. Sie entsteht im Spannungsverhältnis des Werdenden und des Gewordenen. Was man aber durchaus kann, ist „Schneisen von Wahrscheinlichkeit“ in die Zukunft zu schlagen.

  19. Was kann man am besten prognostizieren – und was gar nicht?
    Zuerst müssen wir zwischen EVENTPROGNOSE und SYSTEMPROGNOSE unterscheiden. Events, also einzelne Ereignisse, lassen sich exakt nur in strikt mechanischen Systemen voraussagen. Systeme hingegen lassen sich auch in ihrem VERLAUF erkennen. Das ist der Unterschied zwischen VORHERSAGE (Eventprognose) und VORAUSSAGE (Richtung eines Systems).

    Eine wichtige Erkenntnis lautet: Die Zukunft ist nicht determiniert, aber trotzdem vorhersehbar. Das heißt: OBWOHL wir nicht exakt jeden Punkt in der Zukunft darstellen können, lassen sich doch die großen Veränderungen, die „Ströme“ durchaus antizipieren. Es lassen sich sozusagen kognitive Schneisen in das mögliche Kommende schlagen. Gute Prognostik ist wie die Arbeit mit einem Skizzenblock. Es gibt kohärente, sehr stabile Systeme. Es gibt zyklische, chaotische und komplexe Systeme. Diese verschiedenen Systemarten muss man unterscheiden können. Man braucht einen Blick für die reale Komplexität.

    Eine Wettervorhersage für das exakte lokale Wetter in vier Wochen wird niemals möglich sein, weil die Luftmoleküle in der Atmosphäre in chaotischen Mustern reagieren. Dennoch kann man das KLIMA recht gut voraussagen, weil sich die chaotischen Prozesse über längere Zeit „herausrechnen“. Langfristige Zukunfts-Modelle sind bisweilen leichter als kurz- oder mittelfristige, das zeigen ja auch die Erfolge der Klimaforscher.

    Nehmen wir ein Beispiel für ein scheinbar unscharfes, aber dennoch erstaunlich voraussagbares System: Eine Ehe! Das Psychologen-Ehepaar Gottman hat in den USA einen Test entwickelt, mit dem die emotionalen Übertragungen zwischen Ehe- oder Liebes-Partnern gemessen werden. Daraus kann man mit einer hohen Wahrscheinlichkeit (etwa 85 Prozent) prognostizieren, ob die Beziehung in drei Jahren noch Bestand haben wird. Der Witz ist: Für diesen Test gibt es keine Kunden! Wer möchte schon prognostiziert bekommen, dass seine Ehe scheitern wird!

    Wir nennen das auch das „Vorhersage-Paradox“. Menschen wollen zwar immer gerne alles in über die Zukunft wissen. Aber noch lieber wollen wir unsere momentanen Zukunfts-Annahmen, unsere Konstrukte bestätigt bekommen. Also in unseren Vor-Urteilen bestätigt werden. „Unsere Beziehung ist super!” – meistens denken die Männer so, und wundern sich dann, wenn`s nicht so ist.
    In einer Partnerschaft sind die Rückkopplungen zwischen den Partnern so wichtig, dass sie das System dominieren, es sozusagen „ausfüllen“. Man nennt solche Systeme auch „Small World Networks”. Solche Systeme sind komplex, aber durchaus prognostizierbar. Das gilt aber nur für wenige Systeme – die meisten komplexen Systeme sind extrem verschlungen und von tausend Außenfaktoren abhängig.

  20. Sie haben einmal vom „prophetischen Paradox“ gesprochen. Was ist das denn nun wieder?
    Dabei geht es um die Rekursion von Prognosen. Eine Prognose wirkt auf das Ergebnis der Vorhersage zurück – und verändert den Verlauf der Dinge. Das macht viele Prognosen „teuflisch“. Sie können sozusagen an sich selbst scheitern.

    Man kann das prophetische Paradox sehr schön in der Serien-Verfilmung von Isaac Asimovs Science-Fiction-Roman FOUNDATION aus den 50er Jahren studieren. Dort geht es um die Zukunft eines mehrtausendjährigen Imperiums. Die Schlüsselrolle spielt der Zukunftsforscher Harry Seldon, der die Wissenschaft der „Psychohistorik“ begründet hat. Psychohistorik beruht auf der Analyse von kulturellen und sozialen Reaktionen auf Krisen-Ereignisse. Harry Seldons Prophezeihung weist darauf hin, dass eine mindestens tausendjährige Chaos- und Gewaltphase bevorsteht, in der Millionen Welten (Völker und Planeten) untergehen werden. Da sich diese Botschaft in der Galaxie rasend schnell ausbreitet, beeinflusst sie schließlich auch das Verhalten der herrschenden Klon-Dynastie der „Imperialen“. Die führen den Untergang ihres Systems selbst herbei, indem sie ihn mit brutalen Machtstrategien zu verhindern suchen. Shakespeare lässt grüßen, und die Tragödien der Geschichte auch.

    Solche „Dark fulfilling prophecies“ sind sehr häufig, sie kommen in Paarbeziehungen, Unternehmen, Gesellschaften vor. Ganze Zivilisationen sind schon dadurch zugrunde gegangen, dass sie sich selbst eine dunkle Zukunft vorausgesagt haben, und diese dann auf dem Wege der „vorauseilenden Prophezeiung“ selbst hergestellt haben. Ein berühmtes Beispiel sind die MAYA, die über einen längeren Zeitraum immer blutrünstigere Rituale entwickelten, um ihre Krisen zu bannen (wahrscheinlich waren die Krisen durch andauernde Trockenperioden bedingt). Auch Nazideutschland war ja ein prophetisch-apokalyptisches Reich, das sich sozusagen selbst in den Abgrund prophezeite. Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind heute schon wieder auf diesem Weg. Wir sagen uns selber dauernd den Untergang voraus. Diesen Negativ-Zirkel zu brechen, sehe ich als eine wichtige Funktion der konstruktiven Zukunftsforschung.

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  21. Gibt es so etwas wie eine Zukunftsformel?
    Es gibt den Kernsatz der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Bayes-Formel, wobei es sich eigentlich um eine Formel für AKKUMULIERTES WISSEN handelt. Sie heißt Bayes-Formel, nach dem englischen Mathematiker Thomas Bayes, der ihn 1763 posthum veröffentlichte veröffentlichte. Im Bayes-Satz geht es um den Umgang mit unsicherem Wissen – man füllt in die Ungewissheit immer mehr Faktenwissen, bis man zu einer möglichst sicheren, der Realität angenäherten Prognose kommt. Nach dieser Logik funktionieren eigentlich alle Voraussagen, die wir auch im Alltag treffen – und die unser Verhalten steuern. Wir haben sozusagen einen Bayes-Akkumulator im Kopf.

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    Hier ein Bayes-Beispiel über die Frage, ob eine Rauchsäule in einer Siedlung als gefährliches Feuer zu prognostizieren ist:
    www.mathsisfun.com/data/bayes-theorem

  22. Was ist der Unterschied zwischen Trend- und Zukunftsforschung?
    Trendforschung ist eine Beobachtungstechnik, die Wandlungsphänomene in der Jetztzeit eher in journalistischen Formen und Formaten wahrnimmt. Dabei geht es besonders darum, bestimmte Phänomene zu benennen und dadurch sichtbar zu machen. Zukunftsforschung arbeitet mit Modellen für längere Zeit-Dimensionen. Trendforschung ist (sozio-)kulturelle Phänomenologie. Zukunftsforschung eine Form des Denkens in dynamischen Zeitdimensionen.

    Die Zukunft ist offen, weil man nicht weiß, was die anderen tun werden.
    Elena Esposito

  23. Was ist der Unterschied zwischen einem Propheten und einem Prognostiker?
  24. Ein Prophet prophezeit eine Zukunft, die er durch seine Prophezeiung selbst verursachen will. Er braucht Jünger, um seine Voraussage herzustellen. Folgt mir dorthin, wo ich die Zukunft definiere – ins gelobte Land! Diese manipulative Prognostik ist weit verbreitet. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Propheten der Künstlichen Intelligenz genau das tun. Sie versprechen uns ein Wolkenkuckucksheim, und eine erstaunlich große Gemeinde glaubt daran. Prophezeiung ist, wenn sie mächtig ist, selbsterfüllend, aber auch täuschend – sie kann unsere Wahrnehmung verändern. Wenn ich Ihnen morgen früh eine UFO-Landung prophezeie, und Sie halten mich für einen Guru, werden Sie beim Blick aus dem Fenster womöglich tatsächlich ein UFO sehen, oder darauf beharren, dass diese komische Wolke ein UFO ist. Auf diese Weise entstehen Sekten, Verschwörungstheorien und schreckliche populistische Politik-Phänomene. Die Welt wimmelt von dunklen Propheten. In jedem von uns wohnt einer, fürchte ich. Wir sollten vorsichtig mit ihm umgehen.

  25. Kann ein Zukunftsforscher auch irren?
    Aber natürlich: Alles Wissen, alle Wissensgeneration besteht ja auf Irrtümern. Allerdings ist die Frage: WIE irrt man sich? In der ganzheitlichen Prognostik geht es ja eher um die MÖGLICHKEITEN und WAHRSCHEINLICHKEITEN, nicht um exakt fixierte Ergebnisse. Irren tun man sich meistens dann, wenn man irgendeine Prognose „raushaut“, die auf einen präzisen zeitlichen Endzustand hinausläuft. Das ist mir auch schon manchmal passiert, aber ich habe draus gelernt.
  26. Was war ihr größter Irrtum?
    Das weiß ich nicht, weil man das nie selbst wissen kann. Aber ich habe im Jahr 2005 mal in einer Art Wutanfall mal gesagt: „In ein paar Jahren wird kein Mensch mehr von Facebook reden!“
    Das war ein Irrtum, aber gleichzeitig gar nicht so schlecht, wenn man langfristig denkt. Ich ahnte damals, dass Facebook kein nachhaltiges Kommunikationssystem ist, weil es Missbrauch und Hassstrategien und Blasenbildungen Tür und Tor öffnet. Heute wird Facebook immer unbedeutender, und Tiktok ist noch viel toxischer. Es hat länger gedauert mit der Krise von Facebook, und bis wir die negativen Seiten von Technologie erkennen und abstellen, dauert es manchmal eine ganze Generation. Manchmal ist man auch als Zukunftsforscher von Ungeduld geplagt, oder von „Wishful Thinking“, dann macht man solche Fehler.

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